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Der Elfenbein Verlag wagt sich nach dem Erfolg von Anthony Powell an die Übersetzung eines anderen vielbändigen englischen Romanzyklus: Simon Ravens "Almosen fürs Vergessen". Der erste Teil ist gleich ein Höhepunkt der Serie.
Als Somerset Lloyd-James, Chefredakteur des renommierten Wirtschaftsmagazins "Strix", eines Frühlingsvormittags in seinem Londoner Büro eintrifft, begrüßt ihn die Sekretärin mit der Ankündigung, ein Gentleman erwarte ihn. "Ein Gentleman?", fragt Lloyd-James. "Ich benutze den Begriff mit Bedacht", antwortet die Sekretärin: "Er ist seit halb zehn hier und behauptet, ein alter Freund von Ihnen zu sein." "Name?" "Major Gray. Schon außer Dienst, schätze ich." "De profundis", lautet darauf die Reaktion von Lloyd-James, und dieser Stoßseufzer ist geistreich, denn nicht nur zitiert er den lateinischen Beginn des Satzes "Aus der Tiefe, Herr, rief ich zu Dir" aus Psalm 130, womit der weite Abstand angedeutet wird, den Lloyd-James zwischen sich und dem Major empfindet, sondern auch - und für ein literarisch gebildetes Publikum wohl mehr noch - den Titel des gleichnamigen Briefs von Oscar Wilde, mit dem dieser als verurteilter Homosexueller im Zuchthaus Rechenschaft über sein Leben ablegte.
Der kurze Dialog findet sich in Simon Ravens Roman "Friends in Low Places", und dank des Anspielungsreichtums von Lloyd-James' Schlussbemerkung wissen die Leser schon einiges über diesen Major Gray, obwohl er erst kurz danach zum ersten Mal persönlich die Raven'sche Romanwelt betreten wird - vor allem ahnen sie, dass Gray eine heikle homosexuelle Vergangenheit hat. Die wird in aller Breite erst in einem anderen Buch geschildert, das 1967, zwei Jahre nach "Friends in Low Places", erscheinen sollte, obwohl seine Handlung anderthalb Jahrzehnte früher angesiedelt ist. Es trägt als Titel den Namen seiner Hauptfigur: "Fielding Gray". In deutscher Übersetzung erscheint es nun vor "Friends in Low Places" (das als "Gute Beziehungen nach unten" erst für 2022 angekündigt ist), und das hat einen guten Grund: "Fielding Gray" ist, handlungschronologisch gesehen, der erste Teil von Ravens zehnbändigem Romanzyklus "Alms for Oblivion" - "Almosen fürs Vergessen", wie er nun auf Deutsch heißt.
In unserer Sprache war bisher noch gar nichts von dem sehr produktiven englischen Schriftsteller Simon Raven (1927 bis 2001) erschienen - bestenfalls kennt man ihn hierzulande als einen Drehbuchautor für den James-Bond-Film "Im Geheimdienst Ihrer Majestät" von 1969, der aber floppte, weil der Hauptdarsteller George Lazenby nach dem die Rolle prägenden Sean Connery das Kinopublikum nicht überzeugte. Das war auch Pech für Raven, dessen ausschweifender Lebensstil ständigen Geldzufluss brauchte. Immerhin zahlte ihm sein Verleger Anthony Blond seit 1958 dreißig Jahre lang ein monatliches Fixum und ermöglichte Raven damit die Abfassung von mehr als zwanzig Romane - auch dadurch, dass Blonds Bedingungen für die Zahlungen außer dem Schreiben die Selbstverpflichtung des Autors umfassten, sich von London und somit dessen Kneipen und Bordellen fernzuhalten.
Dass es nun auf Deutsch gleich mit der monumentale "Almosen"-Serie losgeht, liegt am Verlag: Mit der 2018 abgeschlossenen Übersetzung von Anthony Powells sogar zwölfbändigem Romanzyklus "Tanz zur Musik der Zeit" hatte der kleine Elfenbein Verlag aus Berlin einen für seine Verhältnisse riesigen Erfolg. Was lag da näher, als ein ähnliches Nachfolgeprojekt zu suchen? Zumal eines, das Powell selbst geschätzt haben soll, obwohl es seinem eigenen, älteren Opus magnum recht ähnlich ist: In beiden Zyklen werden die Lebenswege eines seit der Internatszeit miteinander verbundenen Freundes- und Feindeskreises verfolgt. Dadurch entsteht jeweils ein englisches Gesellschaftsporträt, das bei Raven allerdings "nur" die drei Nachkriegsjahrzehnte umfasst, während Powell über mehr als das halbe zwanzigste Jahrhundert hinweg erzählt. Da sich beider Handlungszeiträume und die sozialen Stellungen ihrer Oberschichtfiguren aber überschneiden, ist der Vergleich besonders interessant.
Sabine Franke hat sich vor einem Jahr aufgemacht, die Herkulesaufgabe der Übersetzung von mehr als zweitausend Seiten "Alms for Oblivion" zu leisten; bis Ende 2024 sollen alle zehn Bände auf Deutsch publiziert sein. Bei der Ausstattung setzt Elfenbein aufs bei Powell bewährte Prinzip von nostalgischen, farbenprächtig bedruckten Pappeinbänden, diesmal allerdings nicht mit rein geometrischen Mustern, sondern charakteristisch-stimmungsvollen Handlungsszenen, so im Falle von "Fielding Gray" ein junger Cricket-Spieler vor neogotischer Internatskulisse. Das dürfte anglophile Leser unweigerlich hinein in die Lektüre ziehen, und dass es sich bei dem Ich-Erzähler um eine eher abstoßende Figur handelt, werden sie erst im Laufe der Lektüre merken. Dann blieben sie hoffentlich dabei, denn gerade dieser Dreh macht Rang und Reiz des Buchs aus.
Raven, der in seinem Heimatland nicht eben berühmt für subtile Charakterschilderungen ist, vollbringt in "Fielding Gray" ein kleines Meisterstück. Seinem Publikum war 1967 bei Erscheinen des Romans klar, dass die Titelfigur autobiographische Züge trägt - zu berüchtigt war der Ruf des Autors, den seine Schule 1945 wegen homosexueller Handlungen relegiert und dessen Karriere als britischer Berufssoldat mit einer Entlassung wegen "unangemessenen Verhaltens" geendet hatte. Mit dem ebenfalls 1927 geborenen Fielding Gray erschuf Raven sich ein Alter Ego, das für Londoner literarische Kreise ebenso leicht wiederzuerkennen war wie andere Figuren in "Almosen fürs Vergessen". So ist etwa Somerset Lloyd-James nach dem Vorbild des Herausgebers der "Times", William Rees-Mogg (dem Vater des heutigen konservativen leader of the house of commons), gestaltet, was dank der überdeutlichen Namens- und Berufsähnlichkeit leicht zu entschlüsseln war.
Diese Schlüssellochperspektive auf die heimische upper class und deren amouröses und professionelles Treiben machte den Reiz von "Alms for Oblivion" fürs britische Publikum der sechziger und siebziger Jahre aus - der Abschlussband des Zyklus, auch handlungstechnisch dessen letzter Teil, erschien 1976. Heutigen deutschen Lesern jedoch fehlt das Wissen um die Realitäten hinter dem Geschehen, ein Anmerkungsteil wiederum hätte den Verlag überfordert - und wohl auch die Geduld der Leser, die schon beim noch anspielungsreicheren Powell eher das wohlige Schmökergefühl geschätzt haben, das bei der Lektüre eines nun historisch gewordenen Zeitbilds entsteht.
Das bietet auch "Almosen fürs Vergessen" zur Genüge, zumal sich die von Sabine Franke gewählte Sprache flüssig liest. Der deutsche Text bemüht sich nicht um zeitgenössisch-begriffliche Akkuratesse, sondern um die Heraufbeschwörung einer Zeitstimmung sozialer Trennung - ganz gemäß Fielding Grays Feststellung im Roman, als er sich bewusst wird, "dass dies das erste Mal in meinem Leben war, dass ich ein Gespräch mit einem Mitglied der Unterschicht führte, das nicht bloß zu einem administrativen Zweck bestimmt war". Britische Blasiertheit kann Sabine Franke exzellent zum Ausdruck bringen.
"Fielding Gray" ist allerdings insofern eine gewagte Wahl als Auftaktband, als seine Form sich von den anderen Teile des Zyklus unterscheidet. Hier tritt ein Ich-Erzähler auf, und auch die vielen eingeschobenen Briefe und eine Rahmenfiktion künden von den während der Arbeit am Großwerk gewachsenen Ambitionen von Raven; anders als Powell war er um formalen Abwechslungsreichtum bemüht. Die englischen Ausgaben behalten deshalb auch in den jüngeren Sammelbänden die Anordnung nach Publikationsreihenfolge der einzelnen Teile bei, während die deutsche Edition nun streng inhaltlich vorgeht. Dadurch wird die ästhetische Entwicklung des Schriftstellers Raven unsichtbar und womöglich durch "Fielding Gray" eine Erwartungshaltung geweckt, die die weiteren, eher konventionellen Bände enttäuschen könnten.
Allein schon die Überraschung, schließlich doch noch von Grays moralischem Versagen zu erfahren oder von der Charakterschwäche seines Rivalen Lloyd-James, dürfte "Fielding Gray" für englische Leser des Zyklus zu einem Binnenhöhepunkt machen, während das deutsche Publikum von diesen Gipfeln nun erst einmal wieder hinab muss. Wobei in den Folgebänden ("Die Säbelschwadron", "Blast nun zum Rückzug" und "Die Reichen zahlen spät", bis dann mit "Gute Beziehungen nach unten" das Ende der fünfziger Jahre und damit die Hälfte des Handlungszeitraums erreicht sein wird) äußerlich viel mehr geschieht als in "Fielding Gray". Aber eine vergleichbare psychologische Faszination wie für dieses im wörtlichen Sinne enfant terrible bieten die späteren Bände nicht. Hier jedoch hält Simon Raven den Vergleich mit Anthony Powell aus, hier hat er alles in einen Einzelband gepackt, worüber er literarisch verfügte - wohl gerade, weil ihm dessen Hauptfigur so nahe stand. Vergleichbare Bosheit auch sich selbst gegenüber sollte sein Schreiben nur noch einmal erreichen: auf dem eigenen Grabstein. Für ihn verfasste der notorische Alkoholiker und Sex-Maniac Raven die Inschrift: "Er teilte seine Flasche - und, als er noch jung und appetitlich war, auch das Bett."
ANDREAS PLATTHAUS.
Simon Raven: "Fielding Gray". Roman. Almosen fürs Vergessen, Band 1.
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Sabine Franke. Elfenbein Verlag, Berlin 2020. 263 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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