Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.19971805
Jean Paul "Flegeljahre"
Als "deutsch" hat er selber in seinen gleichzeitig entstandenen ästhetischen Überlegungen jene alle Genres mischende, zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Stil vermittelnde Schreibart genannt, in der er, gleich nach dem "Titan", die "Flegeljahre" dann abfaßte, diesen wunderbarsten aller deutschen Romane; drei Bändchen waren im Vorjahr erschienen, jetzt kam ein viertes, mit einem Schluß, der keiner ist - alles, was er mache, sei nur ein einziger Roman, hat Jean Paul gesagt - alles also soll eigentlich weitergehn, und nichts ist im Grund gelöst, wenn Vult dem poetischen Bruder Walt die schöne Wina erworben hat und Walt, auch wenn ihn gerade noch die falsche geküßt hat, dann so herrlich träumt, bis hin zur Unermeßlichkeit, unendlichen Hügeln und einem sanften Morgenlicht; "künstlich-fügend" nennt er selber, was er da träumt. Er hat aber, noch bevor ihn die falsche geküßt hatte, auch viel getrunken, und der große Jean-Paul-Kenner und Herausgeber Eduard Behrend schreibt sehr hübsch, den Vorarbeiten zu diesem Traumschluß, mit dem Jean Paul den Leser wohl ein bißchen damit habe versöhnen wollen, daß das Ganze fürs erste nicht weitergehe, diesen Vorarbeiten merke man an, "daß dabei der Dichter ebenso wie der träumende Walt unter der Wirkung vorher genossenen Weines stand". Schön und brav, wie Jean Paul sich da opfert für seine Figuren, den geliebten Walt, den spöttisch-sorgenden Vult, die gute Wina, die Vult für Walt nimmt, oder auch Walt für Vult, und Jakobine, die alle küßt, die ihr zu nahe kommen; nun wüßte man gern, ob der "Dichter" wie Behrend ihn nennt, nach den trunkenen Vorarbeiten dann auch beim schließlichen Schreiben noch einmal zum Weine griff; oder ob er da nur noch das schon vorweg Geschriebene brauchte, um künstlich zu fügen, was davor der Rausch dem beinahe Selbstvergessenen gebracht hatte; etwa wie einer bloß die Lippen seiner trunkenen Freundin küssen kann, um den Wein zu genießen, den er selbst nun nicht mehr trinken muß. Vult, als Walt ihm dann den Traum erzählt hat, geht, Vult weiß nicht, daß Vult wirklich geht, und denkt, nun sei alles gut. Und da Jean Paul das nicht weitererzählt hat, bleiben auch wir nun ewig da stehn. (Jean Paul: "Flegeljahre. Eine Biographie." Insel Verlag, Frankfurt am Main 1986. 594 S., br., 24,80 DM; auch bei Reclam, für 24,- DM.) R.V.
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Jean Paul "Flegeljahre"
Als "deutsch" hat er selber in seinen gleichzeitig entstandenen ästhetischen Überlegungen jene alle Genres mischende, zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Stil vermittelnde Schreibart genannt, in der er, gleich nach dem "Titan", die "Flegeljahre" dann abfaßte, diesen wunderbarsten aller deutschen Romane; drei Bändchen waren im Vorjahr erschienen, jetzt kam ein viertes, mit einem Schluß, der keiner ist - alles, was er mache, sei nur ein einziger Roman, hat Jean Paul gesagt - alles also soll eigentlich weitergehn, und nichts ist im Grund gelöst, wenn Vult dem poetischen Bruder Walt die schöne Wina erworben hat und Walt, auch wenn ihn gerade noch die falsche geküßt hat, dann so herrlich träumt, bis hin zur Unermeßlichkeit, unendlichen Hügeln und einem sanften Morgenlicht; "künstlich-fügend" nennt er selber, was er da träumt. Er hat aber, noch bevor ihn die falsche geküßt hatte, auch viel getrunken, und der große Jean-Paul-Kenner und Herausgeber Eduard Behrend schreibt sehr hübsch, den Vorarbeiten zu diesem Traumschluß, mit dem Jean Paul den Leser wohl ein bißchen damit habe versöhnen wollen, daß das Ganze fürs erste nicht weitergehe, diesen Vorarbeiten merke man an, "daß dabei der Dichter ebenso wie der träumende Walt unter der Wirkung vorher genossenen Weines stand". Schön und brav, wie Jean Paul sich da opfert für seine Figuren, den geliebten Walt, den spöttisch-sorgenden Vult, die gute Wina, die Vult für Walt nimmt, oder auch Walt für Vult, und Jakobine, die alle küßt, die ihr zu nahe kommen; nun wüßte man gern, ob der "Dichter" wie Behrend ihn nennt, nach den trunkenen Vorarbeiten dann auch beim schließlichen Schreiben noch einmal zum Weine griff; oder ob er da nur noch das schon vorweg Geschriebene brauchte, um künstlich zu fügen, was davor der Rausch dem beinahe Selbstvergessenen gebracht hatte; etwa wie einer bloß die Lippen seiner trunkenen Freundin küssen kann, um den Wein zu genießen, den er selbst nun nicht mehr trinken muß. Vult, als Walt ihm dann den Traum erzählt hat, geht, Vult weiß nicht, daß Vult wirklich geht, und denkt, nun sei alles gut. Und da Jean Paul das nicht weitererzählt hat, bleiben auch wir nun ewig da stehn. (Jean Paul: "Flegeljahre. Eine Biographie." Insel Verlag, Frankfurt am Main 1986. 594 S., br., 24,80 DM; auch bei Reclam, für 24,- DM.) R.V.
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