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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wenn die Fiktion die Fakten locker in die Tasche steckt: Felicitas Hoppe lässt sich verschicken und denkt über Kindheiten nach.
Wer über Reisen liest, wird gern in Täuschungen verwickelt: Wie weit erinnern sich Autoren, was erfinden sie, und ist nicht Lesen ein fortwährendes Reisen? Der Raum wird zur Zeit, und diese lockt die Erinnerung in viele Fallen. Und nie trifft Erinnerung, die rückwärtsgewandte, auf einen größeren Widerspruch, als wenn sie über das vorwärts orientierte Wesen trifft, das wir Kind nennen. Dem "Es war einmal" stellt sich das "Es wird einmal" entgegen, und beide sind voneinander fasziniert.
Felicitas Hoppe nutzt die beschwingenden Verse des amerikanischen Poeten Dr. Seuss (die er in hohem Alter schrieb), "Oh, the Places You'll Go" (1990), für essayistische Betrachtungen des Themas Kindheit, die aus einem Vortrag an der Universität Leipzig hervorgegangen sind. Seuss' Gedicht redet einen Jungen an, der einen Schritt in die Welt hinausmachen wird, das Tempus heißt Futur. Seuss ist, wie Hoppe selbst, einer der vielen Erwachsenen, die für und über Kinder schreiben, während Kinder doch "in Wirklichkeit ganz anders" sind. Denn Kinder, so Hoppe, schreiben keine Kindheitsgeschichten, ihre Geschichten speisen sich aus der Zukunft. Seuss jedoch, den die Autorin übersetzt hat, kommt dem Richtungssinn der Kinder näher, als es manch anderen gelingen mag. Peter Pan dagegen, der nicht erwachsen sein möchte, ist eher das Produkt eines frustrierten Erwachsenen. Steht Pinocchio kindlicher Mentalität näher, jene Holzfigur, die unbedingt ein richtiger Junge werden will? Oder ist auch das eine Täuschung?
Hoppes Überlegungen zur Kindheit sind autobiographisch angereichert: "Im Alter von sechs Jahren war ich bereits eine verheiratete Mutter von drei Kindern. Mein Mann, von Beruf Kriminalkommissar, war groß und dick, trug einen Igelhaarschnitt und den Namen Willi." Später spielt sie mit ihrer Schwester, angeregt von Enid Blyton, das Internatsleben von Hanni und Nanni nach. Es ist alles ein großes "Als ob", der Sieg von Fiktionen, von dem, was sein könnte, über die dürre Welt der Fakten und Taten. Sie weiß, dass es gestohlene Kindheiten gibt, Kinder ohne Kinderzimmer, Helden ohne Kindheit. Sie haben sie immer wieder, in ihren anderen Erzählungen und Werken, angelockt: Jeanne d'Arc, Buster Keaton oder eben Pinocchio. Kein Zweifel aber, dass die deutsche Autorin selbst eine "glückliche Kindheit" hatte, "mit anderen Worten, kein Pfund, mit dem ich wuchern konnte". Ihr Pfund dagegen ist die unbändige Phantasie, sind die Paläste der Worte und Gedanken, die Fähigkeit, Figuren aus sich herauszuwerfen, Welten zu entdecken und zu gestalten.
Wenn in den Vereinigten Staaten junge Menschen in neue Lebensphasen aufbrechen, nach dem Ende des Kindergartens oder nach einem Hochschulabschluss, erhalten sie oft das genannte Buch von Dr. Seuss. Die Eltern oder andere geben es ihnen mit als Zeichen, dass sie initiiert worden sind und ihnen die Tore der Welt offen stehen. Zwischen April und Juni, in der Zeit der Abschlussfeiern, gehen die Verkaufszahlen gewohnheitsmäßig in die Höhe. Das Buch ist ein Mutmacher, es ermuntert die Schüchternen und Ängstlichen, den Schritt zu wagen, auch wenn er mal in die falsche Richtung geht: Hauptsache, fort von hier!
Als Hoppe fünf war, wird sie das Buch nicht gekannt haben, es hätte ihr aber helfen können. Denn um einen solchen Schritt ins Leben dreht sich die kleine Erzählung, die nur halb so lang ist wie der ihr angehängte Essay. Berichtet wird eine Serie von Missverständnissen, Irrtümern, ja Betrügereien. Die Müdigkeit, die das Kind immer verspürt, hat plötzlich nach einem Laborbefund einen Namen; es ist eine Krankheit. Fieber 17 heißt sie, die Zahl deutet auf säuberliche Schubladen, auf familiäre Erbschwächen, aber doch mit einer individuellen Note. Das Kind erfährt, dass es "verschickt" werden muss, und glaubt nun, als Paket auf die Post gebracht zu werden. Stattdessen erlebt es die erste Trennung von der Familie, die erste Bahnfahrt, Tränen, Uhren, die man noch nicht lesen kann, fremde Schaffner und Tanten. Und dann die Insel mit ihren Ohrfeigen und Morgenappellen, dem täglichen Salzwasser, dem wöchentlichen Wiegen: ob man denn zugenommen hat. Nicht lesen und nicht schwimmen können, Lieder über das unaussprechliche Madagaskar singen, vor dem die Männer liegen, die Pest an Bord. Schließlich die Postkarten nach Hause, die man der Wärterin zu diktieren hat: "Mir geht es gut! Und wie geht es Euch?"
Hoppe deutet die Schmach und die Angst nur an, über die man inzwischen auf Websites und in Büchern nachlesen kann, beschrieben von vielen, die in den Fünfzigern und Sechzigern "verschickt" wurden, in den Schwarzwald oder nach Amrum, und dort meist üble Erfahrungen machten. Hier lebte eine faschistoide Pädagogik fort, übrigens nicht nur in Deutschland, die nur Gehorsam, Abhärten und Abstrafen kannte. Man konzentrierte sich auf die Wirtschaft und den Bau von Wohnungen und hatte keine Zeit für den Wiederaufbau dieses "lächerlich kleinen Rests, den man früher, als es den Volksmund noch gab, so ahnungslos wie überheblich die Seele nannte". Derweil tat man in den Heimen nur "die Pflicht". Die Seele auf der Insel verliebt sich in einen Jungen, der schon lesen, schreiben und schwimmen kann und ihren Koffer zum Bahnhof zurückträgt: kleine glückliche Momente.
Und das Fieber? Es gehört hier zur glücklichen Kindheit, einer eigenen und einzigen, denn, so Hoppe, unglückliche Kindheiten seien sich doch sehr ähnlich. So schrieb einst Nabokov über die unglücklichen Familien, auch um den berühmten ersten Satz von "Anna Karenina" zu parodieren: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." Hoppe findet ihr Glück auf ihre eigene Weise, im Anderssein.
Seit 600 Millionen Jahren wehren sich Organismen mit Hilfe einer Selbsterhitzung gegen die feindliche Übernahme durch andere Organismen. Sollte im Fieber auch der Beginn des Erzählens liegen? Kommt es nicht wie Fieber in Schüben und wird von Herzklopfen begleitet, von "fröhlicher Appetitlosigkeit und (dem) Wunsch, niemals irgendwo anzukommen"? Fieber 17 ist die ironisch verpackte Skizze eines Kindheitsdebakels, aber auch ein Versuch über die Herkunft eines Erzählens, das nicht enden will: Oh, the places you'll go!
ELMAR SCHENKEL
Felicitas Hoppe: "Fieber 17". Eine Erzählung und ein Essay.
Dörlemann Verlag, Zürich 2021. 96 S., geb., 15,- [Euro].
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