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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
In Wolfram Eilenbergers neuem Buch "Feuer der Freiheit" retten vier Frauen die Philosophie in Zeiten des Krieges
Es beginnt damit, dass Simone de Beauvoir 1943 im zweiten Stock des Café de Flore in Paris sitzt. Von ihrem Ecktisch aus sieht die französische Schriftstellerin und Philosophin - sie ist Mitte dreißig - den Passanten nach. Und sie ist nicht allein. Der Philosoph Wolfram Eilenberger ist bei ihr. Er versetzt sich in sie hinein, er fühlt mit ihr, ist in ihrem Kopf und rekonstruiert aus überlieferter Rede und gedruckten Schriften, was sie gedacht haben könnte in genau diesem Augenblick, den er beschreibt. Ein Augenblick, den es im Leben der Simone de Beauvoir gegeben hat oder gegeben haben könnte, das bleibt im Ungefähren: "Da liefen sie. Die anderen. Jeder und jede ein eigenes Bewusstsein. Unterwegs mit ihren ganz eigenen Ängsten und Sorgen, Plänen und Hoffnungen. Genauso wie sie auch. Als nur eine unter Milliarden. Ein Gedanke, der ihr jedes Mal wieder einen Schauer über den Rücken jagte."
Nie zuvor, wird uns versichert, habe Beauvoir sich im Nachdenken so sicher und frei gefühlt wie jetzt, im Frühling des Jahres 1943, auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, inmitten einer besetzten Stadt. Für den Herbst desselben Jahres war ihr erster Roman, "Sie kam und blieb", angekündigt. Ein weiterer lag fertig in der Schublade. Zusammen mit Jean-Paul Sartre hatte sie einen "neuen Stil des Philosophierens" geschaffen und "einen Liebespakt der besonderen Art": "unbedingte geistige Treue und Ehrlichkeit - bei gleichzeitiger Offenheit für weitere Anziehungen". Draußen war Krieg, der Totalitarismus auf dem Höhepunkt, aber bei Simone de Beauvoir ist, so unwahrscheinlich das auch klingen mag, Aufbruchstimmung. Es ist "die geistige Ernte eines ganzen Jahrzehnts". Und nicht nur bei ihr. Auch die französische Philosophin Simone Weil, Hannah Arendt und die amerikanische Schriftstellerin Ayn Rand, alle drei Jüdinnen, haben - das ist Wolfram Eilenbergers These - unabhängig voneinander ihre Visionen "im Angesicht der Katastrophe" entwickelt. Also sieht der Philosoph sich auch die anderen von ihm ausgewählten Denkerinnen von innen und außen an, spricht über sie und durch sie hindurch, um sie uns näherzubringen.
Es ist dasselbe Strukturprinzip, das er schon in seinem Buch "Zeit der Zauberer" angewendet hat, seinem Erfolgsbuch über die Philosophen Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger, mit dem er die deutsche Philosophie von 1919 bis 1929 als Epoche umriss. Nach den Männern sind jetzt die Frauen dran, in derselben Verknüpfung von Ideengeschichte, Literatur und Leben. Und es funktioniert offenbar: "Feuer der Freiheit: Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933-1943)", wie das neue Buch heißt, ist längst auch ein Verkaufserfolg. In den kommenden Tagen liegt es wahrscheinlich in vielen deutschen Wohnzimmern unterm Weihnachtsbaum. Zu Recht?
Wer Episoden aus dem Leben von Beauvoir, von Hannah Arendt oder Simone Weil erzählt, ist, allein aufgrund deren Prominenz und unbestrittener Bedeutung, zunächst einmal auf der sicheren Seite. Bei der in Deutschland unbekannteren Ayn Rand ist das nicht automatisch so, aber dieses Risiko geht Eilenberger offenbar gerne ein. Er beginnt also 1943, springt zurück ins Jahr 1933 und erzählt im Leben seiner Protagonistinnen die zehn Jahre, die er für ihr jeweiliges Denken entscheidend hält. "Eines Tages werde ich herausfinden, ob ich ein ungewöhnliches Exemplar der menschlichen Spezies bin", zitiert er einen Eintrag aus dem Denktagebuch der 29-jährigen Rand von 1934. Zeilen der Selbstbefragung, die auch von den anderen stammen könnten. Sie alle erfahren sich grundlegend anders in die Welt gestellt, beteuert Eilenberger. Von früher Jugend an habe sie dieselbe Frage gequält: "Was mag es letztlich sein, was mich so anders macht? Bin wirklich ich der Geisterfahrer auf der Autobahn des Lebens - oder nicht eher die Masse wild hupender Menschen, die mir einer nach dem anderen mit aufgeblendeten Lichtern entgegenkommen?"
Es ist nicht so, dass man sich über solche klischeehaften Formulierungen (fühlt sich, wenn man es so formuliert, nicht jeder so?), die den Köpfen seiner Heldinnen sicher nicht entsprungen sind (Autobahn des Lebens?), nicht wundert. Doch schafft es das Buch zunächst, einen mit den Biographien der vier Frauen in Atem zu halten. Besonders gilt das für die Lebensgeschichte von Simone Weil, die Deutschland bereist, um den Aufstieg der Nationalsozialisten zu verstehen; mit dem Kommunismus bricht, als sie 1933 die strukturelle Gleichartigkeit der Sowjetunion unter Stalin und des Dritten Reiches erkennt; die 1934 aus der Wohnung der Eltern am Jardin du Luxembourg auszieht und in ein Mietzimmer in der Nähe der Vorstadtfabrik zieht, in der sie arbeitet, "um direkten Kontakt mit der Wirklichkeit" zu erlangen. Und die sich den anarchistischen Milizen im Spanischen Bürgerkrieg anschließt, wo sie sich an der Front eine schwere Brandverletzung zuzieht. Als die Deutschen Frankreich besetzen, emigriert sie nach New York, kehrt von dort aus aber nach London zurück, um für die Befreiung ihres Landes zu kämpfen: "Gerne als Fallschirmspringerin", die betreffenden Handbücher habe sie eingehend studiert.
Das ist interessant (man will sofort eine komplette Simone-Weil-Biographie lesen!). Genauso wie der Weg der Ayn Rand, eigentlich Alissa Rosenbaum, die 1926 aus Leningrad in die Vereinigten Staaten emigriert und ihren amerikanischen Traum als Schriftstellerin und Drehbuchautorin in Hollywood realisiert, während die Wehrmacht ihre Geburtsstadt aushungert. Und wie immer wieder aufs Neue die Geschichte der Hannah Arendt, die vor den Nationalsozialisten nach Frankreich flieht und 1941 nach New York entkommt, wo sie kämpferisch nach einer Neubestimmung sucht: "Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen (. . .). Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt . . . Wie Verrückte kämpfen wir um eine private Existenz mit individuellem Geschick", schreibt Arendt 1943 in "Wir Flüchtlinge".
Der seltsame Effekt, der sich beim Lesen einstellt, ist aber leider der, dass Eilenberger, obwohl er sich erzählend immer wieder in die Köpfe seiner Protagonistinnen hineinbegibt und ehrgeizig versucht, literarische Effekte zu erzielen, damit nicht bewirkt, dass die Frauen einem tatsächlich nahekommen oder vor Augen stehen - schon gar nicht als Frauen, was vor allem an der oft floskelhaften Sprache liegt, die gar nichts Spezifisches herausarbeitet, sondern alle im gefälligen Sound vereint: "Blüten der Spiritualität. Blumen des Bösen. Mag der Rest der Welt sich auch weiterhin im freien Fall befinden. Immer deutlicher spürt Beauvoir, als Autorin einer Spur zu folgen, die zum Ziel führt." Oder: "Für die Ausarbeitung dieses potentiell gesellschaftsentschlüsselnden Gedankens (gemeint ist "das andere Geschlecht", A. d. R.) würde Beauvoir noch zehn Jahre sowie die Erfahrung eines weiteren Weltkriegs benötigen - um in der Folge als Denkerin endgültig aus dem Schatten Sartres zu treten" (war dafür wirklich der Zweite Weltkrieg nötig?).
Überhaupt bemüht sich der Autor um Stimmigkeit. Alles muss zusammenpassen, und wo das womöglich nicht der Fall ist (und eigentlich auch nicht der Fall sein müsste), wird es sprachlich befördert, behauptet oder suggeriert: ",Wenn die Weltgeschichte nicht so beschissen wäre, wäre es eine Lust zu leben', ein Leitsatz Hannah Arendts, mit dem auch Ayn Rand sich lebenslang hätte identifizieren können." (Wer nicht?) "Vergleicht man Weils ,Cahiers' mit Beauvoirs Tagebüchern und Schriften des gleichen Zeitraums, entsteht der höchst unheimliche Eindruck eines telepathischen Kontakts zweier Geister, die von beiden Enden eines unendlich langen Fadens in gespannter Resonanz stehen." (Geisterstunde?)
So beginnt man dem Autor bald zu misstrauen, wenn er dort, wo er für die Zusammenhänge zwischen den Gedankengebäuden seiner vier Denkerinnen noch mehr Kitt braucht, seiner Anfälligkeit für Superlative nachgibt, was nicht ohne Folgen bleibt. Je näher man hinschaut, desto mehr Ungenauigkeiten, Übertreibungen und Stereotypen entdeckt man - allen voran die Superstereotypien, mit denen Eilenberger den Zweiten Weltkrieg abhandelt: "finstere Zeit", "Weltenbrand", "Katastrophe". Obwohl doch alles ein großer gefälliger Wurf sein soll, bleibt man so am Ende nur mit ein paar interessanten Bruchstücken zurück.
JULIA ENCKE
Wolfram Eilenberger: "Feuer der Freiheit: Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten. 1933-1943." Verlag Klett-Cotta, 400 Seiten, 25 Euro
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