Die Macht der Türen.
Allein die lebensläufigen Verquickungen der Autorin, geboren in Goa, in rätoromanischer Sprache, einer Minderheitensprache der Schweiz, Prosa und Lyrik schreibend, geben ihrem Debütroman eine besondere Würze.
Beim Lesen begibt man sich in eine Art Niemandsland, das von Türen,
offenen und geschlossenen, beherrscht wird. Man wird hineingezogen in dieses Niemandsland, in…mehrDie Macht der Türen.
Allein die lebensläufigen Verquickungen der Autorin, geboren in Goa, in rätoromanischer Sprache, einer Minderheitensprache der Schweiz, Prosa und Lyrik schreibend, geben ihrem Debütroman eine besondere Würze.
Beim Lesen begibt man sich in eine Art Niemandsland, das von Türen, offenen und geschlossenen, beherrscht wird. Man wird hineingezogen in dieses Niemandsland, in innere Landschaften.
Kàlmàn, Vera und ihre Schwester Sophia sind die Handelnden/Nicht-Handelnden dieses kleinen Romans, in dem Vergangenheit und Gegenwart sehr präsent sind und die Zukunft sich zaghaft bildet.
Vera ist aus der Stadt in das familiäre Haus in einem kleinen Bergdorf gekommen, um hier in der Abgeschiedenheit ihre Arbeit über romanische Literatur, zusammengefasst in einem Artikel ,zu vollenden. Am Bahnhof trifft sie auf Kàlmàn, der mit ihr aus dem Zug steigt und hier fremd ist. Auch er besitzt ein Haus, das er jedoch zuvor noch nie gesehen oder betreten hat. Es ist ihm von einem Offizier vererbt worden: einen namenlosen Mann, der Kàlmàn mit seinen Blicken verfolgte, ängstigte, der alles sah, die Ketten an den Zellenwänden, die Gerätschaften zum Aufbrechen der Körper. Der eine laute Drillstimme hatte und eine ganz leise, als er ihn, Kàlmàn , wegbrachte. Er selbst wurde nie von ihm berührt, aber seine Blicke waren wie Finger, „Augenfinger“.
Vera tastet sich langsam und behutsam an Kàlmàn heran, an sein Leben, seine Ängste. Sie kann nur ahnen, woher er kommt, aus einer Konflikt- und Kriegsregion, in der seit über 70 Jahren Gren- zen gezogen und verschoben werden, in der es Kindersoldaten, Vertriebene, Verschwundene gab, in der Alte, Frauen und Kinder erschossen und ganze Dörfer angezündet wurden, wo Menschen nur noch Statisten und Zahlen in der Statistik der zahlreichen NGOs waren. Kàlmàn war schon einige Jahre im Land, im Auffanglager, in Kliniken, in einer Wohngemeinschaft mit Betreuern und Therapeuten. Er lernte Deutsch und er lernte das Leben. Vera ist sich bewusst, dass sie nur ange- lesene Bruchstücke kennt, die sein Leben, seine innere Version der Gefängnisse und der Folter, prägten.
Fast beängstigend ist Cadonaus Schilderung der zwanghaften Beklemmungen und Phobien Kàlmàns. Draußen vor der Tür, drinnen hinter der Tür, da lauern sie, die Traumata durch Krieg, Gefangenschaft und Folter, die Geister und die Erinnerungen. Türen, durch sie hindurchzugehen, nicht wieder herauszukommen, die geschlossenen, die offenen, die angelehnten Türen. Das Erinnern, was sich hinter ihnen verbirgt. Die Türen aus den Angeln heben. Aber die Macht der Türen und dem Dahinter schwindet.
Ein Prozeß der Befreiung und eine behutsame Auflösung setzen ein durch die ruhige Gegenwart Veras, die einfach nur da ist, die nichts fordert, die nah ist, die ihm ein Stück Angekommensein gibt: ich kenne diesen Ort ein wenig, ich kenne Vera und ihr Haus, den Wirt des Gasthofes, die Verkäuferin. Dazu gehört auch der Besuch von Sophia, Veras Schwester, deren Krankheit mit der Suche nach DER Tür begann, für sie müssen die Türen auf und zu gehen, damit die Geister nach Hause finden können, sie träumt von einem weiten leeren Land ohne Türen. Und so bildet sich ein Dreieck der Zusammen-gehörigkeit.
Ich habe dieses Buch wie in einem Sog gelesen, berührt von der zarten Annäherung zweier Menschen, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Vera, mitten im Leben stehend, Kàlmàn sich ins Lebens zurücktastend. Es ist eine verstörende Lektüre, die mich mitunter ratlos zurückließ, versuchend, die angedeuteten traumatischen Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzufassen. Cadonaus Stil ist schnörkellos, ohne romantisches Klimbim und zugleich von menschlicher Tiefe.
Wir alle leben mit Türen - den inneren und den realen. Den offenen und den geschlossenen. Hinter manchen verbergen wir unsere Verletzungen und unsere Traurigkeit, manche öffnen wir weit für das Leben. Auf dass wir nicht „Draußen vor der Tür“ stehen und das Leben im Hier und Jetzt versäumen.
Wir müssen die Anderen unter uns erkennen und umarmen und auch uns selbst als Andere verstehen: wir sind für die Anderen in unserer Mitte verantwortlich. (Emmanuel Levinas).