Du bist zurück am Ort deiner Kindheit. Dein erstes Laufen um den See wird zum Einlaufen in frühere Gerüche, in Gefühle von Geborgenheit, abseits von Tempo. Du bist wieder hier, stehst auf der Brücke am Ende des Sees. Das feuchte Holz trägt seinen Geruch zu dir und mit ihm die Bilder deines nicht mehr existierenden Familienhauses. Es riecht nach morschen Brettern, der regennassen Veranda, den Badeanzügen der Großmutter, dem Wetterfleck des Großvaters ... Das Gehen zu früheren und gegenwärtigen Orten rund um das ehemalige Haus verschafft dir Zutritt zu vergangenen Stimmen, Silhouetten, Berührungen – aber auch zum Verstehen. Denn du begreifst, wie nie aufgearbeitete Kriegstraumata der Familie in deinem Körper, deinen Emotionen und Denkmustern weiterwirken. Sophia Lunra Schnacks Debütroman bewegt sich in einem zeitlosen Raum, in dem die Grenzen zwischen Erinnerung und Zukunft, Vergangenheit und ihrer gefürchteten Wiederkehr durchlässig werden. Fast märchenhaft mutet die Landschaft an, vor der rückblickend Kriegs realitäten von Großvater und Urgroßvater erzählt werden. Der Übergang geschieht unbemerkt, elegant, harmonisch, genauso wie literarische Schranken und Genre-Grenzen sich verschieben: Prosa verwandelt sich in leichtfüßige Strophen und Verse erzählen ihre Geschichten. In der Auflösung erst entsteht der Zusammenhalt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eine "Gratwanderung zwischen Prosa und Poesie" liest Rezensentin Lerke von Saalfeld in Sophia Lunra Schnacks Debütroman, der davon handelt, dass sich die Ich-Erzählerin auf die Spuren ihrer Vorfahren macht. "Gedanken- und Erinnerungsfetzen" von Erfahrungen von Tod und Gefangenschaft werden dabei mal in Prosa, mal in Lyrik widergegeben, erklärt die Kritikerin, der diese Verbindung ebenso gefällt wie der besondere Stil Schnacks, der oftmals ohne Verben, ohne Satzzeichen auskommt, wie sie ausführlich zitiert. Man muss sich auf diese Besonderheiten einlassen, um die Stimmungswelten des Textes erfassen zu können und zu sehen "was das bedeutet/wenn märchen ihre substanz/verlieren/gegenwart werden", aber es lohnt sich, versichert Saalfeld.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2024Wenn Märchen ihre Substanz verlieren
Sophia Lunra Schnacks Romandebüt "Feuchtes Holz" ist eine virtuose Gratwanderung zwischen Prosa und Poesie
Ein Debütroman, der es in sich hat. Kühn wechselt seine Autorin, 1990 in Wien geboren, von der Prosa in die Lyrik und wieder zurück; kühn vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart in mäandrierenden Schleifen, kühn überspringt Sophia Lunra Schnack alle Grenzen der Logik oder der Folgerichtigkeit, denn sie folgt eigenen Gesetzen. Ein mutiges Unterfangen, dem sie sich stellt, schon die Kapitelüberschriften deuten es an: "einlaufen", "rückspulen", "vermischen", "abrollen".
Die Ich-Erzählerin ist eine Enkelin, sie besucht das Haus am Waldrand über dem See, in dem sie mit ihren Vorfahren gelebt hat und aufgewachsen ist. Das Haus ist längst verkauft, es bleibt aber ein magischer Anziehungspunkt, in dem sich das Leben von Generationen schürzte und kreuzte. Der Zauber um das alte Haus ist ungebrochen, hier atmet ein vielschichtiger Geist, der die Kindheit und das Leben der Ahnen wieder aufscheinen lässt. Der Standort ist ungenannt, irgendwo in einer wuchernden Natur, aber zwei Weltkriege haben in das Leben der Ur- und der Großeltern eingegriffen. Die Enkelin will erfahren, was geblieben, was verschwunden ist.
Die Auslassung von Verben und Hilfsverben gehört zur persönlichen Grammatik der Autorin. Die Andeutung reicht, es wird nur hingetupft, um den Text leicht und durchsichtig zu gestalten: "Es ist ein Vorbeifahren an Generationen der Urgroßmutter, ob sie die Uferpromenade oft gegangen, am funkelnden Fluss. Ein Vorbeifahren an Kriegsjahren der Großmutter, des Großvaters, ob sie hier einsam. Es ist an ihnen vorbeigefahren, wenn aus den Feldern der aufsteigende Dampf. Wenn ab dem Umsteigen der Cut im Gefühl. Wenn jede Kurve vertrauter, der Blick pendelt, hüpft: zwischen Fenstern nichts versäumen. Es ist an ihnen vorbeifahren in wachsender Unruhe, wenn die Gleise direkt am Wasser. [...] Wenn du dich freust über den leeren bummelnden Zug, wenn du suchst nach Bergen vergangener Sommer: kannst immer besser benennen, immer mehr kribbeln gegangene Wege in dir."
Auch in Versform gehaltene Passagen tragen ihre eigene Stilistik: Alle Wörter werden dabei klein geschrieben, und es gibt keine Satzzeichen, keinen Punkt, kein Komma. Die Übergänge vom Prosatext in poetische freie Verse fließen übergangslos dahin, schmiegen sich aneinander, als könnte es gar nicht anders sein, dass die Prosa fast organisch in die Lyrik sich ergießt und umgekehrt. Es verwundert nicht, dass für die Autorin Friederike Mayröcker ein großes Vorbild ist. Beim Lesen von deren Gedichten stellt Schnack fest: "Das kann ich nur ganz langsam lesen, um mich in dieses 'Geriesel von Sprache' einzuschaukeln. Mayröcker lesen bedeutet für mich, in einen hoch sensitiven Tagtraum, einen Rauschzustand aus Worten einzugleiten, die meine unmittelbare Wahrnehmung schärfen."
Das klingt wie eine Leseanleitung für den Erstlingsroman von Sophia Lunra Schnack selbst, einen Roman, der kein Roman ist, auch kein Versepos, sondern mit dem die Autorin eine eigene Gattung der Aufhebung von literarischen Grenzen geschaffen hat. Sie spielt mit den Formen nach ihrer eigenen Melodie, das Rauschhafte ist ihr ganz nahe.
Wie ein Schmetterling fliegt die Enkelin um das Haus, um den See, verliert sich im Wald und dabei kommen ihr Gedanken- und Erinnerungsfetzen in den Sinn. Der Urgroßvater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, seine Frau bekam männliche Zwillinge, beide mussten im Zweiten Weltkrieg einrücken, der eine kam in amerikanische Gefangenschaft, der andere fiel 1944 an einem Brückenkopf in der Nähe von Pécs in Ungarn. Dieser Tod legt sich wie Mehltau über die Familie. Keiner kann mit diesem Verlust leben. Traumatisch, aber lange Zeit verschwiegen, ist der Freitod der Schwester der Großmutter. Es war nach dem Krieg, Besatzungszeit in Österreich, die Schwester fuhr mit dem Fahrrad gegen jeden besseren Rat durch den finsteren Wald, wurde überfallen und vergewaltigt. Aus Scham hat sie sich das Leben genommen. Die Enkelin fährt fast achtzig Jahre später dieselbe verfluchte Strecke ab, sie will nachfühlen - unter der Überschrift "veronal und narzisse" -, wie es wohl der gestorbenen Großtante ergangen sein mag.
rollst dich frei ab von
einsamkeiten deiner verstorbenen
die hinter verschlossenen türen
in dich gezogen
Viele Tore und Türen aus der Kindheit muss die Enkelin erst wieder aufschließen, alte Gerüche neu entdecken, das Schweigen brechen, Familiengeheimnisse lüften und vor allem ihr eigenes Ich in diesem Familiengeflecht finden und einordnen. Das alles erzählt die Autorin auf verschlungenen Pfaden. Es geht nicht so sehr um Handlungsstränge, sondern um Stimmungen und Gefühlsräume, die in Schallwellen den Text vorantreiben. Es gibt keinerlei Chronologie, die Leser müssen sich darauf einlassen, der Phantasie und Wortgewalt zu folgen, ohne immer gleich zu verstehen, was jetzt gemeint ist, worum es geht. Ich glaube, die Autorin lässt es oft frei laufen: Mal schauen, wo alles endet. Sie hat viel gewagt und viel gewonnen.
wie dich das weiße beflügelte pferd
daran erinnert
das was jetzt realität
auch einmal märchen
aus damaliger zukunft
gewesen
was das bedeutet
wenn märchen ihre substanz
verlieren
gegenwart werden
Wer sich darauf einlässt, wird hohen Genuss aus der Lektüre dieses "Romans" ziehen. LERKE VON SAALFELD
Sophia Lunra Schnack: "Feuchtes Holz".
Otto Müller Verlag,
Salzburg 2023. 320 S.,
geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sophia Lunra Schnacks Romandebüt "Feuchtes Holz" ist eine virtuose Gratwanderung zwischen Prosa und Poesie
Ein Debütroman, der es in sich hat. Kühn wechselt seine Autorin, 1990 in Wien geboren, von der Prosa in die Lyrik und wieder zurück; kühn vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart in mäandrierenden Schleifen, kühn überspringt Sophia Lunra Schnack alle Grenzen der Logik oder der Folgerichtigkeit, denn sie folgt eigenen Gesetzen. Ein mutiges Unterfangen, dem sie sich stellt, schon die Kapitelüberschriften deuten es an: "einlaufen", "rückspulen", "vermischen", "abrollen".
Die Ich-Erzählerin ist eine Enkelin, sie besucht das Haus am Waldrand über dem See, in dem sie mit ihren Vorfahren gelebt hat und aufgewachsen ist. Das Haus ist längst verkauft, es bleibt aber ein magischer Anziehungspunkt, in dem sich das Leben von Generationen schürzte und kreuzte. Der Zauber um das alte Haus ist ungebrochen, hier atmet ein vielschichtiger Geist, der die Kindheit und das Leben der Ahnen wieder aufscheinen lässt. Der Standort ist ungenannt, irgendwo in einer wuchernden Natur, aber zwei Weltkriege haben in das Leben der Ur- und der Großeltern eingegriffen. Die Enkelin will erfahren, was geblieben, was verschwunden ist.
Die Auslassung von Verben und Hilfsverben gehört zur persönlichen Grammatik der Autorin. Die Andeutung reicht, es wird nur hingetupft, um den Text leicht und durchsichtig zu gestalten: "Es ist ein Vorbeifahren an Generationen der Urgroßmutter, ob sie die Uferpromenade oft gegangen, am funkelnden Fluss. Ein Vorbeifahren an Kriegsjahren der Großmutter, des Großvaters, ob sie hier einsam. Es ist an ihnen vorbeigefahren, wenn aus den Feldern der aufsteigende Dampf. Wenn ab dem Umsteigen der Cut im Gefühl. Wenn jede Kurve vertrauter, der Blick pendelt, hüpft: zwischen Fenstern nichts versäumen. Es ist an ihnen vorbeifahren in wachsender Unruhe, wenn die Gleise direkt am Wasser. [...] Wenn du dich freust über den leeren bummelnden Zug, wenn du suchst nach Bergen vergangener Sommer: kannst immer besser benennen, immer mehr kribbeln gegangene Wege in dir."
Auch in Versform gehaltene Passagen tragen ihre eigene Stilistik: Alle Wörter werden dabei klein geschrieben, und es gibt keine Satzzeichen, keinen Punkt, kein Komma. Die Übergänge vom Prosatext in poetische freie Verse fließen übergangslos dahin, schmiegen sich aneinander, als könnte es gar nicht anders sein, dass die Prosa fast organisch in die Lyrik sich ergießt und umgekehrt. Es verwundert nicht, dass für die Autorin Friederike Mayröcker ein großes Vorbild ist. Beim Lesen von deren Gedichten stellt Schnack fest: "Das kann ich nur ganz langsam lesen, um mich in dieses 'Geriesel von Sprache' einzuschaukeln. Mayröcker lesen bedeutet für mich, in einen hoch sensitiven Tagtraum, einen Rauschzustand aus Worten einzugleiten, die meine unmittelbare Wahrnehmung schärfen."
Das klingt wie eine Leseanleitung für den Erstlingsroman von Sophia Lunra Schnack selbst, einen Roman, der kein Roman ist, auch kein Versepos, sondern mit dem die Autorin eine eigene Gattung der Aufhebung von literarischen Grenzen geschaffen hat. Sie spielt mit den Formen nach ihrer eigenen Melodie, das Rauschhafte ist ihr ganz nahe.
Wie ein Schmetterling fliegt die Enkelin um das Haus, um den See, verliert sich im Wald und dabei kommen ihr Gedanken- und Erinnerungsfetzen in den Sinn. Der Urgroßvater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, seine Frau bekam männliche Zwillinge, beide mussten im Zweiten Weltkrieg einrücken, der eine kam in amerikanische Gefangenschaft, der andere fiel 1944 an einem Brückenkopf in der Nähe von Pécs in Ungarn. Dieser Tod legt sich wie Mehltau über die Familie. Keiner kann mit diesem Verlust leben. Traumatisch, aber lange Zeit verschwiegen, ist der Freitod der Schwester der Großmutter. Es war nach dem Krieg, Besatzungszeit in Österreich, die Schwester fuhr mit dem Fahrrad gegen jeden besseren Rat durch den finsteren Wald, wurde überfallen und vergewaltigt. Aus Scham hat sie sich das Leben genommen. Die Enkelin fährt fast achtzig Jahre später dieselbe verfluchte Strecke ab, sie will nachfühlen - unter der Überschrift "veronal und narzisse" -, wie es wohl der gestorbenen Großtante ergangen sein mag.
rollst dich frei ab von
einsamkeiten deiner verstorbenen
die hinter verschlossenen türen
in dich gezogen
Viele Tore und Türen aus der Kindheit muss die Enkelin erst wieder aufschließen, alte Gerüche neu entdecken, das Schweigen brechen, Familiengeheimnisse lüften und vor allem ihr eigenes Ich in diesem Familiengeflecht finden und einordnen. Das alles erzählt die Autorin auf verschlungenen Pfaden. Es geht nicht so sehr um Handlungsstränge, sondern um Stimmungen und Gefühlsräume, die in Schallwellen den Text vorantreiben. Es gibt keinerlei Chronologie, die Leser müssen sich darauf einlassen, der Phantasie und Wortgewalt zu folgen, ohne immer gleich zu verstehen, was jetzt gemeint ist, worum es geht. Ich glaube, die Autorin lässt es oft frei laufen: Mal schauen, wo alles endet. Sie hat viel gewagt und viel gewonnen.
wie dich das weiße beflügelte pferd
daran erinnert
das was jetzt realität
auch einmal märchen
aus damaliger zukunft
gewesen
was das bedeutet
wenn märchen ihre substanz
verlieren
gegenwart werden
Wer sich darauf einlässt, wird hohen Genuss aus der Lektüre dieses "Romans" ziehen. LERKE VON SAALFELD
Sophia Lunra Schnack: "Feuchtes Holz".
Otto Müller Verlag,
Salzburg 2023. 320 S.,
geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main