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Sorgenhorizont
Daniela Schwarzer hofft auf einen Lernprozess der EU
Europa steht unter sehr großem Druck. China und die USA dominieren in der Welt, aber sie sind in ihrer Konfliktorientierung unkalkulierbar geworden. Und von Innen drohen existenzielle Krisen – von der Klima-Katastrophe bis zur Gesundheitsfrage. Begleitet wird dies von Machtkämpfen aller Art. So kann es nicht überraschen, dass dann die Grundsatzfrage unvermeidlich wird: Was hält Europa eigentlich noch zusammen?
Die Antwort auf diese Frage ist schwer zu finden. Die Politik erschöpft sich weitgehend in situativem Krisenmanagement. Gesellschaftlich bindende Orientierung? Fehlanzeige. Die Forderung nach begreifbarer Identität ist aber keine Banalität. Jedes politische System bedarf zur Gewährleistung seiner Handlungsfähigkeit eines Rahmens, auf den sich die Begründungen für Prioritäten und Positionen beziehen. Es bedarf der Filter zum Ordnen aller eingehenden Informationen.
Die aktuellen politischen Erschütterungen des Kontinents vermitteln uns mehr als die traditionelle Reihung europäischer Krisen und die darauf folgenden Fragmente eines Krisenmanagements. Nunmehr werden erstmals mit Nachdruck die Sinnfragen des Gesamtprojekts der Einigung Europas aufgeworfen. Was ist der Grund für dieses höchst ungewöhnliche Phänomen? Zunächst erkennt man den Verbrauch früherer normativer Grundlagen. Sie sind in der konfusen Komplexität konsumiert worden. Und es fehlt als Kompensation ein Zukunftsnarrativ. Europa befindet sich in einer Ära strategischer Sprachlosigkeit. Der Kontinent muss also eine strategische Kultur aufbauen. Das wird nicht aus den herkömmlichen Machtspielen erwachsen. Die Tür zu einer neuen Sinnbegründung wäre geöffnet, wenn Europa ein strategisches Konzept der Differenzierung nach innen und nach außen böte. Das alles zusammen ist eine wirklich große, ja historische Aufgabe.
Geradezu sehnsuchtsvoll blickt der nach Antwort suchende Leser auf ein neues Buch: „Final Call. Wie Europa sich zwischen China und den USA behaupten kann“. Die Autorin Daniela Schwarzer bringt die notwendige wissenschaftliche Erfahrung mit, um Antworten liefern zu können: Sie war Direktorin des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, ist Sonderberaterin des Außenbeauftragten der Europäischen Union. Sie leitet seit Mai 2021 die Open Society Foundations in Europa und Eurasien, die weltweit größte Gruppe von Stiftungen, die sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzt. Bereits von der ersten Seite an ist man erleichtert: Die komplexe Lage wird nicht in irgendeinem Fachchinesisch präsentiert, sondern in einer gut verständlichen, anregenden Sprache. Und gleich zu Beginn findet man den zutreffenden, elementaren Befund zur Lage: „Es fehlt nicht an Ideen, was getan werden könnte. Es fehlt an Entscheidungswillen und Führungsstärke in einer Union mit 27 Mitgliedstaaten, die viel zu oft und zu stark mit sich selbst beschäftigt ist.“ Dann wird systematisch die Problemlandkarte beschrieben: die Weltordnung, die Großmachtkonkurrenz, die Krisen und dazu der europäische Versuch der Selbstbehauptung. Schließlich gipfelt die Darstellung immer wieder in Appellen: die Gestaltungskraft voranzutreiben, die Rechtsstaatlichkeit zu schützen, langfristige Ziele zu setzen, den strategischen Kompass einzusetzen. Was allerdings offen und unbeantwortet bleibt, ist, wie man konkret operativ organisatorisch und intellektuell die strategische Sprachlosigkeit überwindet. Wer initiiert zum Beispiel einen Strategic Council? Wer liefert präzise das strategische Denken und setzt es dann effektiv um?
Daniela Schwarzer bringt allerdings dennoch einiges Licht in den dramatischen Sorgehorizont Europas. Ein Blick in die Geschichte zeige, dass Krisen zu Lernprozessen geführt haben und dann zu Problemlösungen, nun gilt es dies anzuwenden auf die elementaren Kategorien: die Frage nach der Legitimation, die Sicherung der Transparenz, die Klärung der Führungsstrukturen, die weltpolitische Mitverantwortung. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Es gibt so etwas wie ein politisch-kulturelles Grundgesetz Europas. Seit der ersten Nennung des Namens Europa im 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum heutigen Tag steht dieser Kontinent unter Spannung, weil die größtmögliche Vielfalt an Mentalitäten, Temperamenten und Traditionen in größtmöglicher räumlicher Dichte ihr Zusammenleben organisieren. Die daraus resultierende Spannung entlädt sich mal positiv als zivilisatorische Großleistung, mal negativ als imperiale Katastrophe. Europa kennt den Geist der Bergpredigt ebenso wie das Wörterbuch des Unmenschen. Soll die positive Seite aufgeschlagen werden, dann gelingt das nur, wenn man die große politisch-kulturelle Leistung erbringt, nicht wenn man infantil immer wieder die alten Fehler wiederholt. Damit ist die aktuelle Grundsatzaufgabe für Europa definiert: Die strategische Deutungs- und Erklärungsleistung ist zu erbringen.
Bei allem Problemdruck schließt die Autorin dennoch das Buch mit einem optimistischen Blick nach vorn: „Es ist ein Europa, das weiß, dass es unfassbar viel zu bieten hat, von kulturell bis landschaftlich, von politisch bis kulinarisch, von historisch bis hin zur Zukunftsfähigkeit“.
WERNER WEIDENFELD
Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München.
Manchmal zivilisatorische
Großleistung, manchmal
imperiale Katastrophe
Daniela Schwarzer:
Final Call. Wie Europa sich zwischen China und den USA behaupten kann. Campus Verlag, Frankfurt 2021.
210 Seiten, 22,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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