Am 7. Oktober 2023 überzog die Hamas Israel mit Terror, seither hält die Welt den Atem an - und überschlagen sich die Ereignisse. Ron Leshem zeichnet in seinem bewegenden Text jenen Tag und die Entwicklungen seither nach - und führt ein zutiefst gespaltenes Land vor Augen. Gerade der liberale, auf Verständigung bedachte Teil der Gesellschaft wurde getroffen. Was werden die Folgen sein? Leshem, international bekannter Autor («Euphoria», «Beaufort»), Journalist und ehemaliger israelischer Geheimdienstoffizier, ist auch persönlich betroffen. Die Hamas ermordete seinen Onkel und seine Tante, verschleppte seinen Cousin, der auch deutscher Staatsbürger war, als Geisel. Ein Blick in die Wirklichkeit Israels, der uns das Land auf sehr persönliche Weise nahebringt und zugleich ein großes Bild vermittelt. Das Buch zur Stunde, das den Konflikt begreifbar macht.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kritiker Matthias Kolb ist trotz des belastenden Inhalts froh, dass Ron Leshem, früherer israelischer Geheimdienstoffizier, dieses Buch über den 7. Oktober geschrieben hat: Er widmet sich dort der akribischen Planung der Hamas für ihren brutalen Angriff, aber auch dem Versagen der israelischen Behörden, frühzeitig auf Warnungen zu reagieren. Für Kolb wird nachvollziehbar, dass Netanyahu mit seiner Justizreform großen Anteil an der inneren Spaltung und Verwundbarkeit Israels trägt, aber auch, was sowohl israelische als auch palästinensische Opfer des Krieges erlitten haben. Ein "nüchtern und zugleich empathisches" Buch, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2024Als der Staat Israel versagte
Der frühere Geheimdienstoffizier und Journalist Ron Leshem hat die bestialischen Verbrechen
der Hamas am 7. Oktober 2023 akribisch recherchiert und übt heftige Kritik an Benjamin Netanjahu.
Dieses Buch ist trotz seines düsteren Inhalts ein Glücksfall. In „Feuer“ berichtet der israelische Autor Ron Leshem, wie die Hamas ihren mörderischen Überfall plante, wie bestialisch die Terroristen am 7. Oktober vorgingen, als sie fast 1100 Israelis und 71 Ausländer umbrachten und er beleuchtet, welche Verantwortung Ministerpräsident Benjamin Netanjahu trägt. Die Polarisierung der israelischen Innenpolitik schildert der frühere Geheimdienstoffizier und Journalist ebenso prägnant wie die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts. Für all das genügen ihm 320 Seiten – und die füllt er in einer nüchternen und zugleich empathischen Art.
Der Rowohlt-Verlag gab das Sachbuch in Auftrag, nachdem Leshem Mitte Oktober einen Artikel in der Wochenzeitung Freitag veröffentlicht hatte, der so begann: „Ich teile diese Gedanken als Mitglied einer Familie, die sich mit jeder Faser für die palästinensische Unabhängigkeit und gegen die Vorstellungen der Rechten in Israel engagiert hat.“ Auch „Feuer“ beginnt mit seiner Tante Orit, die von der Hamas erschossen wurde – und zwei Tage zuvor noch als Mitglied der Gruppe „Women Wage Peace“ mit Palästinenserinnen Friedensteppiche ausgebreitet hatte.
Im ersten Kapitel schildert Leshem, was seine Familie im Kibbuz Be’eri erlebte. Die Hamas-Terroristen dokumentieren ihren Massenmord auf Video. Sie kastrieren Männer und vergewaltigen Frauen, um den „größtmöglichen Effekt der Erschütterung und Erniedrigung“ auf Israels Gesellschaft zu erzielen. Leshem beschreibt, wie Orit die Verwandten per Whatsapp informiert, dass sich die Terroristen dem Schutzraum nähern.
Wie akribisch die Terrororganisation ihren Überraschungsangriff plante, wird viele Leser überraschen. Die Hamas baute Türme, um die an der Grenze gelegenen Kibbuzim auszuspähen und Waffenlager zu identifizieren. 35 000 Kämpfer wurden rekrutiert, die in nachgebauten Kibbuzim das Morden trainierten. All das wurde von der israelischen „Unit 8200“, in der Soldatinnen das Material von Überwachungskameras und Abhöranlagen auswerten, bemerkt und gemeldet. Im Juli 2023 beschrieb eine Unteroffizierin das exakte Szenario des Überfalls und warnte vor einem Angriff, weil sich in den Moscheen im Gazastreifen die Predigten änderten: Dort hieß es, man solle in Israel „maximales Leid verursachen, Grauen verbreiten und die Moral der Juden brechen“.
Doch Israels Armee glaubte den Frauen nicht – auch weil Netanjahu annahm, die Hamas sei gut für Israel, weil mit einem Terrorregime in Gaza der internationale Druck gering bliebe, ernsthaft mit den Palästinensern zu verhandeln. Den Hamas-Chef Jahia Sinwar, der sich bis heute im Tunnelsystem unter Gaza versteckt, behandelte der Premier wie ein Partner und gestattete Katar, „Hunderte Millionen Dollar in Koffern an die Hamas“ zu übergeben. Hinzu kam, dass Geheimdienste und Armee viel zu sehr auf technische Aufklärung vertrauten. Die Folge: Am 7. Oktober stürzte „das ganze Kartenhaus israelischer Fehleinschätzung“ in sich zusammen.
Im Buch folgt eine 45-seitige „Chronik“ des 7. Oktobers. Die Hamas hatte „mobile Feldküchen“ dabei und ihre Kommandeure wiesen die Terroristen an, keine Munition zu verschwenden. Auf dem Nova-Festival zündeten die Terroristen Autos an, sodass die Leute, die sich im Kofferraum versteckten, verbrannten. Die Bestatter kamen zu dem Schluss, dass man „mit den Toten auch die Autos begraben muss, damit die gefolterten und mit dem Stahl verschmolzenen Seelen ihren Frieden finden können“. Solche Details sind kaum zu ertragen, aber sie helfen, um zu verstehen, wie traumatisch der 7. Oktober für die Israelis ist und wie der Staat das fundamentalste Versprechen nicht einhielt: den Schutz der eigenen Bürger.
Die Analyse, wieso Netanjahu dafür besondere Verantwortung, ist äußerst nachvollziehbar und hilft, das aktuelle Geschehen in Israel zu verstehen. Leshem erinnert etwa an dessen heftig umstrittene Justizreform. Dass Millionen Israelis monatelang protestierten, bekam die Hamas natürlich mit. Den Moment, als Israels Gesellschaft kurz vor dem „Bruderkrieg“ stand und mit sich selbst beschäftigt war, nutzten die Terroristen erbarmungslos aus.
Zu den 240 Geiseln, die die Hamas am 7. Oktober verschleppte, gehörte auch Leshems Cousin Itai, der nach 101 Tagen ermordet wurde. Knapp die Hälfte ist bisher nicht zurückgekehrt, etwa 50 sollen noch am Leben sein. Der Autor verbirgt seine Wut nicht, dass Netanjahu einen Deal zur Freilassung der Geiseln immer wieder verschleppt: „Wenn Zivilisten aus ihren Betten entführt werden und ihre Rettung für Israel nicht die höchste Priorität hat, dann ist dies eine moralische Bankrotterklärung und ein Bruch mit der eigenen Identität, mit dem, was wir sein wollen.“
Ron Leshem, der mit Partner und Tochter in Boston lebt, schildert auch die Erlebnisse seiner palästinensischen Freundin Rawa, die im Gazastreifen mit ihrer Familie immer wieder flüchten muss und unter Tränen sagt, noch nie „solche Verzweiflung und Müdigkeit“ empfunden zu haben. Ihm geht es ähnlich, aber das Schreiben bringt ihm Trost. In der Nachbemerkung betont er, dass es ihm unmöglich sei, „ein vollständiges Bild der Tragödie zu zeichnen, die die Einwohner von Gaza“ während Israels Krieg gegen die Hamas durchleiden müssen. „Feuer“ widmet sich vor allem der israelischen Gesellschaft, und die hat Leshem meisterhaft beschrieben.
MATTHIAS KOLB
Die Hamas setzte
auf Erschütterung
und Erniedrigung
Eine Videoleinwand zeigt Informationen zum Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf dem Platz vor der Universität in München.
Foto: Leonhard Simon
Ron Leshem:
Feuer. Israel und der
7. Oktober. Übersetzt
von Ulrike Harnisch und Markus Lemke. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2024. 320 Seiten, 25 Euro. E-Book: 22,99 Euro.
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Der frühere Geheimdienstoffizier und Journalist Ron Leshem hat die bestialischen Verbrechen
der Hamas am 7. Oktober 2023 akribisch recherchiert und übt heftige Kritik an Benjamin Netanjahu.
Dieses Buch ist trotz seines düsteren Inhalts ein Glücksfall. In „Feuer“ berichtet der israelische Autor Ron Leshem, wie die Hamas ihren mörderischen Überfall plante, wie bestialisch die Terroristen am 7. Oktober vorgingen, als sie fast 1100 Israelis und 71 Ausländer umbrachten und er beleuchtet, welche Verantwortung Ministerpräsident Benjamin Netanjahu trägt. Die Polarisierung der israelischen Innenpolitik schildert der frühere Geheimdienstoffizier und Journalist ebenso prägnant wie die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts. Für all das genügen ihm 320 Seiten – und die füllt er in einer nüchternen und zugleich empathischen Art.
Der Rowohlt-Verlag gab das Sachbuch in Auftrag, nachdem Leshem Mitte Oktober einen Artikel in der Wochenzeitung Freitag veröffentlicht hatte, der so begann: „Ich teile diese Gedanken als Mitglied einer Familie, die sich mit jeder Faser für die palästinensische Unabhängigkeit und gegen die Vorstellungen der Rechten in Israel engagiert hat.“ Auch „Feuer“ beginnt mit seiner Tante Orit, die von der Hamas erschossen wurde – und zwei Tage zuvor noch als Mitglied der Gruppe „Women Wage Peace“ mit Palästinenserinnen Friedensteppiche ausgebreitet hatte.
Im ersten Kapitel schildert Leshem, was seine Familie im Kibbuz Be’eri erlebte. Die Hamas-Terroristen dokumentieren ihren Massenmord auf Video. Sie kastrieren Männer und vergewaltigen Frauen, um den „größtmöglichen Effekt der Erschütterung und Erniedrigung“ auf Israels Gesellschaft zu erzielen. Leshem beschreibt, wie Orit die Verwandten per Whatsapp informiert, dass sich die Terroristen dem Schutzraum nähern.
Wie akribisch die Terrororganisation ihren Überraschungsangriff plante, wird viele Leser überraschen. Die Hamas baute Türme, um die an der Grenze gelegenen Kibbuzim auszuspähen und Waffenlager zu identifizieren. 35 000 Kämpfer wurden rekrutiert, die in nachgebauten Kibbuzim das Morden trainierten. All das wurde von der israelischen „Unit 8200“, in der Soldatinnen das Material von Überwachungskameras und Abhöranlagen auswerten, bemerkt und gemeldet. Im Juli 2023 beschrieb eine Unteroffizierin das exakte Szenario des Überfalls und warnte vor einem Angriff, weil sich in den Moscheen im Gazastreifen die Predigten änderten: Dort hieß es, man solle in Israel „maximales Leid verursachen, Grauen verbreiten und die Moral der Juden brechen“.
Doch Israels Armee glaubte den Frauen nicht – auch weil Netanjahu annahm, die Hamas sei gut für Israel, weil mit einem Terrorregime in Gaza der internationale Druck gering bliebe, ernsthaft mit den Palästinensern zu verhandeln. Den Hamas-Chef Jahia Sinwar, der sich bis heute im Tunnelsystem unter Gaza versteckt, behandelte der Premier wie ein Partner und gestattete Katar, „Hunderte Millionen Dollar in Koffern an die Hamas“ zu übergeben. Hinzu kam, dass Geheimdienste und Armee viel zu sehr auf technische Aufklärung vertrauten. Die Folge: Am 7. Oktober stürzte „das ganze Kartenhaus israelischer Fehleinschätzung“ in sich zusammen.
Im Buch folgt eine 45-seitige „Chronik“ des 7. Oktobers. Die Hamas hatte „mobile Feldküchen“ dabei und ihre Kommandeure wiesen die Terroristen an, keine Munition zu verschwenden. Auf dem Nova-Festival zündeten die Terroristen Autos an, sodass die Leute, die sich im Kofferraum versteckten, verbrannten. Die Bestatter kamen zu dem Schluss, dass man „mit den Toten auch die Autos begraben muss, damit die gefolterten und mit dem Stahl verschmolzenen Seelen ihren Frieden finden können“. Solche Details sind kaum zu ertragen, aber sie helfen, um zu verstehen, wie traumatisch der 7. Oktober für die Israelis ist und wie der Staat das fundamentalste Versprechen nicht einhielt: den Schutz der eigenen Bürger.
Die Analyse, wieso Netanjahu dafür besondere Verantwortung, ist äußerst nachvollziehbar und hilft, das aktuelle Geschehen in Israel zu verstehen. Leshem erinnert etwa an dessen heftig umstrittene Justizreform. Dass Millionen Israelis monatelang protestierten, bekam die Hamas natürlich mit. Den Moment, als Israels Gesellschaft kurz vor dem „Bruderkrieg“ stand und mit sich selbst beschäftigt war, nutzten die Terroristen erbarmungslos aus.
Zu den 240 Geiseln, die die Hamas am 7. Oktober verschleppte, gehörte auch Leshems Cousin Itai, der nach 101 Tagen ermordet wurde. Knapp die Hälfte ist bisher nicht zurückgekehrt, etwa 50 sollen noch am Leben sein. Der Autor verbirgt seine Wut nicht, dass Netanjahu einen Deal zur Freilassung der Geiseln immer wieder verschleppt: „Wenn Zivilisten aus ihren Betten entführt werden und ihre Rettung für Israel nicht die höchste Priorität hat, dann ist dies eine moralische Bankrotterklärung und ein Bruch mit der eigenen Identität, mit dem, was wir sein wollen.“
Ron Leshem, der mit Partner und Tochter in Boston lebt, schildert auch die Erlebnisse seiner palästinensischen Freundin Rawa, die im Gazastreifen mit ihrer Familie immer wieder flüchten muss und unter Tränen sagt, noch nie „solche Verzweiflung und Müdigkeit“ empfunden zu haben. Ihm geht es ähnlich, aber das Schreiben bringt ihm Trost. In der Nachbemerkung betont er, dass es ihm unmöglich sei, „ein vollständiges Bild der Tragödie zu zeichnen, die die Einwohner von Gaza“ während Israels Krieg gegen die Hamas durchleiden müssen. „Feuer“ widmet sich vor allem der israelischen Gesellschaft, und die hat Leshem meisterhaft beschrieben.
MATTHIAS KOLB
Die Hamas setzte
auf Erschütterung
und Erniedrigung
Eine Videoleinwand zeigt Informationen zum Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf dem Platz vor der Universität in München.
Foto: Leonhard Simon
Ron Leshem:
Feuer. Israel und der
7. Oktober. Übersetzt
von Ulrike Harnisch und Markus Lemke. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2024. 320 Seiten, 25 Euro. E-Book: 22,99 Euro.
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Ein besonnenes, abwägendes Buch, geschrieben von einem Menschen, der auf eine Zukunft in Frieden hofft. Die Zeit