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Wie man aus null mal null zwei Menschenseelen macht: Sabine Peters schreibt im Roman "Feuerfreund" über Sterben und Trauer
Im Dorf meint man: "De Graft is een bietje besünners." Im ostfriesischen Platt des Rheiderlands klingt die Bemerkung, das Grab auf dem kleinen Friedhof sei etwas eigenartig, wie harsche Kritik. Zu sehr weicht diese letzte Ruhestätte von allen anderen ab, sie ist nahe am Zaun eng zwischen zwei anderen gelegen, nicht ordentlich eingefasst, und das Kreuz stand früher auf einem Kindergrab und ist jetzt lediglich mit neuer Inschrift versehen. Eigentlich halten die Leute aber den Bestatteten für "een bietje besünners": Der Mann, der hier nach fast achtzig Lebensjahren beerdigt ist, stammte nicht aus der Gegend - er war Schriftsteller, Nichtchrist, Kommunist und setzte sich für RAF-Häftlinge oder den in Amerika zum Tode verurteilten Mumia Abu-Jamal ein. Vor allem war er aber mit einer dreiunddreißig Jahre jüngeren Frau verheiratet. Er galt als "Feuerfreund" und "Kuckuck", wie seine Nachbarn und Freunde ihn liebevoll nannten.
Die Lebensliebe dieser Frau namens Marie zu dem alternden und schließlich sterbenden Schriftsteller Rupert erzählt Sabine Peters in ihrem vierten Buch. Mit einer Mesalliance, wie wir sie von Goethe bis Arthur Schnitzler, Martin Walser oder Philip Roth vielfach kennen, hat diese Geschichte überhaupt nichts zu tun. Der Altersunterschied scheint im Leben dieser beiden Menschen fast bedeutungslos - bis er fatal in Krankheit und Vergänglichkeit mündet. Entstanden ist ein anrührendes und intimes, ein trauriges und nachdenkliches Erinnerungsbuch über Lieben, Sterben und Weiterleben nach dem Tod des Partners. Verfasst ist es im etwas kargen und kühlen Ton des Nordens: "Schneetreiben im Rheiderland. Die schwerfälligen Flügelschläge eines Graureihers. Scharen von Blässgänsen auf den verschneiten Äckern. Zugefrorene Kanäle." Nicht nur diese ersten vier Sätze kommen ohne Verben aus, viele weitere folgen.
Die schnörkellose Sparsamkeit erhöht die Intensität von Maries Erinnerungsschüben, die als Miniaturen von je ein bis drei Seiten aufeinander folgen. Im Frühjahr 1987 treffen Autor und Lektoratspraktikantin erstmals in einem Berliner Verlag zusammen, erkennen sich rasch - "so sagt man es heute nicht mehr" -, heiraten. Bei ihm ist es das dritte Mal, die Zahl seiner Kinder und Enkel ist schwer zu überblicken. Das rote Backsteinhaus im Marschland bildet für die nächsten zwei Jahrzehnte das Lebenszentrum - bis zum Umzug nach Hamburg. Nur zu Schreibklausuren verschwindet Rupert ab und zu auf sein Gütchen in Portugal. Mit Marie führt er ein stilles, bescheidenes Leben im Einklang mit der Literatur und Natur. So werden in dem Buch aus ihrer Perspektive zwei Menschen porträtiert, die beide schreiben, einander ausgiebig vorlesen, alle Pflanzen und Vögel um sich herum benennen können und die einen Sinn für den herben, windigen, ursprünglichen Charakter dieses Landstrichs haben.
Der Tod kommt nicht plötzlich. Den schweren Weg von einer Lungenentzündung zur Krebsdiagnose, von zermürbender Bestrahlung und Chemotherapie zum langsamen Prozess des Sterbens schildert Peters mit bedrückender Intensität. "Das Schlimmste ist das Warten auf den absehbaren Tod des Partners", sagt eine Tante Maries, doch die will einen solchen Satz nicht hören. Sie sucht vielmehr nach Möglichkeiten einer Auseinandersetzung, für einen Ausdruck ihres Schmerzes und die nicht nachlassende Präsenz Ruperts in ihrem Kopf. Weiterschreiben oder verstummen?, lautet ihre entscheidende Frage. "Ein Text aus Trauer sei fad", überlegt sie einmal, mit "Harmoniezeug" wolle sie nichts zu tun haben. So verwandelt sich dieses Buch über Sterben und Trauer in einen Text über das Schreiben.
Freiheit, so lehrt Marie in Kursen über kreatives Schreiben, ist das Wesen dieser Kunst. Keiner redet einem rein, wenn man "aus null mal null zwei Menschenseelen" zaubert. Wie abstrakt diese Sicht auf die Schriftstellerei ist, erfährt Marie nach Ruperts Tod. Wo sie geht und steht, glaubt sie seine Bemerkungen zu hören, in jedem Buch, das sie öffnet, findet sich ein Randkommentar oder ein Zettel von ihm, die Erinnerungen hören nicht auf. Dennoch sind wir "keine Bauchredner, sagt Marie. Bis zu einem gewissen Grad wissen wir, was wir tun." Die Einsicht, über sich nicht ohne ihn schreiben zu können, bildet die Grundlage ihrer Aufzeichnungen und zugleich des vorliegenden Buches.
Denn Sabine Peters schreibt darin auch über sich selbst. Die Vorbemerkung: "Die Gestalten in diesem Buch sind nicht identisch mit lebenden oder toten Menschen" unterstützt nur scheinbar den Genretitel "Roman". Wo sonst von bloß zufälligen Korrespondenzen die Rede ist, schließt Peters lediglich die Identität aus. Das versteht sich von selbst, ist doch jeder Bericht, jede Biographie, jedes Geschichtsbuch eine rekonstruierende Deutung von Wirklichkeit. Ruperts Lebensdaten "25. 12. 1928 - 26. 8. 2008", die der Steinmetz in das einstige Kinderkreuz meißeln soll, verknüpfen Dichtung und Wahrheit, denn sie gehörten dem Schriftsteller Christian Geissler. Noch einmal ragt ein Faktum wie ein plastischer Arm aus einem barocken Deckengemälde: Die Marie des Romans entschließt sich nach einigen Erwägungen für ein Autorenstipendium in Schöppingen, für das sich Sabine Peters dann am Ende bedankt. So teilt sie ausdrücklich Maries Wunsch für ihre Rede über das eigene Leben: "Natürlich will ich ihn nennen." Ob nun Roman oder Autobiographie, das ändert für uns Leser wenig: Selten ist in der deutschen Literatur vergleichbar klug und sensibel über ein Thema geschrieben worden, das uns alle betrifft.
ALEXANDER KOSENINA
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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