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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Sechs Studenten, zwei Geländewagen und ein Ziel
Ein Buch über weiße Männer, die in den Fünfzigerjahren recht blauäugig und privilegiert in die Welt hinausbrettern – kein idealer Stoff momentan, könnte man sagen. Zumal wenn schon auf Seite eins des Vorworts von Sir David Attenborough steht: „Einmal hat es jemand besonders treffend formuliert und erklärt, der einzige gute Grund dafür, dieses Buch seinem Sohn oder Mann nicht zum Geburtstag zu schenken, sei der, ‚dass sich dieser dann zu Weihnachten höchstwahrscheinlich einen Land Rover wünscht‘.“ Eine benzinmuffelnde (Alt-)Herrengeschichte also? Schnell zurück ins Regal stellen?
Wäre schade drum. Denn was eher als Schnapsidee in einem Studentenzimmer der Uni Cambridge begann, wurde zu einer historisch einmaligen Reise von London nach Singapur, sechs Monate und 30 000 Kilometer lang (und wieder zurück), mit Begegnungen und Beobachtungen aus 21 Ländern. Auf Englisch ist der Erfahrungsbericht des Teilnehmers Tim Slessor seit dem Erscheinen vor 65 Jahren im Handel geblieben, nun gibt es erstmals eine deutsche Übersetzung.
Es ist ein Buch über einen besonderen Roadtrip, über das Willkommensein bei Fremden, den Übermut in der Gesellschaft von Freunden, über Tetris-artiges Packen, Schlafen im Auto, eisige Kälte und sengende Hitze, über die Spuren untergegangener Kulturen und das Staunen angesichts so vieler verschiedener Arten zu leben im 20. Jahrhundert.
Und es ist eine Abenteuergeschichte, die für ihre Zeit durchaus progressive Sichtweisen enthält. Wie etwa, wenn der Autor deutlich macht, was er vom Chauvinismus vieler Auslandsbriten hält, die an allen möglichen Orten der Reise ihre schlechtesten Seiten zeigen: „Sie haben bereits in der Vergangenheit in vielerlei Hinsicht ein nicht wiedergutzumachendes Leid verursacht und werden es auch weiterhin tun. (...) Wäre ich ein Ausländer, (...) manchmal würde ich die Briten sogar abgrundtief hassen.“ Viel freies Denken für eine Zeit, in der ein Kolonialreich für viele Landsleute Slessors noch eine wünschenswerte Selbstverständlichkeit war.
Und zugleich erzählt Slessor seine Geschichte mit viel Humor. „Wir fuhren los, einfach weil wir – wenn ich diese Floskel bemühen darf – Lust darauf hatten“, heißt es im Vorwort vom Mai 1957. Man könnte die Gruppe als Opas der Influencer sehen, wenn man erfährt, wie sie ihren Trip organisierten, indem sie sich die Wagen von Land Rover, Ausrüstung von allen möglichen anderen Firmen und die Filmrollen von der BBC zur Verfügung stellen ließen – und dieser mit größtem Selbstbewusstsein einige „richtig gute Sendungen“ ankündigten.
Entsprechend waren die Abenteurer gar enttäuscht, wenn spektakuläre Etappen pannenarm bewältigt waren: „Leute, das wird sich in unserem Buch nicht besonders gut machen.“ Der Plan, möglichst oft in die Medien zu kommen, führte schon bei der Station in Paris zu einer Aktion für einen örtlichen TV-Sender, die der Gruppe „ein wenig peinlich“ war: Vor einem Palais „forderte uns der Kameramann auf, Gaskocher und Feldgeschirr auszupacken und le thé zu kochen. Ganz offensichtlich war der Anblick von sechs Engländern, die sich mitten auf diesem Pariser Trafalgar Square einen Earl Grey aufgossen, exakt das, was französische Fernsehzuschauer erwarteten, wenn sie sich vraiement les Anglais vorstellten.“
Je weiter die sechs Studenten sich bei ihrem Rekordversuch der Überlandfahrt von Europa entfernen, umso mehr finden sie aber zu ihrer eigenen Art des Reisens – werden Meister im improvisierten Kochen, schicken Telegramme im Rugby-Jargon nach Hause oder rudern auch mal für zehn Minuten in die Volksrepublik China rüber – zum Zigarettenholen.
Wenn die Studenten nach mühsamen Fahrten durch Berge, Wüsten oder Dschungel in einer Stadt Station machen, stehen unzählige Briefe, Telegramme, Behördengänge an, die Gruppe stürzt sich auf die Infrastruktur wie Reisende heute auf stabiles Wlan. Und so überholt auch viele bürokratische Hürden oder technische Passagen sein mögen, so zeitlos sind etwa die Erfahrungen von Faszination und Erschöpfung unterwegs.
Schließlich gelingt der Expedition die triumphale Einfahrt nach Singapur samt Blitzlichtgewitter und Champagner zur Begrüßung. Es sind die neugierige Perspektive und der fröhlich-selbstironische Ton, dank derer das Buch angenehm zu lesen bleibt, zumindest sofern man sich ein wenig für die Fünfzigerjahre interessiert. Und die gute Laune hat den Autor offenbar bis heute nicht im Stich gelassen: Tim Slessor, so erfährt man im Vorwort, absolvierte nach der Expedition eine jahrzehntelange Karriere als Dokumentarfilmer und Sachbuchautor und genießt seinen Lebensabend inzwischen fit und munter beim Segeln in der Biskaya oder bei den Hebriden. Kleine Ausflüge wohl, vor diesem Hintergrund.
IRENE HELMES
Tim Slessor: First Overland. Als Erste im Land Rover 18.000 Meilen von London nach Singapur. Aus dem Englischen von Ulrike Frey und Monika Keipert. Malik Verlag, München 2023.
384 Seiten, 26 Euro.
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