Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Enrico Brissa will die Nationalflagge nicht der Rechten überlassen und plädiert für mehr patriotisches Gefühl
Von Thomas Holl
Kaum jemand würde in Frankreich die blau-weiß-rote Trikolore als Symbol eines verhassten Staates schmähen oder sie nur verschämt zeigen - aus Angst, womöglich die Gefühle europäischer Nachbarn mit einem vermeintlich aufdringlich zur Schau getragenen Nationalstolz zu verletzen. In unzähligen Gärten amerikanischer Vorstädte weht das Sternenbanner als Zeichen patriotischer Normalität. Die Flaggen waren in beiden Revolutionen, 1776 und 1789, auch emotional besetzte Symbole werdender Nationen und Republiken mit dem unwiderstehlichen Willen zur Freiheit von autoritärer monarchischer Herrschaft.
Mit welch negativen Emotionen und ablehnenden Gefühlen hingegen der schwarz-rot-goldenen Nationalflagge auch 72 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland gerade von Linken begegnet wird, hat der Protokollchef des Deutschen Bundestags, Enrico Brissa, selbst erlebt. Eine persönliche Erfahrung mit Aha-Effekt, die nun zu einem Buch geführt hat. Geboten wird eine Mischung aus politischer Reportage, leidenschaftlichem Plädoyer und wechselhafter deutscher Demokratiegeschichte. Mitunter ist es gar eine Art Liebeserklärung an den deutschen Staat und seine Verfassung.
Der 1971 in Heidelberg geborene Sohn eines Italieners und einer Deutschen war, wie er im Vorwort beschreibt, entsetzt über die "verstörenden Bilder" der ausländerfeindlichen und antisemitischen Ausschreitungen von Chemnitz im Spätsommer 2018. Und was den promovierten Juristen noch mehr verstörte: "Und stets wurden dabei schwarz-rot-goldene Flaggen geschwenkt. Wie konnte es sein, dass sich viele Tausend Menschen im Zeichen unserer Bundesflagge solchen gewalttätigen Aufzügen anschlossen, in denen gegen Ausländer gehetzt und Banner mit der Aufschrift "Wir sind BUNT bis das Blut spritzt" hochgehalten wurden - begleitet von Hitler-Grüßen?" Diese Bilder hätten ihn bis in den Schlaf verfolgt, ähnlich erging es seiner Frau, Freunden und Kollegen. So entstand bei einem "politischen Küchenabend" die Idee, bei der großen #unteilbar-Demonstration gegen rechts "Flagge zu zeigen", als "Zeichen der Gemeinsamkeit und als Mittel der politischen Aufklärung". Denn bei dem "Wir sind mehr"-Konzert in Chemnitz als Antwort auf die rechtsextremen Ausschreitungen, so fiel es einem Freund Brissas auf, sei keine einzige schwarz-rot-goldene Flagge zu sehen gewesen. Am 13. Oktober nahmen er, seine Familie und Freunde mit Deutschland- und Europaflaggen an der großen #unteilbar-Kundgebung in Berlin teil. Doch das Demonstrieren mit Deutschland- und Europaflaggen gerät für Brissas Grüppchen zum Spießrutenlauf, indem sie "hemmungslosen Hass erlebten und als "Nazis beleidigt" wurden. Aber auch die vielen positiven Reaktionen und unwissenden Nachfragen anderer Demonstranten machten Brissa "erschreckend klar, wie lang der Weg sein würde, bis wir Deutschen ein annähernd normales Verhältnis zu unseren Staatssymbolen entwickeln würden".
Mit seinem Buch will der ehemalige Protokollchef der Bundespräsidenten Wulff und Gauck den Weg zumindest etwas abkürzen. Neben der Bundesflagge als Symbol für Staat und Nation beschäftigt sich Brissa auch mit dem Bundesadler und der Nationalhymne als jenen Staatssymbolen, "von denen die unmittelbarste und größte Kraft ausgeht". Brissa erinnert auch daran, dass der Kampf um die Deutungshoheit der Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold schon mit der eskalierenden Flüchtlingskrise im Herbst 2014 begann. Während bei klassisch rechtsextremen Kundgebungen, Gewaltexzessen und Aufmärschen über Jahrzehnte die kaiserliche Flagge Schwarz-Weiß-Rot und die Reichskriegsflagge geschwenkt wurde, begann vor mehr als sechs Jahren die "schleichende Umdeutung" eines vom Nationalsozialismus unbelasteten Staatssymbols zu einem bei rechten Demonstrationen wie von "Pegida" in Dresden genutzten Symbol. Eine Umdeutung und Usurpation "durch extremistische Kräfte", die Brissa auch durch sein Buch verhindern will. Eine "Patriotismusdebatte" müsse in "allen Teilen der Gesellschaft" geführt werden, die sich darüber im Klaren sein müsse, wie wichtig Symbole dabei seien, fordert Brissa.
Die nach dem Ende des NS-Regimes 1945 und seines in Massenaufmärschen zelebrierten Führerkults der Hakenkreuzfahne weitverbreitete Abwehrhaltung in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber jeglicher offensiver Beflaggung mit Schwarz-Rot-Gold und Bundesadler zeichnet Brissa schlüssig nach.
Um sein Anliegen auch in der Praxis umzusetzen, empfiehlt Brissa, jede Gelegenheit zu nutzen, die besondere integrative Bedeutung der Staatssymbole "für unsere nationale Identität zu unterstreichen". Und dazu sollte es in deutschen Haushalten "ruhig mehr Bundesflaggen" zum Hissen geben. Da ist Amerika schon seit Jahrzehnten weiter - aber auch weitaus gespaltener als Deutschland.
Enrico Brissa: Flagge zeigen! Warum wir gerade jetzt Schwarz-Rot-Gold brauchen.
Siedler, München 2021 287 S., 20,-[Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH