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Und Ereignisse machen noch keine Welt: Der Medienwissenschaftler Lorenz Engell zappt sich elegant und anregend durch Theorien des Fernsehens
Im Jahre 1884 erteilte das Kaiserliche Patentamt dem jungen Paul Nipkow eine Patentschrift. Seine Erfindung beschrieb der Student als "eine Apparatur mit dem Zweck, ein an einem Orte A befindliches Objekt an einem anderen Orte B sichtbar zu machen." Ein elektrisches Teleskop mit einer sich drehenden Lochscheibe und einer lichtempfindlichen Selenplatte. Bauen konnte Nipkow nicht, was er gedanklich konstruiert hatte - und bis sich das Fernsehen, denn nichts anderes als der Vorläufer des Fernsehgeräts war Nipkows Erfindung, als Massenmedium zu etablieren begann, sollten noch mehr als sechzig Jahre vergehen.
Der an der Weimarer Bauhausuniversität lehrende Medienwissenschaftler Lorenz Engell stellt verschiedene Ansätze vor, mit denen Geistes- und Medienwissenschaftler der letzten Jahrzehnte versucht haben, dem Medium näherzukommen, das "das Zeitalter des Konsums heraufgeführt und begleitet", der "Kleinfamilie ihre Ökonomie und Moral gegeben" und unseren "Verhaltens- und Wissensalltag bestimmt" hat.
Eigentlich ist es merkwürdig, dass sich zu einem derart omnipräsenten Medium noch keine zusammenhängende Theorie entwickelt hat, wie es sie beispielsweise in den Filmwissenschaften gibt. Eben einen solchen Theoriemangel aber diagnostiziert Engell zu Beginn - und erklärt ihn mit den Überlegungen des Philosophen Stanley Cavell: Im Fernsehen geht es nicht darum, Inhalte zu vermitteln; es ist reine Formatproduktion, und das Wesen des Fernsehformats ist das Serielle. Ganz gleich, ob Nachrichten, Musikclips oder Talkshows: das im Fernsehen Gesendete ist wesentlich seriell, auf Variation und Fortführbarkeit angewiesen. In potentiell unendlich variierbarer Deklination spielt es die immergleichen Regeln durch, nach denen seine Formate sich komponieren.
Durch die immerwährende Möglichkeit der Aktualisierung aber sei das Fernsehen nicht wie der Film eine "Welt-Projektion", sondern, so Cavells berühmte Formulierung, ein "Strom simultaner Ereignisrezeption". Kein Betrachten (viewing), sondern ein Überwachen (monitoring) einer Welt, deren man sich halbherzig glotzend noch versichern will, um sie endgültig ins Außen zu verbannen. Eine solche Haltung sei nun, so Engell mit Cavell, der Theoriebildung und der Kritik zutiefst fremd - Fernsehtheorie könne dann nur mehr "fließende Kenntnisnahme im paradoxen Strom des Nebeneinanders seiner theoretischen Ereignisse" sein.
Umso beachtlicher ist, was Engell mit seinem Buch gelungen ist: Zwar ist es "Einführung" und seinem Gegenstand gemäß "fließende Kenntnisnahme". Aber es vereint und verbindet auf sehr hohem theoretischem Niveau Bekanntes und weniger Bekanntes: Marshall McLuhan, für den das Fernsehen eine "Prothese" unserer neurologischen Fähigkeiten ist, die wir abgeben und über deren Verlust wir uns mit den vermeintlich relevanten Inhalten des Fernsehens hinwegtrösten. Adorno, für den 1953 das Fernsehen nur eine weitere Ausprägung der Kulturindustrie war, mit dem Ziel, das Verdrängte verdrängt zu halten, uns "Bilder bereits geleisteter Anpassung" wieder und wieder vorzuspielen. Aber auch weniger bekannte Theoretikerinnen kommen bei Engell zur Geltung - etwa die Medienwissenschaftlerin Jane Feuer, für die das Fernsehen ein Medium der räumlichen Zusammenschaltung von Familie und Gesellschaft ist, prädestiniert, soziale Segregationen nach Rasse, Klasse und Gender aufrechtzuerhalten.
Was ist das für ein Medium, das uns beigebracht hat, die bildliche Präsentation von Ereignissen in losem oder auch gar keinem Kausalverbund zu akzeptieren, im Glauben, sie durch das Zappen beherrschen und auswählen zu können? Und was ist relevanter zur begrifflichen Erfassung des Phänomens Fernsehen, die zeitliche oder die räumliche Veränderung, die es uns gebracht hat? Ist das Fernsehen ein "Flow" von Bildern, wie es William Raymonds in seinem berühmten Buch "Television: Technology and Cultural Form" vermutet hat? Oder ist es die verstörende Räumlichkeit des Fernsehens, die uns ein fortan immer verfügbares "Anderswo" ins Wohnzimmer holt?
All diese Fragen wirft Engell mit beachtlicher Leichtigkeit und Verständlichkeit auf - seine Vorgehensweise ist nicht chronologisch, vielmehr hat man selbst das Gefühl zu zappen, mal hierhin und mal dorthin zu schauen. Vor allem liefert er das Analyseinstrumentarium für kommende Entwicklungen des Fernsehmarktes, auch wenn er sich mit Bezügen zu Internet und digitalem Fernsehen zurückhält, schließlich will er "nur" eine Bestandsaufnahme schreiben: Das Fernsehen hat sich schon immer selbst revolutioniert, bisweilen so sehr, dass die Rede von einem einzigen, ansatzweise homogenen Medium in Frage steht: Das Live-Fernsehen der frühen Fernsehära war schließlich etwas ganz anderes als das sogenannte Neofernsehen, das ab den frühen achtziger Jahren Einzug in die Wohnzimmer hielt und vor allem mit dem Gebrauch der Fernbedienung ein völlig anderes Fernsehverhalten erzeugt hat - das Zappen eben.
Wenn nun Gerüchte umgehen, dass Apple und Google schon im Herbst 2012 Geräte auf den Markt bringen, die nicht nur internetfähig sein werden und mit immer neuen Spartenprogrammen für Sub-Splittergruppen Kunden fischen wollen, sondern vielleicht sogar per Körperbewegung steuerbar sein werden, bekommt die Rede von der Prothese natürlich eine ganz andere Konnotation. Für Engell selbst ist das Fernsehen übrigens kein Gegenmittel zur Langeweile, sondern die Langeweile an sich: Es ziehe uns, in guter heideggerischer Begriffstradition, aus unserem Weltbezug heraus. Und ist somit fast schon wieder subversiv.
HANNAH LÜHMANN.
Lorenz Engell: "Fernsehtheorie zur Einführung".
Junius Verlag, Hamburg 2012. 255 S., br., 15,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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