Die Erzählerin ist krank und die Diagnose glasklar: Fieber 17. Aber was ist das für eine Krankheit, die weder Körper noch Geist befällt, sondern jenes "übrig gebliebene kleine Halborgan", das man früher die Seele nannte und das ständig auf Reisen und Wanderschaft ist? Zusammen mit ihrem sesshaften Hausarzt kehrt die Patientin in ihre Kindheit zurück und erzählt uns, wie alles begann – von der ersten großen Reise eines asthmatischen Vorschulkindes, das weder lesen, schreiben noch schwimmen kann und sich bis heute danach sehnt, irgendwo anzukommen, um endlich "einen Sitz im Leben" zu finden. Eine traumhafte Geschichte vom wirklichen Leben, flankiert von einem Essay über die Kindheit und dem vergeblichen Versuch, endlich erwachsen zu werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Elmar Schenkel folgt Felicitas Hoppe in die Kindheit, die der Autorin (Achtung: Verschickungstrauma!) und die, von der andere erzählen, Peter Pan, Pinocchio etc. Dass Hoppe gesegnet ist mit Fantasie, kann der Rezensent unschwer erkennen, wenn sie von ihrem Glück mit Enid Blyton und Hanni und Nanni berichtet. Die beiden Texte, ein Essay und eine laut Schenkel ironisch gefärbte Erzählung über die berüchtigte Kurverschickung in den 60ern, als noch "faschistoide Pädagogik" herrschte, scheinen auch an den Ursprung des Erzählens zu rühren, ahnt Schenkel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.02.2021Seelisch
ansteckend
Felicitas Hoppes kleine Prosa über
die Rückkehr ins kindliche Ich
Falls Sie hypochondrisch veranlagt sind und Sorge haben sollten, in den nächsten Zeilen auf falsche Gedanken gebracht zu werden, so seien Sie beruhigt: „Fieber 17“ ist zwar eine Krankheit, aber sie ist relativ ungefährlich und gehört noch dazu der Erzählerin in Felicitas Hoppes gleichnamiger Geschichte ganz allein. Das Fieber grassiert nämlich in ihren „höchst persönlichen Träumen“, und weder Körper noch Geist nehmen daran Schaden. Betroffen ist einzig dieser „lächerlich kleine Rest, den man früher, als es den Volksmund noch gab, so ahnungslos wie überheblich die Seele nannte“. Einerseits.
Andererseits dürfte Fieber 17 weiter verbreitet sein, als man nach dieser ersten Diagnose vermutet. Es gibt ja noch immer ein paar Menschen, die nicht nur über eine Psyche, sondern über dieses empfindliche „Halborgan“ namens Seele verfügen. Wenn sie angegriffen wird, kann es schnell existenziell werden. Das Tückische an besagtem Fieber 17: „dass es zerstreut, statt zu sammeln, dass es dieses leise haltlose Flattern erzeugt, dieses heimliche Flirren zwischen Abschied und Ankunft, das die Sehnsucht nach Aufbruch mit einem Ziel verwechselt, das so gut wie nie zu erreichen ist“. Vielleicht also ist das Fieber doch nicht gar so harmlos, wie es zunächst den Anschein hatte.
Die Erzählerin jedenfalls versucht, dem Flattern und Flirren mit einer Kindheitserinnerung als Remedium beizukommen: Noch nicht des Lesens und Schreibens mächtig, wird das asthmatische Mädchen, das sie einmal war, auf eine Nordseeinsel geschickt – eine rabiate Kur und traumatische Erfahrung. Hier scheint der Grund gelegt für das ewige Ziehen und Zerren, das Heim- und Fernweh, das jedem Reisenden bekannt vorkommen dürfte – die Infektion mit einer zuweilen enervierenden Rast- und Ruhelosigkeit. Das Fieber ist lediglich ein Symptom für den zwiespältigen Wunsch, einen Platz im Leben zu finden, und doch nirgendwo ankommen zu wollen. Mithin: Dem trottelig gleichförmigen Alltag des Erwachsenendaseins nicht ausgeliefert zu sein, sondern immer wieder den Koffer packen und verschwinden zu können. Und sei es mithilfe der Literatur.
„Fieber 17“ ist eine hinreißende Prosaminiatur im präzis-träumerischen Hoppe-Sound, entstanden im Rahmen des Radiofestivals der ARD im vergangenen Sommer, und nun in ein winziges Bändchen gepackt, zusammen mit einem thematisch benachbarten Essay, den Felicitas Hoppe 2012 in Leipzig vorgetragen hat. „Oh, the places you’ll go!“, heißt er, einen Buchtitel des von ihr übersetzten und hochgeschätzten Kinderbuchautors Dr. Seuss borgend. Er handelt davon, warum es Kindheitsgeschichten gibt, die vor Rührseligkeit und Kitsch nur so triefen (die Mehrzahl) und andere, in denen die Transformation von Erlebtem in Erzähltes gelingt.
Felicitas Hoppe weiß, wovon sie spricht: Angefangen beim Erzählungsband „Picknick der Friseure“ über eine Reihe bibliophiler Kinderbücher bis zur fiktionalen Autobiografie „Hoppe“ erzählt sie häufig – „abgesehen von diversen Nebentätigkeiten, in denen ich das Erwachsenwerden probte“ – von Kindheiten. Wohl wissend, dass jeder Blick zurück von Projektionen verstellt ist und man mit Erfindungen der Wirklichkeit näher kommt als mit wirklich Erlebtem (denn vielleicht sind wir, gerade als Kind, eigentlich das, was wir zu sein wünschen, und weniger, was uns die fade Realität aufzwingt). Versucht man wahrhaftig, in ein früheres Kinder-Ich zu schlüpfen, dann sollte man Nostalgie mal schön tattrigen Tanten und Fernsehschmonzetten überlassen und stattdessen eine Ambivalenz anerkennen: Zur Kindheit – und der Erinnerung daran – gehört nämlich sowohl eine „Sehnsucht nach Aufbruch“ als auch die „Angst davor“.
Im besten Falle bleibt einem diese schöne Doppelbewegung bis ins hohe Alter erhalten, zumal als Autorin. Man könnte so was, nach Dr. Hoppe, „Fieber 17“ nennen.
ULRICH RÜDENAUER
Der Wunsch ist, sich dem
trotteligen Erwachsenenalltag
nicht auszuliefern
Felicitas Hoppe bekam 2012 den Georg-Büchner-Preis.
Foto: Jens Kalaene/DPA
Felicitas Hoppe:
Fieber 17.
Eine Erzählung
und ein Essay.
Dörlemann Verlag.
Zürich 2021.
96 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ansteckend
Felicitas Hoppes kleine Prosa über
die Rückkehr ins kindliche Ich
Falls Sie hypochondrisch veranlagt sind und Sorge haben sollten, in den nächsten Zeilen auf falsche Gedanken gebracht zu werden, so seien Sie beruhigt: „Fieber 17“ ist zwar eine Krankheit, aber sie ist relativ ungefährlich und gehört noch dazu der Erzählerin in Felicitas Hoppes gleichnamiger Geschichte ganz allein. Das Fieber grassiert nämlich in ihren „höchst persönlichen Träumen“, und weder Körper noch Geist nehmen daran Schaden. Betroffen ist einzig dieser „lächerlich kleine Rest, den man früher, als es den Volksmund noch gab, so ahnungslos wie überheblich die Seele nannte“. Einerseits.
Andererseits dürfte Fieber 17 weiter verbreitet sein, als man nach dieser ersten Diagnose vermutet. Es gibt ja noch immer ein paar Menschen, die nicht nur über eine Psyche, sondern über dieses empfindliche „Halborgan“ namens Seele verfügen. Wenn sie angegriffen wird, kann es schnell existenziell werden. Das Tückische an besagtem Fieber 17: „dass es zerstreut, statt zu sammeln, dass es dieses leise haltlose Flattern erzeugt, dieses heimliche Flirren zwischen Abschied und Ankunft, das die Sehnsucht nach Aufbruch mit einem Ziel verwechselt, das so gut wie nie zu erreichen ist“. Vielleicht also ist das Fieber doch nicht gar so harmlos, wie es zunächst den Anschein hatte.
Die Erzählerin jedenfalls versucht, dem Flattern und Flirren mit einer Kindheitserinnerung als Remedium beizukommen: Noch nicht des Lesens und Schreibens mächtig, wird das asthmatische Mädchen, das sie einmal war, auf eine Nordseeinsel geschickt – eine rabiate Kur und traumatische Erfahrung. Hier scheint der Grund gelegt für das ewige Ziehen und Zerren, das Heim- und Fernweh, das jedem Reisenden bekannt vorkommen dürfte – die Infektion mit einer zuweilen enervierenden Rast- und Ruhelosigkeit. Das Fieber ist lediglich ein Symptom für den zwiespältigen Wunsch, einen Platz im Leben zu finden, und doch nirgendwo ankommen zu wollen. Mithin: Dem trottelig gleichförmigen Alltag des Erwachsenendaseins nicht ausgeliefert zu sein, sondern immer wieder den Koffer packen und verschwinden zu können. Und sei es mithilfe der Literatur.
„Fieber 17“ ist eine hinreißende Prosaminiatur im präzis-träumerischen Hoppe-Sound, entstanden im Rahmen des Radiofestivals der ARD im vergangenen Sommer, und nun in ein winziges Bändchen gepackt, zusammen mit einem thematisch benachbarten Essay, den Felicitas Hoppe 2012 in Leipzig vorgetragen hat. „Oh, the places you’ll go!“, heißt er, einen Buchtitel des von ihr übersetzten und hochgeschätzten Kinderbuchautors Dr. Seuss borgend. Er handelt davon, warum es Kindheitsgeschichten gibt, die vor Rührseligkeit und Kitsch nur so triefen (die Mehrzahl) und andere, in denen die Transformation von Erlebtem in Erzähltes gelingt.
Felicitas Hoppe weiß, wovon sie spricht: Angefangen beim Erzählungsband „Picknick der Friseure“ über eine Reihe bibliophiler Kinderbücher bis zur fiktionalen Autobiografie „Hoppe“ erzählt sie häufig – „abgesehen von diversen Nebentätigkeiten, in denen ich das Erwachsenwerden probte“ – von Kindheiten. Wohl wissend, dass jeder Blick zurück von Projektionen verstellt ist und man mit Erfindungen der Wirklichkeit näher kommt als mit wirklich Erlebtem (denn vielleicht sind wir, gerade als Kind, eigentlich das, was wir zu sein wünschen, und weniger, was uns die fade Realität aufzwingt). Versucht man wahrhaftig, in ein früheres Kinder-Ich zu schlüpfen, dann sollte man Nostalgie mal schön tattrigen Tanten und Fernsehschmonzetten überlassen und stattdessen eine Ambivalenz anerkennen: Zur Kindheit – und der Erinnerung daran – gehört nämlich sowohl eine „Sehnsucht nach Aufbruch“ als auch die „Angst davor“.
Im besten Falle bleibt einem diese schöne Doppelbewegung bis ins hohe Alter erhalten, zumal als Autorin. Man könnte so was, nach Dr. Hoppe, „Fieber 17“ nennen.
ULRICH RÜDENAUER
Der Wunsch ist, sich dem
trotteligen Erwachsenenalltag
nicht auszuliefern
Felicitas Hoppe bekam 2012 den Georg-Büchner-Preis.
Foto: Jens Kalaene/DPA
Felicitas Hoppe:
Fieber 17.
Eine Erzählung
und ein Essay.
Dörlemann Verlag.
Zürich 2021.
96 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2021Vom Fieber des Erzählens
Wenn die Fiktion die Fakten locker in die Tasche steckt: Felicitas Hoppe lässt sich verschicken und denkt über Kindheiten nach.
Wer über Reisen liest, wird gern in Täuschungen verwickelt: Wie weit erinnern sich Autoren, was erfinden sie, und ist nicht Lesen ein fortwährendes Reisen? Der Raum wird zur Zeit, und diese lockt die Erinnerung in viele Fallen. Und nie trifft Erinnerung, die rückwärtsgewandte, auf einen größeren Widerspruch, als wenn sie über das vorwärts orientierte Wesen trifft, das wir Kind nennen. Dem "Es war einmal" stellt sich das "Es wird einmal" entgegen, und beide sind voneinander fasziniert.
Felicitas Hoppe nutzt die beschwingenden Verse des amerikanischen Poeten Dr. Seuss (die er in hohem Alter schrieb), "Oh, the Places You'll Go" (1990), für essayistische Betrachtungen des Themas Kindheit, die aus einem Vortrag an der Universität Leipzig hervorgegangen sind. Seuss' Gedicht redet einen Jungen an, der einen Schritt in die Welt hinausmachen wird, das Tempus heißt Futur. Seuss ist, wie Hoppe selbst, einer der vielen Erwachsenen, die für und über Kinder schreiben, während Kinder doch "in Wirklichkeit ganz anders" sind. Denn Kinder, so Hoppe, schreiben keine Kindheitsgeschichten, ihre Geschichten speisen sich aus der Zukunft. Seuss jedoch, den die Autorin übersetzt hat, kommt dem Richtungssinn der Kinder näher, als es manch anderen gelingen mag. Peter Pan dagegen, der nicht erwachsen sein möchte, ist eher das Produkt eines frustrierten Erwachsenen. Steht Pinocchio kindlicher Mentalität näher, jene Holzfigur, die unbedingt ein richtiger Junge werden will? Oder ist auch das eine Täuschung?
Hoppes Überlegungen zur Kindheit sind autobiographisch angereichert: "Im Alter von sechs Jahren war ich bereits eine verheiratete Mutter von drei Kindern. Mein Mann, von Beruf Kriminalkommissar, war groß und dick, trug einen Igelhaarschnitt und den Namen Willi." Später spielt sie mit ihrer Schwester, angeregt von Enid Blyton, das Internatsleben von Hanni und Nanni nach. Es ist alles ein großes "Als ob", der Sieg von Fiktionen, von dem, was sein könnte, über die dürre Welt der Fakten und Taten. Sie weiß, dass es gestohlene Kindheiten gibt, Kinder ohne Kinderzimmer, Helden ohne Kindheit. Sie haben sie immer wieder, in ihren anderen Erzählungen und Werken, angelockt: Jeanne d'Arc, Buster Keaton oder eben Pinocchio. Kein Zweifel aber, dass die deutsche Autorin selbst eine "glückliche Kindheit" hatte, "mit anderen Worten, kein Pfund, mit dem ich wuchern konnte". Ihr Pfund dagegen ist die unbändige Phantasie, sind die Paläste der Worte und Gedanken, die Fähigkeit, Figuren aus sich herauszuwerfen, Welten zu entdecken und zu gestalten.
Wenn in den Vereinigten Staaten junge Menschen in neue Lebensphasen aufbrechen, nach dem Ende des Kindergartens oder nach einem Hochschulabschluss, erhalten sie oft das genannte Buch von Dr. Seuss. Die Eltern oder andere geben es ihnen mit als Zeichen, dass sie initiiert worden sind und ihnen die Tore der Welt offen stehen. Zwischen April und Juni, in der Zeit der Abschlussfeiern, gehen die Verkaufszahlen gewohnheitsmäßig in die Höhe. Das Buch ist ein Mutmacher, es ermuntert die Schüchternen und Ängstlichen, den Schritt zu wagen, auch wenn er mal in die falsche Richtung geht: Hauptsache, fort von hier!
Als Hoppe fünf war, wird sie das Buch nicht gekannt haben, es hätte ihr aber helfen können. Denn um einen solchen Schritt ins Leben dreht sich die kleine Erzählung, die nur halb so lang ist wie der ihr angehängte Essay. Berichtet wird eine Serie von Missverständnissen, Irrtümern, ja Betrügereien. Die Müdigkeit, die das Kind immer verspürt, hat plötzlich nach einem Laborbefund einen Namen; es ist eine Krankheit. Fieber 17 heißt sie, die Zahl deutet auf säuberliche Schubladen, auf familiäre Erbschwächen, aber doch mit einer individuellen Note. Das Kind erfährt, dass es "verschickt" werden muss, und glaubt nun, als Paket auf die Post gebracht zu werden. Stattdessen erlebt es die erste Trennung von der Familie, die erste Bahnfahrt, Tränen, Uhren, die man noch nicht lesen kann, fremde Schaffner und Tanten. Und dann die Insel mit ihren Ohrfeigen und Morgenappellen, dem täglichen Salzwasser, dem wöchentlichen Wiegen: ob man denn zugenommen hat. Nicht lesen und nicht schwimmen können, Lieder über das unaussprechliche Madagaskar singen, vor dem die Männer liegen, die Pest an Bord. Schließlich die Postkarten nach Hause, die man der Wärterin zu diktieren hat: "Mir geht es gut! Und wie geht es Euch?"
Hoppe deutet die Schmach und die Angst nur an, über die man inzwischen auf Websites und in Büchern nachlesen kann, beschrieben von vielen, die in den Fünfzigern und Sechzigern "verschickt" wurden, in den Schwarzwald oder nach Amrum, und dort meist üble Erfahrungen machten. Hier lebte eine faschistoide Pädagogik fort, übrigens nicht nur in Deutschland, die nur Gehorsam, Abhärten und Abstrafen kannte. Man konzentrierte sich auf die Wirtschaft und den Bau von Wohnungen und hatte keine Zeit für den Wiederaufbau dieses "lächerlich kleinen Rests, den man früher, als es den Volksmund noch gab, so ahnungslos wie überheblich die Seele nannte". Derweil tat man in den Heimen nur "die Pflicht". Die Seele auf der Insel verliebt sich in einen Jungen, der schon lesen, schreiben und schwimmen kann und ihren Koffer zum Bahnhof zurückträgt: kleine glückliche Momente.
Und das Fieber? Es gehört hier zur glücklichen Kindheit, einer eigenen und einzigen, denn, so Hoppe, unglückliche Kindheiten seien sich doch sehr ähnlich. So schrieb einst Nabokov über die unglücklichen Familien, auch um den berühmten ersten Satz von "Anna Karenina" zu parodieren: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." Hoppe findet ihr Glück auf ihre eigene Weise, im Anderssein.
Seit 600 Millionen Jahren wehren sich Organismen mit Hilfe einer Selbsterhitzung gegen die feindliche Übernahme durch andere Organismen. Sollte im Fieber auch der Beginn des Erzählens liegen? Kommt es nicht wie Fieber in Schüben und wird von Herzklopfen begleitet, von "fröhlicher Appetitlosigkeit und (dem) Wunsch, niemals irgendwo anzukommen"? Fieber 17 ist die ironisch verpackte Skizze eines Kindheitsdebakels, aber auch ein Versuch über die Herkunft eines Erzählens, das nicht enden will: Oh, the places you'll go!
ELMAR SCHENKEL
Felicitas Hoppe: "Fieber 17". Eine Erzählung und ein Essay.
Dörlemann Verlag, Zürich 2021. 96 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn die Fiktion die Fakten locker in die Tasche steckt: Felicitas Hoppe lässt sich verschicken und denkt über Kindheiten nach.
Wer über Reisen liest, wird gern in Täuschungen verwickelt: Wie weit erinnern sich Autoren, was erfinden sie, und ist nicht Lesen ein fortwährendes Reisen? Der Raum wird zur Zeit, und diese lockt die Erinnerung in viele Fallen. Und nie trifft Erinnerung, die rückwärtsgewandte, auf einen größeren Widerspruch, als wenn sie über das vorwärts orientierte Wesen trifft, das wir Kind nennen. Dem "Es war einmal" stellt sich das "Es wird einmal" entgegen, und beide sind voneinander fasziniert.
Felicitas Hoppe nutzt die beschwingenden Verse des amerikanischen Poeten Dr. Seuss (die er in hohem Alter schrieb), "Oh, the Places You'll Go" (1990), für essayistische Betrachtungen des Themas Kindheit, die aus einem Vortrag an der Universität Leipzig hervorgegangen sind. Seuss' Gedicht redet einen Jungen an, der einen Schritt in die Welt hinausmachen wird, das Tempus heißt Futur. Seuss ist, wie Hoppe selbst, einer der vielen Erwachsenen, die für und über Kinder schreiben, während Kinder doch "in Wirklichkeit ganz anders" sind. Denn Kinder, so Hoppe, schreiben keine Kindheitsgeschichten, ihre Geschichten speisen sich aus der Zukunft. Seuss jedoch, den die Autorin übersetzt hat, kommt dem Richtungssinn der Kinder näher, als es manch anderen gelingen mag. Peter Pan dagegen, der nicht erwachsen sein möchte, ist eher das Produkt eines frustrierten Erwachsenen. Steht Pinocchio kindlicher Mentalität näher, jene Holzfigur, die unbedingt ein richtiger Junge werden will? Oder ist auch das eine Täuschung?
Hoppes Überlegungen zur Kindheit sind autobiographisch angereichert: "Im Alter von sechs Jahren war ich bereits eine verheiratete Mutter von drei Kindern. Mein Mann, von Beruf Kriminalkommissar, war groß und dick, trug einen Igelhaarschnitt und den Namen Willi." Später spielt sie mit ihrer Schwester, angeregt von Enid Blyton, das Internatsleben von Hanni und Nanni nach. Es ist alles ein großes "Als ob", der Sieg von Fiktionen, von dem, was sein könnte, über die dürre Welt der Fakten und Taten. Sie weiß, dass es gestohlene Kindheiten gibt, Kinder ohne Kinderzimmer, Helden ohne Kindheit. Sie haben sie immer wieder, in ihren anderen Erzählungen und Werken, angelockt: Jeanne d'Arc, Buster Keaton oder eben Pinocchio. Kein Zweifel aber, dass die deutsche Autorin selbst eine "glückliche Kindheit" hatte, "mit anderen Worten, kein Pfund, mit dem ich wuchern konnte". Ihr Pfund dagegen ist die unbändige Phantasie, sind die Paläste der Worte und Gedanken, die Fähigkeit, Figuren aus sich herauszuwerfen, Welten zu entdecken und zu gestalten.
Wenn in den Vereinigten Staaten junge Menschen in neue Lebensphasen aufbrechen, nach dem Ende des Kindergartens oder nach einem Hochschulabschluss, erhalten sie oft das genannte Buch von Dr. Seuss. Die Eltern oder andere geben es ihnen mit als Zeichen, dass sie initiiert worden sind und ihnen die Tore der Welt offen stehen. Zwischen April und Juni, in der Zeit der Abschlussfeiern, gehen die Verkaufszahlen gewohnheitsmäßig in die Höhe. Das Buch ist ein Mutmacher, es ermuntert die Schüchternen und Ängstlichen, den Schritt zu wagen, auch wenn er mal in die falsche Richtung geht: Hauptsache, fort von hier!
Als Hoppe fünf war, wird sie das Buch nicht gekannt haben, es hätte ihr aber helfen können. Denn um einen solchen Schritt ins Leben dreht sich die kleine Erzählung, die nur halb so lang ist wie der ihr angehängte Essay. Berichtet wird eine Serie von Missverständnissen, Irrtümern, ja Betrügereien. Die Müdigkeit, die das Kind immer verspürt, hat plötzlich nach einem Laborbefund einen Namen; es ist eine Krankheit. Fieber 17 heißt sie, die Zahl deutet auf säuberliche Schubladen, auf familiäre Erbschwächen, aber doch mit einer individuellen Note. Das Kind erfährt, dass es "verschickt" werden muss, und glaubt nun, als Paket auf die Post gebracht zu werden. Stattdessen erlebt es die erste Trennung von der Familie, die erste Bahnfahrt, Tränen, Uhren, die man noch nicht lesen kann, fremde Schaffner und Tanten. Und dann die Insel mit ihren Ohrfeigen und Morgenappellen, dem täglichen Salzwasser, dem wöchentlichen Wiegen: ob man denn zugenommen hat. Nicht lesen und nicht schwimmen können, Lieder über das unaussprechliche Madagaskar singen, vor dem die Männer liegen, die Pest an Bord. Schließlich die Postkarten nach Hause, die man der Wärterin zu diktieren hat: "Mir geht es gut! Und wie geht es Euch?"
Hoppe deutet die Schmach und die Angst nur an, über die man inzwischen auf Websites und in Büchern nachlesen kann, beschrieben von vielen, die in den Fünfzigern und Sechzigern "verschickt" wurden, in den Schwarzwald oder nach Amrum, und dort meist üble Erfahrungen machten. Hier lebte eine faschistoide Pädagogik fort, übrigens nicht nur in Deutschland, die nur Gehorsam, Abhärten und Abstrafen kannte. Man konzentrierte sich auf die Wirtschaft und den Bau von Wohnungen und hatte keine Zeit für den Wiederaufbau dieses "lächerlich kleinen Rests, den man früher, als es den Volksmund noch gab, so ahnungslos wie überheblich die Seele nannte". Derweil tat man in den Heimen nur "die Pflicht". Die Seele auf der Insel verliebt sich in einen Jungen, der schon lesen, schreiben und schwimmen kann und ihren Koffer zum Bahnhof zurückträgt: kleine glückliche Momente.
Und das Fieber? Es gehört hier zur glücklichen Kindheit, einer eigenen und einzigen, denn, so Hoppe, unglückliche Kindheiten seien sich doch sehr ähnlich. So schrieb einst Nabokov über die unglücklichen Familien, auch um den berühmten ersten Satz von "Anna Karenina" zu parodieren: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." Hoppe findet ihr Glück auf ihre eigene Weise, im Anderssein.
Seit 600 Millionen Jahren wehren sich Organismen mit Hilfe einer Selbsterhitzung gegen die feindliche Übernahme durch andere Organismen. Sollte im Fieber auch der Beginn des Erzählens liegen? Kommt es nicht wie Fieber in Schüben und wird von Herzklopfen begleitet, von "fröhlicher Appetitlosigkeit und (dem) Wunsch, niemals irgendwo anzukommen"? Fieber 17 ist die ironisch verpackte Skizze eines Kindheitsdebakels, aber auch ein Versuch über die Herkunft eines Erzählens, das nicht enden will: Oh, the places you'll go!
ELMAR SCHENKEL
Felicitas Hoppe: "Fieber 17". Eine Erzählung und ein Essay.
Dörlemann Verlag, Zürich 2021. 96 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein doppelt-toller Hoppe-Einstieg für Nicht-Hoppe-Kenner. Für Hoppe-Leser sowieso ein Muss.« Dierk Wolters / Frankfurter Neue Presse »Fieber 17 ist die ironisch verpackte Skizze eines Kindheitsdebakels, aber auch ein Versuch über die Herkunft eines Erzählens, das nicht enden will ...« Elmar Schenkel / Frankfurter Allgemeine Zeitung »Fieber 17 ist eine hinreißende Prosaminiatur im präzis-träumerischen Hoppe-Sound.« Ulrich Rüdenauer / Süddeutsche Zeitung »Eine kleine Geschichte also, doch birgt sie in den Goldadern ihrer funkelnden Prosa all jene Schätze, die das literarische Werk Felicitas Hoppes seit ihrem Debütroman Picknick der Friseure (1996) gehortet hat. ... Die Erzählung selbst aber gibt dieser anscheinend banalen Seelenkrankheit eine kulturgeschichtliche Dimension, indem sie sie zum Sinnbild einer Sehnsucht prägt, die den von allen religiösem Bindungen befreiten modernen Menschen immer wieder heimsucht: die Sehnsucht nach innerer Heimat unter metaphysischem Obdach.« Bernhard Viel / Abendzeitung München »In Fieber 17 erzählt Hoppe von der fieberhaft suchenden Seele, der man beikommen kann, wenn man zurück in die Kindheit reist. Im zweiten Teil des wunderbaren kleinen Büchleins macht sich die Autorin Gedanken über Kinder- und Kindheitsgeschichten, die Gestaltungsräume der Identifikation wie der Projektion gleichermaßen - und meistens Erfindungen sind.« Johannes Schröer im Gespräch mit Felicitas Hoppe / Domradio »Fieber 17 ist ein geradezu heiteres Buch, voller Ironie und tiefsinniger Formulierungen, das wunderbar erzählt und zugleich das Erzählen selbst analysiert. Die Geschichte über die Kindheit wird so zum Essay und der Essay zu einer Geschichte über Kindheit und wie Erwachsene davon erzählen.« Guy Helminger / Luxemburger Tageblatt »Obwohl Erzählung und Essay im Band aus unterschiedlichen Anlässen hervorgegangen sind, wirkt die Gegenüberstellung überaus stimmig. Die beiden Texte erhellen sich wechselseitig und sorgen mit ihrer stilistischen Virtuosität für echten Lesegenuss.« Svenja Frank / literaturkritik.de