Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Kulinarische Lebensformen: Mark-Stefan Tietze sieht sich in der verheißungsvollen Welt der Veganer um, während Ulrike Weiler gute Tipps parat hat für einen richtigen Konsum von Fleisch.
Fast scheint es, als stünden beim Essen und Trinken nicht mehr Delikatesse und Raffinesse, sondern Aspekte der Gesundheit, des Tier- und Klimaschutzes im Brennpunkt. Da ist der Frutarier, der weder Tieren noch Pflanzen etwas zuleide tun möchte und nur Früchte, Nüsse und Samen verzehrt, die von selbst vom Baum fallen. Nicht ganz so streng ist der Veganer. Er hat weniger das Wohl der Pflanzen im Blick, sondern mehr das Leben der Tiere. Es kommt für ihn nicht in Frage, Tiere zu töten und ihr Fleisch zu verzehren. Auch Produkte von lebenden Tieren, die sich beispielsweise ein Vegetarier noch erlaubt, wie Milch, Käse, Joghurt, Butter, Eier, Honig, werden vermieden, weil auch dafür Tiere leiden müssten. Schließlich geht der Veganer davon aus, dass durch den Verzicht auf Massentierhaltung die Klimaerwärmung gedrosselt werden kann, weil dann weniger Gase freigesetzt werden. Zudem scheint eine rein pflanzliche Kost der menschlichen Gesundheit gutzutun.
Mark-Stefan Tietze nahm sich vor, wenigstens hundert Tage vegan zu leben, und verfasste darüber einen Bericht. Der Buchumschlag hebt hervor, dass der Autor lange Zeit Redakteur der Satire-Zeitschrift "Titanic" war, also gelernter Satiriker ist. Doch von Häme will Tietze in diesem Fall nichts wissen. Es ist ihm ernst damit, den Veganismus kennenzulernen. An Stellen, wo das Buch dennoch satirisch anmutet, weiß der Leser nie so recht, ob das nun freiwillig oder unfreiwillig so ist. Tietze schlägt eingangs einen hohen Ton an, der nichts weniger als eine weltgeschichtliche Veränderung ankündigt. Im kleinen Stadtteil Bornheim, wo er in Frankfurt am Main wohnt, erscheinen ihm junge Leute wie "Abgesandte einer neuen Lebensform", was mit den dortigen veganen Supermärkten und Restaurants zusammenhängt
Die veganen Leute, zumal die jungen weiblichen, verfügen für den Autor über eine regelrecht messianische Ausstrahlung: "Vitalität, Konzentration, Gesundheit, Zukunftszugewandtheit, Glück". Der bibelfeste Leser mag sich an die Beschreibung der christlichen Urgemeinde in Jerusalem erinnert fühlen. Tatsächlich verspürt der Autor so etwas wie "mysteriöse Erregung". Er mischt sich unter die Schönen von Bornheim und wird Veganer.
Zuvor scheint er sich mit gesunder Ernährung kaum beschäftigt zu haben. Im veganen Supermarkt greift er zu Fleischersatz: industriell verarbeiteten Tofu in Form von Würsten und Steaks. Tietze ist so frei, alte Freunde und Bekannte darüber spotten zu lassen. Er ist selbst nicht mit allem zufrieden und referiert die Verpackungsaufschrift eines Mortadella-Imitats: "Hauptzutat ist nämlich Wasser, gefolgt von 12,5 Prozent isoliertem Sojaprotein, Rapsöl, Gluten, modifizierter Maisstärke, Geliermittel Carragee." Tietze erspart es dem Leser nicht, immer wieder mit ihm in vegane Supermärkte zu gehen, die ihrerseits immer wieder neue Varianten industriell hergestellter Veggie-Burger, Brotaufstriche und Tiefkühlpizzen mit Käseersatz anbieten.
Zweifellos kann vegane Küche exzellent schmecken und gesund sein, aber dann sollte sie mit frischen Zutaten kochen: mit Kräutern, Gemüsen, Nüssen, alten Getreidesorten und so fort. Tietze schwant, dass das vegane Heldentum eigentlich damit beginnt, selbst zu kochen, wozu er im letzten Teil des Buches übergeht. Zuletzt allerdings bricht er sein veganes Leben wieder ab.
Ulrike Weiler, Dozentin am Institut für Nutztierwissenschaften an der Uni Hohenheim, denkt auf ganz andere Weise über das Essen und unsere kulinarischen Gewohnheiten nach. Sie erkundet zuerst einmal die evolutionäre Entwicklung des Menschen, die ihn für die Mischkost prädestiniere: für den Verzehr von Pflanzen und Fleisch. Sie versagt es sich, den Fleischverzehr zu verdammen.
Gleichzeitig redet sie aber auch nicht der industriellen Nutztierhaltung das Wort. Auch sie sieht die Auswüchse und das Leid vieler Tiere. Ihr Ziel ist es, eine neue Kultur der Haustierhaltung und des Fleischverzehrs zu entwickeln. Entscheidend ist für sie nicht die Größe des Stalls, sondern wie er eingerichtet ist. Auch große Stallanlagen können, wenn man will, den Tieren artgerechte Bedingungen bieten: genügend Platz und Stroh, Kontakt zu Artgenossen, gutes Futter, Auslauf ins Freie.
Die Losung der Autorin heißt: weniger Fleisch verzehren, dafür aber ausgezeichnetes. Der Leser wird mit Kriterien vertraut gemacht, die für gutes Fleisch bürgen: eben artgerechte Tierhaltung und Fütterung, ältere Rassen, die noch nicht überzüchtet sind und einen gewissen Grad an Fett haben, sprich, marmoriertes Fleisch mit intramuskulären Fettsträhnen, in denen sich die Aromen befinden; ferner das richtige Geschlecht, weibliche Tiere oder kastrierte männliche, schonende Kastrierung; schließlich kurze, stressfreie Wege der Tiere zum Schlachthof, schonende Tötung, anschließend eine angemessene Reifung des Fleisches, am besten trocken am Knochen.
So könnte es gehen. Die kulinarische Leitfigur wäre nicht der Veganer oder Vegetarier, sondern der Flexitarier, der sich vorwiegend pflanzlich ernährt, aber gelegentlich auch Fisch und Fleisch genießt und sich bei diesen Sachen auskennt - ein Connaisseur. Die Prinzipien wären nicht schlichtes Neinsagen und Aussteigen, sondern Gestalten und Entwickeln, Abwägen und Auswählen. Das Buch von Ulrike Weiler gibt dazu ein paar wertvolle Tipps und Anregungen.
ERWIN SEITZ
Mark-Stefan Tietze: "Allein unter Veganern". Expedition in eine neue Welt.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2016. 240 S., geb., 16,99 [Euro].
Ulrike Weiler: "Fleisch essen?" Eine Aufklärung.
Westend Verlag, Frankfurt am Main 2016. 272 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH