Daß das Wesen der Liebe darin besteht, daß sie sich nicht beenden läßt, das belegt Jean-Philippe Toussaint in seinem neuesten Roman auf erneut unverwechselbar wunderbare Weise. Marie und der namenlose Erzähler, den Lesern aus Toussaints erfolgreichem letzten Roman "Sich lieben" bekannt, können ihre Beziehung nicht beenden. Er reist nach Shanghai, wo er einem Mitarbeiter von Marie Geld überbringen soll, eine große Summe Bargeld für krumme Geschäfte. Durch Zhang Xiangzhi lernt er die hübsche Chinesin Li Qi kennen, die ihm anbietet, mit ihr ein paar Tage in Peking zu verbringen. Unser Held wittert eine Liebesgeschichte, und bereits im Nachtzug nach Peking kommt es zu einer erotischen Begegnung. Doch die beiden werden unterbrochen durch das Klingeln seines Handys: Es ist Marie - ihr Vater ist auf Elba gestorben. Sie wird umgehend nach Elba aufbrechen, er soll folgen. In Peking angekommen, bucht er seinen Rückflug. Bis zum Abflug ist noch Zeit für einen touristischen Ausflug und eine Bowlingpartie. Urplötzlich müssen sie fliehen: Die Polizei Pekings ist hinter ihnen her. Es kommt zu einer wilden Verfolgungsjagd quer durch die Stadt. Die Flucht gelingt: Noch in Bowlingschuhen und völlig abgerissen erreicht der Erzähler am Ende Elba, sucht und findet Marie, die ihren Vater zu Grabe trägt. Aber auch hier wird er fliehen. "Was will man Größeres, was will man mehr von der Literatur verlangen!", so begrüßte LE MONDE den neuen meisterhaften Roman Jean-Philippe Toussaints. Fliehen ist spannungsgeladen, authentisch und voll und ganz ein Kunstwerk mit Sprachbildern von unglaublicher Intensität. Mit diesem Roman bestätigt der 1957 geborene Jean-Philippe Toussaint seinen Ruf als einer der wichtigsten und originellsten Schriftsteller seiner Generation.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.03.2007Wenn Elba zweimal klingelt
Jean-Philippe Toussaint und sein Handy-Roman „Fliehen”
Gerade noch hat der namenlose Erzähler in Jean-Philippe Toussaints Roman „Fliehen” an Marie gedacht – „Hört das denn nie auf?”, diese Geschichte mit ihr –, da lernt er bei seinem halb geschäftlichen, halb vergnügungsorientierten Aufenthalt in Shanghai Li Qi kennen. Eine Frau ohne erkennbaren Beruf, die ebenfalls bei einer Vernissage herumsteht. Die beiden verlieben sich ineinander. Sie bittet ihn, sie für ein paar Tage nach Peking zu begleiten, wo sie zu tun hat. Er nimmt das Angebot an. Doch aus dem geplanten Flitter nach Feierabend wird nichts. Als die beiden sich in der Zugtoilette gerade hastig ein erstes Mal näher kennen lernen, klingelt das Handy des Erzählers. Er muss unbedingt hin. Marie ist dran. Sie ist in Paris, ihr Vater ist vor Elba, wo er seit langem lebte, ertrunken.
Das Telefon hat, glaubt man Franz Kafka, seit seinen Anfängen eine gespenstische Wirkung. Weil es nur vorgibt, die Menschen einander näher zu bringen, entfernt es sie voneinander. Und die neuere Literatur entdeckt, dass sich mit der Veränderung der Telefone auch andere Beziehungen zwischen den Menschen ergeben. Mindestens zweimal gerät in diesem Frühjahr das Handy in den Blick, vor kurzem bei Ingo Schulze, jetzt bei Toussaint, dessen „Fliehen” in Frankreich 2005 erschien.
Toussaint hat mit seinem Klassiker „Monsieur” eine der wichtigsten Identifikationsfiguren der achtziger Jahre geschaffen. Der Mann, der immer lässig mit der Hand der Wand entlang fährt, während er durchs Firmengebäude geht, gehörte zu den Gewinnern von damals. Doch zugleich war er, sich dessen nur halb bewusst, ein gut funktionierender Automat, der seine Gefühle kaschierte, immer bemüht, sich anzupassen. Zwei Jahrzehnte später hat dieser Mann die Hand von der Wand genommen, reist in der Welt herum und benimmt sich vergleichsweise enthemmt. Doch die Hand hält jetzt ein Handy, das den Mann von neuem zum Automaten macht. Es fungiert als lange Leine, die ihn nie in Ruhe, nie wegkommen lässt.
Dennoch geht es in „Fliehen”, dem Titel entsprechend, atemlos zu. Das hat mit der Hetze zu tun, die nach dem Handy-Anruf entsteht. Sofort beschließt der Erzähler, Marie nicht allein zu lassen, zur Beerdigung nach Elba zu fahren. Interessant wird das aber nicht durch die Turbulenz, sondern durch den Stil, in dem Toussaint davon erzählt. Noch immer liebt er Beschreibungen von Dingen, die den Eindruck statischer Verhältnisse erwecken. Doch weil die Beschreibungen hier zunehmend Beschreibungen von Bewegungen sind und in kommareich-verwinkelten Sätzen stehen, die im Deutschen an Kleist erinnern, ergibt sich der Eindruck hohen Tempos, dem man als Leser aufmerksam folgen muss. Auch in Joachim Unselds sorgfältiger Übersetzung.
Toussaints Bestseller „Sich lieben”, der im Französischen den direkteren Titel „Faire l‘amour” trägt, bot dem Erzähler von „Fliehen” und seiner Marie einen ersten Auftritt. In Frankreich wurde das Buch heftig gefeiert, in Deutschland eher verrissen. Statt eine hochsymbolische Trennungsgeschichte, hat Toussaint nun unter beinahe entgegengesetztem Titel die Geschichte einer Wiedervereinigung geschrieben. Nach der Beerdigung des Vaters gehen die beiden an den Strand. Marie schwimmt weit hinaus. Fast scheint sie sich umbringen zu wollen, doch der Erzähler ist ihr gefolgt, in seinen Armen weint sie ins Meer.
Das wirkt, wie man sieht, an manchen Stellen wieder etwas französisch-pathetisch. Wiederum beansprucht der Belgier Toussaint die Symbolik, diesmal in Anlehnung an Kafkas „gefrorenes Meer in uns” allzu deutlich, ohne dass er die preziöse Originalität seiner ersten Bücher ganz erreichte. Doch das ist nur ein etwas ärgerlicher Nebeneffekt einer ansonsten gleichermaßen erfreulich kunstvoll wie unterhaltend erzählten Geschichte. Interessant wird das Buch nicht zuletzt dadurch, dass Toussaint mit China einiges anzufangen weiß. Sein Stil, der Bewegung mit Statik verschmilzt, passt zum konzentrierten Chaos, dem sein Held in Peking begegnet, zu der von undurchschaubaren kriminellen Machenschaften durchsetzten Aufbruchsstimmung, in der er sich mehr verirrt, als dass er sich durchsetzen könnte.
HANS-PETER KUNISCH
JEAN-PHILIPPE TOUSSAINT: Fliehen. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2007. 169 Seiten, 19,80 Euro.
Skulptur in Shanghai, die für ein Mobilfunknetz wirbt. Foto: AP
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Jean-Philippe Toussaint und sein Handy-Roman „Fliehen”
Gerade noch hat der namenlose Erzähler in Jean-Philippe Toussaints Roman „Fliehen” an Marie gedacht – „Hört das denn nie auf?”, diese Geschichte mit ihr –, da lernt er bei seinem halb geschäftlichen, halb vergnügungsorientierten Aufenthalt in Shanghai Li Qi kennen. Eine Frau ohne erkennbaren Beruf, die ebenfalls bei einer Vernissage herumsteht. Die beiden verlieben sich ineinander. Sie bittet ihn, sie für ein paar Tage nach Peking zu begleiten, wo sie zu tun hat. Er nimmt das Angebot an. Doch aus dem geplanten Flitter nach Feierabend wird nichts. Als die beiden sich in der Zugtoilette gerade hastig ein erstes Mal näher kennen lernen, klingelt das Handy des Erzählers. Er muss unbedingt hin. Marie ist dran. Sie ist in Paris, ihr Vater ist vor Elba, wo er seit langem lebte, ertrunken.
Das Telefon hat, glaubt man Franz Kafka, seit seinen Anfängen eine gespenstische Wirkung. Weil es nur vorgibt, die Menschen einander näher zu bringen, entfernt es sie voneinander. Und die neuere Literatur entdeckt, dass sich mit der Veränderung der Telefone auch andere Beziehungen zwischen den Menschen ergeben. Mindestens zweimal gerät in diesem Frühjahr das Handy in den Blick, vor kurzem bei Ingo Schulze, jetzt bei Toussaint, dessen „Fliehen” in Frankreich 2005 erschien.
Toussaint hat mit seinem Klassiker „Monsieur” eine der wichtigsten Identifikationsfiguren der achtziger Jahre geschaffen. Der Mann, der immer lässig mit der Hand der Wand entlang fährt, während er durchs Firmengebäude geht, gehörte zu den Gewinnern von damals. Doch zugleich war er, sich dessen nur halb bewusst, ein gut funktionierender Automat, der seine Gefühle kaschierte, immer bemüht, sich anzupassen. Zwei Jahrzehnte später hat dieser Mann die Hand von der Wand genommen, reist in der Welt herum und benimmt sich vergleichsweise enthemmt. Doch die Hand hält jetzt ein Handy, das den Mann von neuem zum Automaten macht. Es fungiert als lange Leine, die ihn nie in Ruhe, nie wegkommen lässt.
Dennoch geht es in „Fliehen”, dem Titel entsprechend, atemlos zu. Das hat mit der Hetze zu tun, die nach dem Handy-Anruf entsteht. Sofort beschließt der Erzähler, Marie nicht allein zu lassen, zur Beerdigung nach Elba zu fahren. Interessant wird das aber nicht durch die Turbulenz, sondern durch den Stil, in dem Toussaint davon erzählt. Noch immer liebt er Beschreibungen von Dingen, die den Eindruck statischer Verhältnisse erwecken. Doch weil die Beschreibungen hier zunehmend Beschreibungen von Bewegungen sind und in kommareich-verwinkelten Sätzen stehen, die im Deutschen an Kleist erinnern, ergibt sich der Eindruck hohen Tempos, dem man als Leser aufmerksam folgen muss. Auch in Joachim Unselds sorgfältiger Übersetzung.
Toussaints Bestseller „Sich lieben”, der im Französischen den direkteren Titel „Faire l‘amour” trägt, bot dem Erzähler von „Fliehen” und seiner Marie einen ersten Auftritt. In Frankreich wurde das Buch heftig gefeiert, in Deutschland eher verrissen. Statt eine hochsymbolische Trennungsgeschichte, hat Toussaint nun unter beinahe entgegengesetztem Titel die Geschichte einer Wiedervereinigung geschrieben. Nach der Beerdigung des Vaters gehen die beiden an den Strand. Marie schwimmt weit hinaus. Fast scheint sie sich umbringen zu wollen, doch der Erzähler ist ihr gefolgt, in seinen Armen weint sie ins Meer.
Das wirkt, wie man sieht, an manchen Stellen wieder etwas französisch-pathetisch. Wiederum beansprucht der Belgier Toussaint die Symbolik, diesmal in Anlehnung an Kafkas „gefrorenes Meer in uns” allzu deutlich, ohne dass er die preziöse Originalität seiner ersten Bücher ganz erreichte. Doch das ist nur ein etwas ärgerlicher Nebeneffekt einer ansonsten gleichermaßen erfreulich kunstvoll wie unterhaltend erzählten Geschichte. Interessant wird das Buch nicht zuletzt dadurch, dass Toussaint mit China einiges anzufangen weiß. Sein Stil, der Bewegung mit Statik verschmilzt, passt zum konzentrierten Chaos, dem sein Held in Peking begegnet, zu der von undurchschaubaren kriminellen Machenschaften durchsetzten Aufbruchsstimmung, in der er sich mehr verirrt, als dass er sich durchsetzen könnte.
HANS-PETER KUNISCH
JEAN-PHILIPPE TOUSSAINT: Fliehen. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2007. 169 Seiten, 19,80 Euro.
Skulptur in Shanghai, die für ein Mobilfunknetz wirbt. Foto: AP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2007Das Land der Dinge
Die weite Reise zum langen Abschied - Jean-Philippe Toussaints Roman "Fliehen"
Als vor drei Jahren Sofia Coppolas "Lost in Translation" in die Kinos kam, hätte man schwören wollen, dass sie zuvor ein Buch gelesen hatte, den Roman "Faire l'amour" von Jean-Philippe Toussaint; dass dieser Roman vielleicht in einem der Hotelzimmer des "Park Hyatt" in Tokio herumgelegen hatte, wo sie drehen sollte - ein Hotelroman über ein europäisches Paar, eine französische Modeschöpferin und einen Ich-Erzähler, die, wie Scarlett Johansson und Bill Murray, nachts durch die Straßen von Tokio taumelten, ein letztes Mal. Es braucht Zeit, um den Menschen nicht mehr zu lieben, den man nicht mehr liebt. Bei Toussaint dauerte es einen Roman lang. "Sich lieben" war die Geschichte einer Trennung.
Sofia Coppola hat nie gesagt, dass sie dieses Buch kannte, das in so vieler Hinsicht die Sprache ihres Films zu sprechen schien: Keine Handlung trieb es voran, sondern die zögernden Bewegungen der Protagonisten, ein Nach- und Nebeneinander von Empfindungen, wahrgenommenen und sich verselbständigenden Details. Und vielleicht spielt es auch keine Rolle; vielleicht gibt es an bestimmten Orten und besonders im Reich fremder Zeichen eine Suggestion von Geschichten und Erzählweisen, der man sich schwer entziehen kann.
Jean-Philippe Toussaint jedenfalls kann sich auch jetzt noch nicht entziehen. In "Fliehen", seinem neuen Roman, muss sein Erzähler wieder in die Fremde, nach Schanghai, diesmal ohne seine Freundin: "Hört das denn nie auf mit Marie? Im Sommer vor unserer Trennung hatte ich ein paar Wochen in Schanghai verbracht, es gab dafür nicht wirklich berufliche Gründe, ich unternahm die Reise eher zu meinem eigenen Vergnügen, auch wenn mich Marie mit einem bestimmten Auftrag betraut hatte (aber ich habe keine Lust, auf Einzelheiten einzugehen)", heißen die ersten Sätze. Und da ist klar, dass "Fliehen" und "Sich lieben" miteinander in Verbindung stehen; dass der neue Roman die Zeit vor der Trennung erzählt: zusammen zu verreisen, ein Zimmer zu teilen in einem eleganten Hotel in Tokio, das war in "Faire l'amour" die beste Möglichkeit gewesen, um Schluss zu machen. Die Nähe zerriss beide. Die Abwesenheit des anderen hingegen ist in "Fliehen" das Einzige, was sie, davor, einander noch nahebringen konnte. Für Toussaint hört es nicht auf mit Marie.
Natürlich würde man den belgischen Autor, der lange in Paris, in Algerien und auch in Berlin gelebt hat, unterschätzen, wollte man seine Romane als bloße Liebesgeschichten lesen. Denn was hier erzählt wird, verschwindet hinter dem Wie. Nicht umsonst schickte Toussaint mit Ende zwanzig das Manuskript seines ersten Romans "Das Badezimmer" an Alain Robbe-Grillet, der es an den Verleger der "Éditions de Minuit", Jérôme Lindon, weitergab. Die "Éditions de Minuit", das waren, neben Robbe-Grillet, Beckett und Claude Simon - und in dieser Tradition des "nouveau roman" wollte Toussaint sich verstanden wissen. Was beiläufig erzählt daherkommt, ist stets minutiös durchkonstruiert, ein Kalkül, ein Spiel mit Zitaten, das mit Marie und dem Ich-Erzähler auch wieder Ulrich und Agathe aus dem "Mann ohne Eigenschaften" aufleben lässt, nämlich in den Details.
Denn Toussaints Romanwelt ist eine Dingwelt, und wie ganz besonders die technischen Dinge die Figuren voneinander weg oder sie wieder zueinanderbringen, das ist nicht nur bitter, es ist in seiner fatalen Weise auch sehr lustig und macht Toussaint zu einem der interessantesten zeitgenössischen Erzähler. Überall dröhnt, schnurrt, klingelt es. Ein Fax aus Europa kommt mitten in der Nacht in Tokio an und stört die Sich-nicht-mehr-Liebenden beim Sex: ein Klicken und eine Nachricht auf dem plötzlich marineblau leuchtenden Fernsehbildschirm: "Please contact the central desk." Danach geht nichts mehr im Bett. Das Faxgerät übernimmt die Regie, so wie in "Fliehen" ein Mobiltelefon zum Protagonisten des Romans wird, das der den Reisenden in Empfang nehmende Chinese Zhang dem Erzähler übergibt. Unaufhörlich zeigt Zhang streng auf das herumliegende Telefon, ruft "don't forget", was in den Ohren des Erzählers allerdings wie "don't fuck it" klingt. Dann klingelt es. Der Erzähler befindet sich gerade auf einer Toilette im Zug nach Peking. Mit auf der Toilette ist die schöne Chinesin Li Qi. Es klingelt, draußen vor der Zugtoilettentür im Rucksack. Am anderen Ende ist Marie, die ihn immer dann braucht, wenn er gerade nicht da ist. Man muss manchmal sehr weit reisen, um eine Verbindung zu halten.
JULIA ENCKE
Jean-Philippe Toussaint: "Fliehen". Roman. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 180 Seiten, 19,80 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die weite Reise zum langen Abschied - Jean-Philippe Toussaints Roman "Fliehen"
Als vor drei Jahren Sofia Coppolas "Lost in Translation" in die Kinos kam, hätte man schwören wollen, dass sie zuvor ein Buch gelesen hatte, den Roman "Faire l'amour" von Jean-Philippe Toussaint; dass dieser Roman vielleicht in einem der Hotelzimmer des "Park Hyatt" in Tokio herumgelegen hatte, wo sie drehen sollte - ein Hotelroman über ein europäisches Paar, eine französische Modeschöpferin und einen Ich-Erzähler, die, wie Scarlett Johansson und Bill Murray, nachts durch die Straßen von Tokio taumelten, ein letztes Mal. Es braucht Zeit, um den Menschen nicht mehr zu lieben, den man nicht mehr liebt. Bei Toussaint dauerte es einen Roman lang. "Sich lieben" war die Geschichte einer Trennung.
Sofia Coppola hat nie gesagt, dass sie dieses Buch kannte, das in so vieler Hinsicht die Sprache ihres Films zu sprechen schien: Keine Handlung trieb es voran, sondern die zögernden Bewegungen der Protagonisten, ein Nach- und Nebeneinander von Empfindungen, wahrgenommenen und sich verselbständigenden Details. Und vielleicht spielt es auch keine Rolle; vielleicht gibt es an bestimmten Orten und besonders im Reich fremder Zeichen eine Suggestion von Geschichten und Erzählweisen, der man sich schwer entziehen kann.
Jean-Philippe Toussaint jedenfalls kann sich auch jetzt noch nicht entziehen. In "Fliehen", seinem neuen Roman, muss sein Erzähler wieder in die Fremde, nach Schanghai, diesmal ohne seine Freundin: "Hört das denn nie auf mit Marie? Im Sommer vor unserer Trennung hatte ich ein paar Wochen in Schanghai verbracht, es gab dafür nicht wirklich berufliche Gründe, ich unternahm die Reise eher zu meinem eigenen Vergnügen, auch wenn mich Marie mit einem bestimmten Auftrag betraut hatte (aber ich habe keine Lust, auf Einzelheiten einzugehen)", heißen die ersten Sätze. Und da ist klar, dass "Fliehen" und "Sich lieben" miteinander in Verbindung stehen; dass der neue Roman die Zeit vor der Trennung erzählt: zusammen zu verreisen, ein Zimmer zu teilen in einem eleganten Hotel in Tokio, das war in "Faire l'amour" die beste Möglichkeit gewesen, um Schluss zu machen. Die Nähe zerriss beide. Die Abwesenheit des anderen hingegen ist in "Fliehen" das Einzige, was sie, davor, einander noch nahebringen konnte. Für Toussaint hört es nicht auf mit Marie.
Natürlich würde man den belgischen Autor, der lange in Paris, in Algerien und auch in Berlin gelebt hat, unterschätzen, wollte man seine Romane als bloße Liebesgeschichten lesen. Denn was hier erzählt wird, verschwindet hinter dem Wie. Nicht umsonst schickte Toussaint mit Ende zwanzig das Manuskript seines ersten Romans "Das Badezimmer" an Alain Robbe-Grillet, der es an den Verleger der "Éditions de Minuit", Jérôme Lindon, weitergab. Die "Éditions de Minuit", das waren, neben Robbe-Grillet, Beckett und Claude Simon - und in dieser Tradition des "nouveau roman" wollte Toussaint sich verstanden wissen. Was beiläufig erzählt daherkommt, ist stets minutiös durchkonstruiert, ein Kalkül, ein Spiel mit Zitaten, das mit Marie und dem Ich-Erzähler auch wieder Ulrich und Agathe aus dem "Mann ohne Eigenschaften" aufleben lässt, nämlich in den Details.
Denn Toussaints Romanwelt ist eine Dingwelt, und wie ganz besonders die technischen Dinge die Figuren voneinander weg oder sie wieder zueinanderbringen, das ist nicht nur bitter, es ist in seiner fatalen Weise auch sehr lustig und macht Toussaint zu einem der interessantesten zeitgenössischen Erzähler. Überall dröhnt, schnurrt, klingelt es. Ein Fax aus Europa kommt mitten in der Nacht in Tokio an und stört die Sich-nicht-mehr-Liebenden beim Sex: ein Klicken und eine Nachricht auf dem plötzlich marineblau leuchtenden Fernsehbildschirm: "Please contact the central desk." Danach geht nichts mehr im Bett. Das Faxgerät übernimmt die Regie, so wie in "Fliehen" ein Mobiltelefon zum Protagonisten des Romans wird, das der den Reisenden in Empfang nehmende Chinese Zhang dem Erzähler übergibt. Unaufhörlich zeigt Zhang streng auf das herumliegende Telefon, ruft "don't forget", was in den Ohren des Erzählers allerdings wie "don't fuck it" klingt. Dann klingelt es. Der Erzähler befindet sich gerade auf einer Toilette im Zug nach Peking. Mit auf der Toilette ist die schöne Chinesin Li Qi. Es klingelt, draußen vor der Zugtoilettentür im Rucksack. Am anderen Ende ist Marie, die ihn immer dann braucht, wenn er gerade nicht da ist. Man muss manchmal sehr weit reisen, um eine Verbindung zu halten.
JULIA ENCKE
Jean-Philippe Toussaint: "Fliehen". Roman. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 180 Seiten, 19,80 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Harry Nutt ist beeindruckt von der "spielerischen Leichtigkeit" ebenso wie von der "sprachlichen Experimentierfreude", mit der der Autor Jean-Philippe Toussaint seine oft ein bisschen "surreal" wirkenden Geschichten schreibt. Touissant schaffe sehr einprägsame Miniaturen, freut sich der Rezensent, wobei er einräumt, dass die Einzelbilder nachhaltiger seien als die Erzählung. Bisweilen hat er sogar das Gefühl, den "sinngebenden" Moment verpasst zu haben. Mit diesem Roman beweist Toussaint Nutts Meinung nach vor allem einen "aufmerksamen Blick für die Tigerhaftigkeit der jungen chinesischen Ökonomie". Allerdings laufe Toussaints "erzählerische Genauigkeit" dabei Gefahr, "von einem temporeichen, farbintensiven Surrealismus geschluckt zu werden".
© Perlentaucher Medien GmbH
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