April 1945, die letzten Tage der Reichshauptstadt Berlin: Während die Bomben fallen, verteidigt das letzte militärische Aufgebot die Nazi-Herrschaft. In den Flüchtlingskolonnen und unter den sich auflösenden deutschen Heereseinheiten fahnden Sicherheitsdienst und Gestapo immer noch nach Juden, Oppositionellen und Deserteuren. Das Misstrauen der Menschen untereinander ist groß: Jeder könnte ein Verräter sein. Inmitten des Chaos sucht der junge Soldat Joachim Lassehn verzweifelt ein Versteck. Friedrich Wiegand, ein im KZ gefolterter Gewerkschafter, versucht durch Sabotageakte das Kriegsende zu beschleunigen. Der Arzt Walter Böttcher hilft Untergetauchten, in der Illegalität zu überleben. Und die Kneipe von Oskar Klose ist der konspirative Treffpunkt einer kleinen Widerstandsgruppe, der die SS auf der Spur ist. In seinem großen Roman FINALE BERLIN, einem der ersten Bestseller der Nachkriegszeit, verfolgt Heinz Rein das packende Schicksal einer kleinen Widerstandsgruppe und lässt den Leser die Atmosphäre im untergehenden Nazi-Reich miterleben.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jens Bisky ist total von den Socken. Dass Heinz Reins Berlin- und Antikriegsroman 70 Jahre nach Kriegsende neu erscheint, um neben Falladas "Jeder stirbt für sich allein" seinen Platz zu behaupten und neue Leser zu finden, scheint ihm einem Wunder gleichzukommen. Fritz J. Raddatz für sein Engagement für das Buch dankend, zählt Bisky begeistert die scharf gefassten Charaktere dieser in den letzten Tagen der Reichshauptstadt spielenden Deserteursgeschichte auf: Mitläufer, Feiglinge, Verfolgte und Illegale, kurz: "Leute wie du und ich", die sich in den Luftschutzkellern drängeln und auf das Feuer der Roten Armee horchen. Die eigentliche Stärke des Textes aber liegt für Bisky in seiner sprachlichen Rohheit, einer raffinierten Spannungsdramaturgie und einem reportagehaften, den Leser packenden Wirklichkeitszugriff. Als Zeitdokument, Reportage und Spannungsroman überzeugt das Buch den Rezensenten gleichermaßen. Den Terror der Nazis und Fragen nach der bedingungslosen Gefolgschaft geht der Autor laut Bisky mit soziologisch geschultem Blick und beeindruckenden Schilderungen auf den Grund.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.02.2015Bis fünf nach zwölf
1946 schrieb Heinz Rein einen furiosen Roman über die letzten Tage
der Reichshauptstadt – „Finale Berlin“ ist ein großes Zeitdokument
VON JENS BISKY
Während die Rote Armee an der Oder gut zweieinhalb Millionen Soldaten für den Zangenangriff auf Berlin zusammenzog, zwängte sich in der Straße Am Schlesischen Bahnhof, die heute Am Ostbahnhof heißt, ein junger Mann durch die Tür eines Restaurants und eilte in die dunkelste Ecke: „Ein Bier!“. Seine Vorsicht macht ihn verdächtig, seine Angst kann er schlecht verbergen. Es braucht nur wenige Fragen des lebenserfahrenen, achtundfünfzigjährigen Wirtes, das Wesentliche aus dem jungen Mann herauszukitzeln. Er heißt Joachim Lassehn, war Musikstudent und hat vor wenigen Wochen im oberschlesischen Ratibor beschlossen, nicht mehr mitzumachen, hat die Knarre weggeworfen, Zivil angezogen und sich abgesetzt. Würden Feldpolizei, SS oder Gestapo den Deserteur erwischen, wäre dies sein Todesurteil. Es ist sein Glück, dass der Zufall ihn in die Kneipe des Wirtes Klose geführt hat, der einer Widerstandsgruppe angehört und den Gehetzten in seine Obhut nimmt. Joachim Lassehns Eltern kamen bei einem Bombenangriff ums Leben und was es mit seiner Frau auf sich hat, wie sie zu den Nazis steht, weiß er selber nicht. Er kennt sie kaum, hat sie während eines Fronturlaubs getroffen und gleich geheiratet. Was nun?
Mit diesem Kneipengespräch, geführt in den frühen Nachmittagsstunden des 14. April 1945, beginnt Heinz Rein die Handlung seines Romans „Finale Berlin“. An der Seite Joachim Lassehns wird der Leser Dutzende scharf gezeichneter Charaktere kennenlernen, wird um das Leben der Widerständler bangen, irritiert ihre ausführlichen moralischen Diskussionen verfolgen, wird miterleben, wie die Menschen sich in Luftschutzkellern drängeln, wie die Rote Armee unaufhaltsam näher rückt.
„Finale Berlin“ spielt in den letzten Wochen der Reichshauptstadt, vom 14. April bis zum 2. Mai 1945, doch erzählt Heinz Rein nicht nur von der Schlacht um Berlin, er entfaltet zugleich ein Panorama der nationalsozialistischen Gesellschaft. Jeder Typus hat seinen Auftritt: Bonzen, Mörder, Mitläufer, Fantasierte und Feige, Verfolgte, Illegale, Desillusionierte, Durchschnittsmenschen, ja, Leute wie du und ich. Dies ist eine Geschichte der Zerstörung Berlins, eine wütende Anklage, ein Roman, der den Leser ganz packt und ihn nicht wieder loslassen will. Es gibt dieses Buch seit achtundsechzig Jahren, es war vergessen wie sein Autor und wäre wohl noch länger eine Fußnote in wenigen germanistischen Studien geblieben, wenn nicht Fritz J. Raddatz auf eine Neuausgabe gedrängt hätte.
Als einen „Roman gegen die Vergeßlichkeit“ kündigte die Berliner Zeitung das Werk am 5. Oktober 1946 an, dessen gekürzte Fassung sie bis Februar 1947 druckte. Über den Autor teilte sie mit: „Heinz Rein, 1906 in Berlin geboren, war ursprünglich Bankbeamter, dann schriftstellerisch für Auslandszeitungen tätig, während des Krieges bei der Reichsbahn zwangsdienstverpflichtet. Er hat selbst illegal gearbeitet; sein Buch beruht durchaus auf eigener Anschauung und eigenen Erlebnissen. Gegenwärtig ist er Referent in der ,Zentralverwaltung für Volksbildung’. Beim Erich Schmidt-Verlag kommt jetzt von ihm ein Roman ,Berlin 1932’ und ein Novellenband ,Mädchen auf der Brücke’ heraus.“
Die ungekürzte Buchausgabe brachte 1947 der von der SED gegründete Dietz-Verlag heraus. Bis 1950 wurden 80 000 Exemplare gedruckt. Heinz Rein schien eine glänzende Karriere im DDR-Kulturleben bevorzustehen. 1950 aber veröffentlichte er im Henschel-Verlag ein Buch über „Die neue Literatur“, in dessen Vorwort er sich auf den mächtigen Johannes R. Becher berief, ohne ihn aber sonst weiter zu erwähnen. Becher verfasste eine kurze Erklärung, er halte Reins „Versuch eines ersten Querschnitts“ „für literarisch stümperhaft und politisch für gefährlich“. Es werde „ernsthafter Bemühungen seitens unserer Literaturkritiker bedürfen“, den Schaden wiedergutzumachen. Eifrige Journalisten rechneten dem vor kurzem noch Gefeierten ideologischen Verfehlungen und Eitelkeiten vor, der Verlag zog das Buch zurück, Rein verließ in den Fünfzigern die DDR und zog nach Baden-Baden. 1980 überarbeitete er „Finale Berlin“ für die Büchergilde Gutenberg. Diese Fassung liegt der Neuausgabe zugrunde.
Die Attacken gegen Rein waren wohl ein Kapitel im langen literaturpolitischen Streit zwischen dem Johannes-R.-Becherschen Klassizismus, dem „sozialistischen Realismus“ einschließlich seiner Verklärungsgebote auf der einen Seite und den Traditionen proletarisch-revolutionären Schreibens auf der anderen. Denen war Rein verbunden, wie auch die Widmung seines Romans „für Erich Weinert“ zeigt.
Über Reins literarische Bildung ist wenig bekannt, den langen Romantext muss er sehr rasch geschrieben haben. Manche verunglückte Formulierung blieb stehen, die erotischen Szenen – und das sind einige – ersterben in Zeitschriftenfloskeln. Fritz J. Raddatz bringt es im Nachwort auf die einleuchtende Formel: „Heinz Rein ist nicht Proust. Er ist ein Empörungs-Reporter.“ Als dieser aber, so muss man hinzufügen, ist er ein Könner. Die große Stärke des Romans liegt in der Verbindung einer mal raffinierten, mal konventionellen Spannungsdramaturgie mit dem Wirklichkeitszugriff der Reportage. Die ersten Leser waren uneins, ob damit den Forderungen der Kunst, der Verdichtung, der Form Genüge getan sei. Jahrzehnte später überzeugt gerade der Verzicht auf Glättung. Dieser Roman ist ein Schmöker, in dem man sich sofort festliest, und er ist zugleich ein bewegendes Zeitdokument, dem man entnehmen kann, was geschehen ist und wie die Überlebenden das Geschehen zu deuten versuchten. In der Gegenwartsliteratur werden zeitgeschichtliche Stoffe gern in der Form des Familienromans abgehandelt. Das erlaubt viel Innenwelt, Reflexionen, Apartes. Heinz Rein dagegen zielt mit der Verbindung von Spannungsroman und Reportage aufs Totale. Er will ein Ganzes darstellen – und das gelingt ihm.
Die Geschichte Joachim Lassehns, der lernen muss, sich nicht mit der Fluchtwelt der Musik zu begnügen, der aus dem Dagegen-Sein in ein Dafür- und Deswegen-Kämpfen finden soll, diese Geschichte der deutschen Jugend, die aus dem NS-Wahnsinn herausfindet, hätte sich auf sehr viel weniger Seiten erzählen lassen. In „Finale Berlin“ geht es aber nicht allein um knappe antifaschistische Pädagogik. Der Roman stellt Fragen, mit denen sich Historiker bis heute herumplagen. Warum sind die Deutschen den Nazis gefolgt? Warum haben sie bis zum Ende Befehle befolgt, bis zum Ende fanatisch gekämpft?
Seine Schilderungen des Berliner Alltags, des Zusammenbruchs der Versorgung, der städtischen Infrastruktur unterbricht Rein immer wieder durch Wehrmachtsberichte, Durchalteparolen, Goebbels-Zitate, Artikel aus dem Völkischen Beobachter oder dem Panzerbär , „Kampfblatt für die Verteidiger Gross-Berlins“. Er schildert Ort, Lebensläufe, Familien mit soziologisch geschultem Blick: Da gibt es die „Ethnologie einer deutschen Kleinstadt“ ebenso wie die typische Biografie eines Nazi-Funktionärs. Die filmreif gestalteten Szenen, in denen Lassehn im letzten Augenblick zur Waffe greift und schießt, um sein Leben und das anderer zu retten, verblassen beinahe vor den eindrücklichen Schilderungen des Terrors, der ständig drohenden Gefahr durch denunziationsbereite Luftschutzwarte, durch Hitler-Jungen oder SS-Männer. Berichtet wird die Hinrichtung eines Deserteurs – er wird an einer Haltestelle vor verfolgungslüsterner Menge aufgehängt; die Erschießung sowjetischer Gefangener „auf der Flucht“, der zufällige Tod auf der Straße.
Kurz vor dem Ende steht die „Geschichte des Straßenbahnschaffners Max Eckert“ – Rein hat sie in den späten Vierzigerjahren auf Lesungen vorgetragen. Sie ist Wunschbild der Selbstbefreiung und Schreckbild zugleich. Dem Straßenbahnschaffner sind Frau und Tochter umgekommen, Polizisten fordern ihn auf, nach Hause zu gehen, grüßen „Heil Hitler!“. Da bricht in ihm etwas auf: „Rasend schnell laufen die Bilder in seinem Gehirn ab: der Verlust der beiden Söhne, das Schicksal der Schwester seiner Frau, die mit einem Juden verheiratet gewesen und der in Sachsenhausen zu Tode geprügelt worden ist, die Verhaftung und kaltblütige Vernichtung des Dompropstes Lichtenberg (denn Eckert ist ein frommer Katholik), die völliger Vermaterialisierung des Volkes , die Anrufungen Gottes durch den Mund raubgieriger Mörder, die wahnwitzige Fortsetzung eines längst verlorenen Krieges.“ Eckert stürzt sich auf die Polizisten – und wird erschossen. Die Geschichte wird durch einen Polizeibericht beglaubigt.
Da es zur Selbstbefreiung nicht kam, hoffen die Männer der Widerstandsgruppe „Berolina“ auf die Rote Armee. Aus einem Keller steigen sie ans Licht und Friedrich Wiegand, ein tapferer Gewerkschaftsmann, zwölf Jahre lang verfolgt, der Aktivste der Illegalen, steigt ans Licht, die Sowjetsoldaten zu begrüßen. In der Berliner Zeitung las sich im Februar 1947 die Szene so: „,Towarisch’ sagt er mit bewegter Stimme und streckt ihm die Hand hin. – Der russische Soldat blickt ihn ruhig an, dann verzieht er die Lippen zu einem breiten Lächeln, das die Zähne bloßlegt. ,Towarisch’ antwortet er und ergreift Wiegands Hand.“
Auch in der Fassung von 1980 begrüßt Wiegand den Befreier als Genosse, „Towarisch“, allerdings hebt er die Hände und erhält eine andere Antwort: „Der russische Soldat blickt ihn ruhig an, dann verzeiht er die Lippen zu einem verächtlichen Lächeln und antwortet: ,Nix Towarisch. Gib Uri. Dawai!“ Aber auch hier werden die überlebenden Antifaschisten mit der vorläufigen Verwaltung des Bezirks beauftragt.
Gut, dass „Finale Berlin“ zum 70. Jahrestag des Kriegsendes, der Kapitulation, der Befreiung neue Leser finden kann. Das Buch gehört in die Reihe der großen Berlin-Romane und behauptet sich dort bestens zwischen Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ und Dieter Meichsners „Die Studenten von Berlin“.
Heinz Rein: Finale Berlin. Roman. Mit einem Nachwort von Fritz J. Raddatz. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 760 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Bonzen, Mörder, Fanatisierte,
Desillusionierte, Mitläufer und
Illegale – sie alle kommen hier vor
Dieser Roman verbindet klug
Kolportage und Reportage, den
Zugriff auf die Wirklichkeit
Weil die Selbstbefreiung ausblieb,
hofft die Widerstandsgruppe
„Berolina“ auf die Rote Armee
Heinz Rein, 1906 in Berlin geboren, starb 1991 in Baden-Baden.
Foto: ullstein-bild
Jewgeni Chaldei fotografierte am 30. April 1945 sowjetische Panzer in Berlin.
Foto: soviet group / Magnum Photos
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
1946 schrieb Heinz Rein einen furiosen Roman über die letzten Tage
der Reichshauptstadt – „Finale Berlin“ ist ein großes Zeitdokument
VON JENS BISKY
Während die Rote Armee an der Oder gut zweieinhalb Millionen Soldaten für den Zangenangriff auf Berlin zusammenzog, zwängte sich in der Straße Am Schlesischen Bahnhof, die heute Am Ostbahnhof heißt, ein junger Mann durch die Tür eines Restaurants und eilte in die dunkelste Ecke: „Ein Bier!“. Seine Vorsicht macht ihn verdächtig, seine Angst kann er schlecht verbergen. Es braucht nur wenige Fragen des lebenserfahrenen, achtundfünfzigjährigen Wirtes, das Wesentliche aus dem jungen Mann herauszukitzeln. Er heißt Joachim Lassehn, war Musikstudent und hat vor wenigen Wochen im oberschlesischen Ratibor beschlossen, nicht mehr mitzumachen, hat die Knarre weggeworfen, Zivil angezogen und sich abgesetzt. Würden Feldpolizei, SS oder Gestapo den Deserteur erwischen, wäre dies sein Todesurteil. Es ist sein Glück, dass der Zufall ihn in die Kneipe des Wirtes Klose geführt hat, der einer Widerstandsgruppe angehört und den Gehetzten in seine Obhut nimmt. Joachim Lassehns Eltern kamen bei einem Bombenangriff ums Leben und was es mit seiner Frau auf sich hat, wie sie zu den Nazis steht, weiß er selber nicht. Er kennt sie kaum, hat sie während eines Fronturlaubs getroffen und gleich geheiratet. Was nun?
Mit diesem Kneipengespräch, geführt in den frühen Nachmittagsstunden des 14. April 1945, beginnt Heinz Rein die Handlung seines Romans „Finale Berlin“. An der Seite Joachim Lassehns wird der Leser Dutzende scharf gezeichneter Charaktere kennenlernen, wird um das Leben der Widerständler bangen, irritiert ihre ausführlichen moralischen Diskussionen verfolgen, wird miterleben, wie die Menschen sich in Luftschutzkellern drängeln, wie die Rote Armee unaufhaltsam näher rückt.
„Finale Berlin“ spielt in den letzten Wochen der Reichshauptstadt, vom 14. April bis zum 2. Mai 1945, doch erzählt Heinz Rein nicht nur von der Schlacht um Berlin, er entfaltet zugleich ein Panorama der nationalsozialistischen Gesellschaft. Jeder Typus hat seinen Auftritt: Bonzen, Mörder, Mitläufer, Fantasierte und Feige, Verfolgte, Illegale, Desillusionierte, Durchschnittsmenschen, ja, Leute wie du und ich. Dies ist eine Geschichte der Zerstörung Berlins, eine wütende Anklage, ein Roman, der den Leser ganz packt und ihn nicht wieder loslassen will. Es gibt dieses Buch seit achtundsechzig Jahren, es war vergessen wie sein Autor und wäre wohl noch länger eine Fußnote in wenigen germanistischen Studien geblieben, wenn nicht Fritz J. Raddatz auf eine Neuausgabe gedrängt hätte.
Als einen „Roman gegen die Vergeßlichkeit“ kündigte die Berliner Zeitung das Werk am 5. Oktober 1946 an, dessen gekürzte Fassung sie bis Februar 1947 druckte. Über den Autor teilte sie mit: „Heinz Rein, 1906 in Berlin geboren, war ursprünglich Bankbeamter, dann schriftstellerisch für Auslandszeitungen tätig, während des Krieges bei der Reichsbahn zwangsdienstverpflichtet. Er hat selbst illegal gearbeitet; sein Buch beruht durchaus auf eigener Anschauung und eigenen Erlebnissen. Gegenwärtig ist er Referent in der ,Zentralverwaltung für Volksbildung’. Beim Erich Schmidt-Verlag kommt jetzt von ihm ein Roman ,Berlin 1932’ und ein Novellenband ,Mädchen auf der Brücke’ heraus.“
Die ungekürzte Buchausgabe brachte 1947 der von der SED gegründete Dietz-Verlag heraus. Bis 1950 wurden 80 000 Exemplare gedruckt. Heinz Rein schien eine glänzende Karriere im DDR-Kulturleben bevorzustehen. 1950 aber veröffentlichte er im Henschel-Verlag ein Buch über „Die neue Literatur“, in dessen Vorwort er sich auf den mächtigen Johannes R. Becher berief, ohne ihn aber sonst weiter zu erwähnen. Becher verfasste eine kurze Erklärung, er halte Reins „Versuch eines ersten Querschnitts“ „für literarisch stümperhaft und politisch für gefährlich“. Es werde „ernsthafter Bemühungen seitens unserer Literaturkritiker bedürfen“, den Schaden wiedergutzumachen. Eifrige Journalisten rechneten dem vor kurzem noch Gefeierten ideologischen Verfehlungen und Eitelkeiten vor, der Verlag zog das Buch zurück, Rein verließ in den Fünfzigern die DDR und zog nach Baden-Baden. 1980 überarbeitete er „Finale Berlin“ für die Büchergilde Gutenberg. Diese Fassung liegt der Neuausgabe zugrunde.
Die Attacken gegen Rein waren wohl ein Kapitel im langen literaturpolitischen Streit zwischen dem Johannes-R.-Becherschen Klassizismus, dem „sozialistischen Realismus“ einschließlich seiner Verklärungsgebote auf der einen Seite und den Traditionen proletarisch-revolutionären Schreibens auf der anderen. Denen war Rein verbunden, wie auch die Widmung seines Romans „für Erich Weinert“ zeigt.
Über Reins literarische Bildung ist wenig bekannt, den langen Romantext muss er sehr rasch geschrieben haben. Manche verunglückte Formulierung blieb stehen, die erotischen Szenen – und das sind einige – ersterben in Zeitschriftenfloskeln. Fritz J. Raddatz bringt es im Nachwort auf die einleuchtende Formel: „Heinz Rein ist nicht Proust. Er ist ein Empörungs-Reporter.“ Als dieser aber, so muss man hinzufügen, ist er ein Könner. Die große Stärke des Romans liegt in der Verbindung einer mal raffinierten, mal konventionellen Spannungsdramaturgie mit dem Wirklichkeitszugriff der Reportage. Die ersten Leser waren uneins, ob damit den Forderungen der Kunst, der Verdichtung, der Form Genüge getan sei. Jahrzehnte später überzeugt gerade der Verzicht auf Glättung. Dieser Roman ist ein Schmöker, in dem man sich sofort festliest, und er ist zugleich ein bewegendes Zeitdokument, dem man entnehmen kann, was geschehen ist und wie die Überlebenden das Geschehen zu deuten versuchten. In der Gegenwartsliteratur werden zeitgeschichtliche Stoffe gern in der Form des Familienromans abgehandelt. Das erlaubt viel Innenwelt, Reflexionen, Apartes. Heinz Rein dagegen zielt mit der Verbindung von Spannungsroman und Reportage aufs Totale. Er will ein Ganzes darstellen – und das gelingt ihm.
Die Geschichte Joachim Lassehns, der lernen muss, sich nicht mit der Fluchtwelt der Musik zu begnügen, der aus dem Dagegen-Sein in ein Dafür- und Deswegen-Kämpfen finden soll, diese Geschichte der deutschen Jugend, die aus dem NS-Wahnsinn herausfindet, hätte sich auf sehr viel weniger Seiten erzählen lassen. In „Finale Berlin“ geht es aber nicht allein um knappe antifaschistische Pädagogik. Der Roman stellt Fragen, mit denen sich Historiker bis heute herumplagen. Warum sind die Deutschen den Nazis gefolgt? Warum haben sie bis zum Ende Befehle befolgt, bis zum Ende fanatisch gekämpft?
Seine Schilderungen des Berliner Alltags, des Zusammenbruchs der Versorgung, der städtischen Infrastruktur unterbricht Rein immer wieder durch Wehrmachtsberichte, Durchalteparolen, Goebbels-Zitate, Artikel aus dem Völkischen Beobachter oder dem Panzerbär , „Kampfblatt für die Verteidiger Gross-Berlins“. Er schildert Ort, Lebensläufe, Familien mit soziologisch geschultem Blick: Da gibt es die „Ethnologie einer deutschen Kleinstadt“ ebenso wie die typische Biografie eines Nazi-Funktionärs. Die filmreif gestalteten Szenen, in denen Lassehn im letzten Augenblick zur Waffe greift und schießt, um sein Leben und das anderer zu retten, verblassen beinahe vor den eindrücklichen Schilderungen des Terrors, der ständig drohenden Gefahr durch denunziationsbereite Luftschutzwarte, durch Hitler-Jungen oder SS-Männer. Berichtet wird die Hinrichtung eines Deserteurs – er wird an einer Haltestelle vor verfolgungslüsterner Menge aufgehängt; die Erschießung sowjetischer Gefangener „auf der Flucht“, der zufällige Tod auf der Straße.
Kurz vor dem Ende steht die „Geschichte des Straßenbahnschaffners Max Eckert“ – Rein hat sie in den späten Vierzigerjahren auf Lesungen vorgetragen. Sie ist Wunschbild der Selbstbefreiung und Schreckbild zugleich. Dem Straßenbahnschaffner sind Frau und Tochter umgekommen, Polizisten fordern ihn auf, nach Hause zu gehen, grüßen „Heil Hitler!“. Da bricht in ihm etwas auf: „Rasend schnell laufen die Bilder in seinem Gehirn ab: der Verlust der beiden Söhne, das Schicksal der Schwester seiner Frau, die mit einem Juden verheiratet gewesen und der in Sachsenhausen zu Tode geprügelt worden ist, die Verhaftung und kaltblütige Vernichtung des Dompropstes Lichtenberg (denn Eckert ist ein frommer Katholik), die völliger Vermaterialisierung des Volkes , die Anrufungen Gottes durch den Mund raubgieriger Mörder, die wahnwitzige Fortsetzung eines längst verlorenen Krieges.“ Eckert stürzt sich auf die Polizisten – und wird erschossen. Die Geschichte wird durch einen Polizeibericht beglaubigt.
Da es zur Selbstbefreiung nicht kam, hoffen die Männer der Widerstandsgruppe „Berolina“ auf die Rote Armee. Aus einem Keller steigen sie ans Licht und Friedrich Wiegand, ein tapferer Gewerkschaftsmann, zwölf Jahre lang verfolgt, der Aktivste der Illegalen, steigt ans Licht, die Sowjetsoldaten zu begrüßen. In der Berliner Zeitung las sich im Februar 1947 die Szene so: „,Towarisch’ sagt er mit bewegter Stimme und streckt ihm die Hand hin. – Der russische Soldat blickt ihn ruhig an, dann verzieht er die Lippen zu einem breiten Lächeln, das die Zähne bloßlegt. ,Towarisch’ antwortet er und ergreift Wiegands Hand.“
Auch in der Fassung von 1980 begrüßt Wiegand den Befreier als Genosse, „Towarisch“, allerdings hebt er die Hände und erhält eine andere Antwort: „Der russische Soldat blickt ihn ruhig an, dann verzeiht er die Lippen zu einem verächtlichen Lächeln und antwortet: ,Nix Towarisch. Gib Uri. Dawai!“ Aber auch hier werden die überlebenden Antifaschisten mit der vorläufigen Verwaltung des Bezirks beauftragt.
Gut, dass „Finale Berlin“ zum 70. Jahrestag des Kriegsendes, der Kapitulation, der Befreiung neue Leser finden kann. Das Buch gehört in die Reihe der großen Berlin-Romane und behauptet sich dort bestens zwischen Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ und Dieter Meichsners „Die Studenten von Berlin“.
Heinz Rein: Finale Berlin. Roman. Mit einem Nachwort von Fritz J. Raddatz. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 760 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Bonzen, Mörder, Fanatisierte,
Desillusionierte, Mitläufer und
Illegale – sie alle kommen hier vor
Dieser Roman verbindet klug
Kolportage und Reportage, den
Zugriff auf die Wirklichkeit
Weil die Selbstbefreiung ausblieb,
hofft die Widerstandsgruppe
„Berolina“ auf die Rote Armee
Heinz Rein, 1906 in Berlin geboren, starb 1991 in Baden-Baden.
Foto: ullstein-bild
Jewgeni Chaldei fotografierte am 30. April 1945 sowjetische Panzer in Berlin.
Foto: soviet group / Magnum Photos
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2015Empörungsreporter in der Albtraumwelt
Neben Kempowskis "Echolot" schildern wohl nur wenige Bücher so beklemmend das Kriegsende 1945: Heinz Reins wiederentdeckter Roman "Finale Berlin"
Die Expressionisten haben "stürzende Städte von Stahl" imaginiert. Heinz Rein übernimmt ihren Sprachgestus für die Beschreibung des zerbombten, zerschmetterten Berlins, und mischt ihn mit der gierigen Sachlichkeit des Reporters. Man liest gebannt: die brennende Stadt, über der Rauchwolken wie eine dunkle Wetterwand hängen, die kollabierenden Ruinen und die gewaltigen Schutthaufen, auf denen Kinder wie "Bergziegen" klettern, die gespenstische Lautlosigkeit in den zerstörten Straßen, die Stimmung in stickig-verstunkenen Luftschutzkellern, wo die Menschen in Todesangst dicht beieinanderhocken. Bei der Lektüre hat man das Pfeifen der Bomben und das Rasseln der Panzerketten in den Ohren. Es sind schauerliche Szenen, wenn die SS-Männer Häuser durchkämmen, auf der Suche nach "Feiglingen" und "Verrätern", die zur Einschüchterung an Laternenpfähle gehängt werden. Die Mord- und Vergeltungslust vor der Niederlage war notorisch und fühlte sich legitimiert durch den in Gaunersprache verfassten Hitlerbefehl, wonach jeder, der einen Rückzug anordne, "augenblicklich umzulegen" sei.
Wie Hans Falladas Weltbestseller "Jeder stirbt für sich allein" ist Heinz Reins "Finale Berlin" eine große Wiederentdeckung. Beide Romane erschienen 1947: furiose, umfangstarke, in unerhörter Schnelligkeit niedergeschriebene Antworten auf die Katastrophe. Wie Fallada schildert Rein das nationalsozialistische Deutschland als Albtraumwelt, in welcher der Terror am Ende jeden treffen kann. Eindringlich vermittelt sein Roman die Atmosphäre des allgegenwärtigen Misstrauens und der Angst: Jederzeit können Luftschutzwarte, Amtswalter und andere systemtreue Gestalten auftauchen, um "Defätisten" und "Pessimisten" zur Rechenschaft zu ziehen. Der Nationalsozialismus, der die Menschen "zu Helden und Drachentötern" zu erziehen versprach, hat eine Gesellschaft der Verschreckten und Geduckten hervorgebracht. Heinz Rein, 1906 in Berlin geboren, vor 1933 Sportreporter, wurde aufgrund seiner linken politischen Haltung im "Dritten Reich" mit einem Schreibverbot belegt und lernte selbst Gestapohaft und Zwangsarbeit kennen.
Als "auf Papier gedrehten Film" bezeichnet Fritz J. Raddatz den Roman. Ihm verdanken wir die Neuausgabe; das mit Verve geschriebene Nachwort des im Februar Verstorbenen ist einer seiner letzten Texte. Raddatz erlebte selbst als Vierzehnjähriger das "Finale" in Berlin, und er versieht Reins Beschreibungen mit dem Gütesiegel der Authentizität. Dennoch führt die Film-Metapher, die bei modernen Berlin-Romanen immer naheliegt, halb in die Irre. Zwar ist der Roman von beeindruckender Anschaulichkeit, und seine lose geknüpfte Dramaturgie bedient sich mal gekonnt, mal kolportagehaft der Effekte des Spannungskinos. Über weite Strecken aber ist "Finale Berlin" ein romanhafter Diskurs über den Nationalsozialismus, geprägt von der Dringlichkeit des ersten Nachkriegsjahrs, unmittelbar befeuert von Wut und Schrecken.
Von Kahlschlag und amerikanischer Lakonik, die kurz darauf stilbildend wurden, findet man hier noch keine Spur. Angesichts der Greuel verstummen? Keineswegs. Es ist, als würde all das Unsagbare, Verschwiegene, heimlich Gedachte in den letzten Kriegswochen die Panzerung durchbrechen. In jeder Situation führen die Figuren grundsätzliche Gespräche, über die nationalsozialistische Erziehung, die Verheißungen des Herrenmenschentums, das Elend der Mitläufer, die Möglichkeiten des Widerstands oder die lässige Sexualmoral in Kriegszeiten. Ob solche Debattenfreudigkeit angesichts der permanenten Bedrohung realistisch ist, mag dahingestellt sein, sie gibt dem Roman jedenfalls ein interessantes Aroma des politischen Bildungsromans.
Die Hauptfigur, der zweiundzwanzigjährige Deserteur Joachim Lassehn, hat nicht zufällig den Zuschnitt von Helden des deutschen Bildungsromans seit dem "Wilhelm Meister": ein junger Mann, der an seiner Zeit leidet, sich nicht einfügt in die militärische Konformität, Einzelgänger bleibt, ein Musikstudent, ein romantischer, sehnsüchtiger Geist. Seiner Truppe eher zufällig als willentlich entronnen, hat er bei der Rückkehr nach Berlin auf der Suche nach Zuflucht das Glück, unter die Fittiche einer Art antinazistischen Turmgesellschaft zu geraten. In einer Kneipe finden konspirative Treffen statt, unbeugsame Männer wie der Arzt Dr. Böttcher und der Widerstandskämpfer Wiegand werden zu Lassehns Mentoren. Und sie planen Sabotageakte, die sinnloses Weiterkämpfen verhindern sollen.
Zahlreiche Dokumente fügt Rein in den Romantext ein: Goebbels-Reden, Hitler-Verlautbarungen, Leitartikel aus dem "Völkischen Beobachter", Durchhalte-Appelle des "Panzerbären" (des "Kampfblatts für die Verteidiger Groß-Berlins"), dazu die Wehrmachtsberichte, die das Desaster bis zum letzten Tag schönreden. Manche Kapitel geraten dabei vielleicht ein wenig zu sehr zur Presseschau, aber diese Tonspur der immer grelleren Lüge ist ein wichtiges Kontrastmittel in der rhetorischen Dramaturgie des Romans.
Manches hat der "Empörungsreporter" Rein (Fritz J. Raddatz) wohl mit zu eiliger Feder geschrieben. Kamen in der Schlacht um Berlin tatsächlich noch Stukas zum Einsatz? Die Flutung des Nord-Süd-Tunnels der S-Bahn wird vom 2. Mai auf den 25. April verlegt und als apokalyptische Katastrophe beschrieben, als perfider Massenmord an den vielen Menschen, die dort Zuflucht vor den Kämpfen suchen. Aber bis heute ist umstritten, ob durch die Flutung überhaupt Menschen umkamen. Die Sprachmacht, die Rein bei solchen Beschreibungen, ob verbürgt oder nicht, jederzeit zur Verfügung steht, versagt im Übrigen bei den schwülstig geratenen Liebesszenen.
Der Roman ist nicht zuletzt die Klage über eine "verlorene, verlassene, verratene Jugend". Erziehung zur Unmenschlichkeit, gewollte Verrohung, die Verhaltenslehren der Kälte und Mitleidlosigkeit - gerade der Humanist Wiegand muss erleben, wie sich sein Sohn unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Pädagogik früh vom Elternhaus distanziert und schließlich zum SS-Überzeugungstäter wird. Die Nazi-Jugend wandte sich mit der Selbstherrlichkeit eines Epochenwendegefühls ab von der "Spießigkeit" und "Bedenkenträgerei" ihrer bürgerlichen Eltern.
Die Reize des Nationalsozialismus, für die nicht nur stupide Kleinbürger, "Lumpenproletarier" und andere Deklassierte empfänglich waren, werden aufgrund der kämpferischen antinazistischen Haltung des Romans allerdings nur am Rand erkennbar. Wie war es möglich, dass eine Mehrheit der Deutschen die Zeit nach 1933 als euphorisierende Epoche des Aufschwungs und der Dynamisierung empfand? Solche Fragen lassen sich aus der Perspektive des April 1945 nicht beantworten. Aber es dürfte, von dokumentarischen Werken wie Walter Kempowskis "Echolot" abgesehen, nur wenige Bücher geben, die so intensiv und beklemmend das Inferno des Kriegsendes vergegenwärtigen. "Finale Berlin" hat jetzt seinen festen Platz in der Geschichte der deutschen Literatur.
WOLFGANG SCHNEIDER
Heinz Rein: "Finale Berlin". Roman. Mit einem Nachwort von Fritz J. Raddatz.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 760 Seiten, geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neben Kempowskis "Echolot" schildern wohl nur wenige Bücher so beklemmend das Kriegsende 1945: Heinz Reins wiederentdeckter Roman "Finale Berlin"
Die Expressionisten haben "stürzende Städte von Stahl" imaginiert. Heinz Rein übernimmt ihren Sprachgestus für die Beschreibung des zerbombten, zerschmetterten Berlins, und mischt ihn mit der gierigen Sachlichkeit des Reporters. Man liest gebannt: die brennende Stadt, über der Rauchwolken wie eine dunkle Wetterwand hängen, die kollabierenden Ruinen und die gewaltigen Schutthaufen, auf denen Kinder wie "Bergziegen" klettern, die gespenstische Lautlosigkeit in den zerstörten Straßen, die Stimmung in stickig-verstunkenen Luftschutzkellern, wo die Menschen in Todesangst dicht beieinanderhocken. Bei der Lektüre hat man das Pfeifen der Bomben und das Rasseln der Panzerketten in den Ohren. Es sind schauerliche Szenen, wenn die SS-Männer Häuser durchkämmen, auf der Suche nach "Feiglingen" und "Verrätern", die zur Einschüchterung an Laternenpfähle gehängt werden. Die Mord- und Vergeltungslust vor der Niederlage war notorisch und fühlte sich legitimiert durch den in Gaunersprache verfassten Hitlerbefehl, wonach jeder, der einen Rückzug anordne, "augenblicklich umzulegen" sei.
Wie Hans Falladas Weltbestseller "Jeder stirbt für sich allein" ist Heinz Reins "Finale Berlin" eine große Wiederentdeckung. Beide Romane erschienen 1947: furiose, umfangstarke, in unerhörter Schnelligkeit niedergeschriebene Antworten auf die Katastrophe. Wie Fallada schildert Rein das nationalsozialistische Deutschland als Albtraumwelt, in welcher der Terror am Ende jeden treffen kann. Eindringlich vermittelt sein Roman die Atmosphäre des allgegenwärtigen Misstrauens und der Angst: Jederzeit können Luftschutzwarte, Amtswalter und andere systemtreue Gestalten auftauchen, um "Defätisten" und "Pessimisten" zur Rechenschaft zu ziehen. Der Nationalsozialismus, der die Menschen "zu Helden und Drachentötern" zu erziehen versprach, hat eine Gesellschaft der Verschreckten und Geduckten hervorgebracht. Heinz Rein, 1906 in Berlin geboren, vor 1933 Sportreporter, wurde aufgrund seiner linken politischen Haltung im "Dritten Reich" mit einem Schreibverbot belegt und lernte selbst Gestapohaft und Zwangsarbeit kennen.
Als "auf Papier gedrehten Film" bezeichnet Fritz J. Raddatz den Roman. Ihm verdanken wir die Neuausgabe; das mit Verve geschriebene Nachwort des im Februar Verstorbenen ist einer seiner letzten Texte. Raddatz erlebte selbst als Vierzehnjähriger das "Finale" in Berlin, und er versieht Reins Beschreibungen mit dem Gütesiegel der Authentizität. Dennoch führt die Film-Metapher, die bei modernen Berlin-Romanen immer naheliegt, halb in die Irre. Zwar ist der Roman von beeindruckender Anschaulichkeit, und seine lose geknüpfte Dramaturgie bedient sich mal gekonnt, mal kolportagehaft der Effekte des Spannungskinos. Über weite Strecken aber ist "Finale Berlin" ein romanhafter Diskurs über den Nationalsozialismus, geprägt von der Dringlichkeit des ersten Nachkriegsjahrs, unmittelbar befeuert von Wut und Schrecken.
Von Kahlschlag und amerikanischer Lakonik, die kurz darauf stilbildend wurden, findet man hier noch keine Spur. Angesichts der Greuel verstummen? Keineswegs. Es ist, als würde all das Unsagbare, Verschwiegene, heimlich Gedachte in den letzten Kriegswochen die Panzerung durchbrechen. In jeder Situation führen die Figuren grundsätzliche Gespräche, über die nationalsozialistische Erziehung, die Verheißungen des Herrenmenschentums, das Elend der Mitläufer, die Möglichkeiten des Widerstands oder die lässige Sexualmoral in Kriegszeiten. Ob solche Debattenfreudigkeit angesichts der permanenten Bedrohung realistisch ist, mag dahingestellt sein, sie gibt dem Roman jedenfalls ein interessantes Aroma des politischen Bildungsromans.
Die Hauptfigur, der zweiundzwanzigjährige Deserteur Joachim Lassehn, hat nicht zufällig den Zuschnitt von Helden des deutschen Bildungsromans seit dem "Wilhelm Meister": ein junger Mann, der an seiner Zeit leidet, sich nicht einfügt in die militärische Konformität, Einzelgänger bleibt, ein Musikstudent, ein romantischer, sehnsüchtiger Geist. Seiner Truppe eher zufällig als willentlich entronnen, hat er bei der Rückkehr nach Berlin auf der Suche nach Zuflucht das Glück, unter die Fittiche einer Art antinazistischen Turmgesellschaft zu geraten. In einer Kneipe finden konspirative Treffen statt, unbeugsame Männer wie der Arzt Dr. Böttcher und der Widerstandskämpfer Wiegand werden zu Lassehns Mentoren. Und sie planen Sabotageakte, die sinnloses Weiterkämpfen verhindern sollen.
Zahlreiche Dokumente fügt Rein in den Romantext ein: Goebbels-Reden, Hitler-Verlautbarungen, Leitartikel aus dem "Völkischen Beobachter", Durchhalte-Appelle des "Panzerbären" (des "Kampfblatts für die Verteidiger Groß-Berlins"), dazu die Wehrmachtsberichte, die das Desaster bis zum letzten Tag schönreden. Manche Kapitel geraten dabei vielleicht ein wenig zu sehr zur Presseschau, aber diese Tonspur der immer grelleren Lüge ist ein wichtiges Kontrastmittel in der rhetorischen Dramaturgie des Romans.
Manches hat der "Empörungsreporter" Rein (Fritz J. Raddatz) wohl mit zu eiliger Feder geschrieben. Kamen in der Schlacht um Berlin tatsächlich noch Stukas zum Einsatz? Die Flutung des Nord-Süd-Tunnels der S-Bahn wird vom 2. Mai auf den 25. April verlegt und als apokalyptische Katastrophe beschrieben, als perfider Massenmord an den vielen Menschen, die dort Zuflucht vor den Kämpfen suchen. Aber bis heute ist umstritten, ob durch die Flutung überhaupt Menschen umkamen. Die Sprachmacht, die Rein bei solchen Beschreibungen, ob verbürgt oder nicht, jederzeit zur Verfügung steht, versagt im Übrigen bei den schwülstig geratenen Liebesszenen.
Der Roman ist nicht zuletzt die Klage über eine "verlorene, verlassene, verratene Jugend". Erziehung zur Unmenschlichkeit, gewollte Verrohung, die Verhaltenslehren der Kälte und Mitleidlosigkeit - gerade der Humanist Wiegand muss erleben, wie sich sein Sohn unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Pädagogik früh vom Elternhaus distanziert und schließlich zum SS-Überzeugungstäter wird. Die Nazi-Jugend wandte sich mit der Selbstherrlichkeit eines Epochenwendegefühls ab von der "Spießigkeit" und "Bedenkenträgerei" ihrer bürgerlichen Eltern.
Die Reize des Nationalsozialismus, für die nicht nur stupide Kleinbürger, "Lumpenproletarier" und andere Deklassierte empfänglich waren, werden aufgrund der kämpferischen antinazistischen Haltung des Romans allerdings nur am Rand erkennbar. Wie war es möglich, dass eine Mehrheit der Deutschen die Zeit nach 1933 als euphorisierende Epoche des Aufschwungs und der Dynamisierung empfand? Solche Fragen lassen sich aus der Perspektive des April 1945 nicht beantworten. Aber es dürfte, von dokumentarischen Werken wie Walter Kempowskis "Echolot" abgesehen, nur wenige Bücher geben, die so intensiv und beklemmend das Inferno des Kriegsendes vergegenwärtigen. "Finale Berlin" hat jetzt seinen festen Platz in der Geschichte der deutschen Literatur.
WOLFGANG SCHNEIDER
Heinz Rein: "Finale Berlin". Roman. Mit einem Nachwort von Fritz J. Raddatz.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 760 Seiten, geb., 24,95 [Euro].
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»Eine großartige Wiederentdeckung im richtigen Moment.« Sigrid Löffler, Deutschlandradio Kultur »Dieser Roman ist ein Schmöker, in dem man sich sofort festliest, und er ist zugleich ein bewegendes Zeitdokument, dem man entnehmen kann, was geschehen ist (...).« Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung »Wie Hans Falladas Weltbestseller Jeder stirbt für sich allein ist Heinz Reins Finale Berlin eine große Wiederentdeckung.« Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung »Heinz Reins Roman Finale Berlin ist ein epochales Dokument und eine zwingende Wiederentdeckung (...) Als echter Poltithriller und 'Page-Turner' entfaltet er einen ungeheuren Sog (...).« Katrin Hillgruber, Frankfurter Rundschau »Gerade das seltsam Ungestalte an seinem Buch, das ohne Rücksicht auf Dramaturgie Erzählung, Dokument und Debatte nebeneinanderstellt, vermittelt einen nachhaltigen Eindruck (...).« Katharina Döbler, RBB Kulturradio »Ein packender Reportageroman im authentischen Ton des Zeitzeugen, der die Augen nicht verschließen will. (...) Das Buch fesselt als wutschnaubendes Bekenntnis eines Antifaschisten (...).« Sven Ahnert, ORF Ö1, Ex Libris »Ein sehr wertvolles Stück Aufklärung mit fast dokumentarischem Charakter. (...) Eine wichtige Wiederentdeckung.« Ruth Fühner, BR2, Diwan »Aus dieser Zeit gibt es, so minutiös, (...) eben nicht so viel (...). Es hatten wenige die Geistesgegenwart wie Heinz Rein, auch mitzuschreiben.« Ursula März, SWR2, Forum Buch »Dieses Buch ist eine Neuentdeckung. Und ein Ereignis. Ein Buch, dessen Story noch qualmt. Dessen Stoff noch Gegenwart ist.« Mitteldeutsche Zeitung »Ein Buch voller Risse und Schründe wie die Zeit, (...) roh, direkt und atemlos (...). Ein großes Buch, das zu Recht der Vergessenheit entrissen worden ist.« Claus-Ulrich Bielefeld, Die literarische Welt »Man muss dieses zwischen Dokument und Kolportage changierende Buch lesen, um die ganze Wucht und Grausamkeit jener Wochen zu begreifen." Christian Schröder, Der Tagesspiegel »Einer der ersten Bestseller im Nachkriegsdeutschland« Rote Fahne »Reins Erzählstil ist temporeich, oft gleichsam atemlos, von einer bildkräftigen, nichts beschönigenden Sprachgewalt, die in ihrer apokalyptischen Drastik dem Expressionismus verpflichtet ist.« Susanne Mittag, Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte