Ausgezeichnet mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis als bestes Sachbuch des Jahres 2020, nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2021, prämiert mit dem Preis für „Das politische Buch“ 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung
Andreas Kossert, renommierter Experte zum Thema Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert und Autor des Bestsellers »Kalte Heimat«, stellt in diesem Buch die Flüchtlingsbewegung des frühen 21. Jahrhunderts in einen großen geschichtlichen Zusammenhang. Immer nah an den Einzelschicksalen und auf bewegende Weise zeigt Kossert, welche existenziellen Erfahrungen von Entwurzelung und Anfeindung mit dem Verlust der Heimat einhergehen - und warum es für Flüchtlinge und Vertriebene zu allen Zeiten so schwer ist, in der Fremde neue Wurzeln zu schlagen. Ob sie aus Ostpreußen, Syrien oder Indien flohen: Flüchtlinge sind Akteure der Weltgeschichte - Andreas Kossert gibt ihnen mit diesem Buch eine Stimme.
»Flucht« wurde mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis 2020 und mit dem Preis für »Das politische Buch« 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet.
»Kossert zeigt auf, dass Flucht und Vertreibung nicht das Problem der anderen ist, sondern gerade auch in Deutschland tief verwoben ist mit der eigenen Familiengeschichte.« (Aus der Begründung der NDR-Sachbuchpreis-Jury)
Andreas Kossert, renommierter Experte zum Thema Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert und Autor des Bestsellers »Kalte Heimat«, stellt in diesem Buch die Flüchtlingsbewegung des frühen 21. Jahrhunderts in einen großen geschichtlichen Zusammenhang. Immer nah an den Einzelschicksalen und auf bewegende Weise zeigt Kossert, welche existenziellen Erfahrungen von Entwurzelung und Anfeindung mit dem Verlust der Heimat einhergehen - und warum es für Flüchtlinge und Vertriebene zu allen Zeiten so schwer ist, in der Fremde neue Wurzeln zu schlagen. Ob sie aus Ostpreußen, Syrien oder Indien flohen: Flüchtlinge sind Akteure der Weltgeschichte - Andreas Kossert gibt ihnen mit diesem Buch eine Stimme.
»Flucht« wurde mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis 2020 und mit dem Preis für »Das politische Buch« 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet.
»Kossert zeigt auf, dass Flucht und Vertreibung nicht das Problem der anderen ist, sondern gerade auch in Deutschland tief verwoben ist mit der eigenen Familiengeschichte.« (Aus der Begründung der NDR-Sachbuchpreis-Jury)
- »In diesem wichtigen, brillant erzählten Buch zeichnet Andreas Kossert das bedrückende Panorama eines jahrhundertealten und zugleich höchst aktuellen Menschheitsdramas. Er beleuchtet die Anatomie eines Massenphänomens. Doch im Zentrum stehen die einzelnen Flüchtlinge, ihre Schicksale und Zeugnisse. Das Buch für unsere Zeit!« (Christopher Clark)
- »Ein Buch, das einen nicht kalt lässt...Ebenso brillant geschrieben wie komponiert.« (rbb kulturradio)
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Mathias Beer ragt das Buch von Andreas Kossert aus der einschlägigen Flucht-Literatur heraus, weil Kossert einen erfahrungsgeschichtlichen Ansatz wählt, Flüchtlinge aller Zeiten und Orte mit Tagebüchern, Erinnerungen, Gedichten, Briefen selbst zu Wort kommen lässt und das Universelle ihrer Erfahrungen festhält. Beer folgt dem historischen Rückblick auf die Zwangsmigration seit der Antike, lauscht berührenden Lebensgeschichten und entwickelt mit Kossert einen Heimatbegriff und eine Ahnung davon, was es heißt, niemals anzukommen. Auch wenn die Materialfülle den Rezensenten fordert, ist der Gewinn der Lektüre für Beer immens. Ein wichtiger Beitrag der Migrationsforschung, meint er, und ein ebenso wichtiger Beitrag zum Verständnis von Menschen auf der Flucht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.11.2020Entwurzelt,
nicht willkommen
Andreas Kossert hat eine ausgezeichnete Erzählung
über Flucht und Vertreibung geschrieben
VON CORD ASCHENBRENNER
Zum Flüchtling kann jeder werden. Immer schon mussten Menschen ihr Haus, ihre Heimat, ihr ganzes bisheriges Leben „fluchtartig“ (ein Adjektiv, nach dem man in anderen Sprachen vergebens sucht) verlassen. Ein „Kernthema der Menschheit“ nennt der Historiker Andreas Kossert, Verfasser einer viel gerühmten Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945 („Kalte Heimat“) das Sujet seines neuen Buches.
Der Begriff „Flucht“ wurde im Deutschen lange Zeit nur im strafrechtlichen und im militärischen Fall verwendet: Verbrecher und geschlagene Soldaten traten gelegentlich die Flucht an. Erst spät, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, erlangte das Wort die heutige Bedeutung: das rasche Verlassen eines Ortes, um Gewalt und Lebensgefahr zu entgehen. Auch das Wort „Flüchtling“ – den manche heute grammatisch und semantisch eigenwillig zum Geflüchteten machen – setzte sich erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im heutigen Sinne durch, als überall in Europa Millionen fast über Nacht heimat- und staatenlos Gewordener fliehen mussten oder vertrieben wurden.
Vertreibung, Umsiedlung, ethnische Säuberung, Zwangsdeportation, Gewaltmigration – Kossert zählt die gängigen Begriffe auf, die aus der Perspektive der Opfer entstanden oder von den Tätern geprägt sind und immer eines be- oder umschreiben sollen: dass Menschen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen, weil sie anderen politisch, ethnisch oder religiös im Wege sind. Enthemmte Brutalität, gewaltsamer Tod und großes Leid gehen oft einher mit dem erzwungenen Auszug aus der nicht selten generationenlang von einer Familie bewohnten Umgebung. Zurück bleiben die Gräber der Vorfahren und manchmal die Alten.
Andreas Kossert konzentriert sich bei seiner großen, glänzend geschriebenen Erzählung von Flucht und Vertreibung – ein Begriffspaar, das hierzulande lange Zeit untrennbar mit den „Vertriebenen“ aus dem Osten des ehemaligen Deutschen Reiches verbunden war – auf Europa und den Nahen Osten. Den Untertitel „Eine Menschheitsgeschichte“ trägt das Buch dennoch zu Recht. Flucht ist eine historische Konstante, die fast nirgends unbekannt ist und deren Charakteristika durch die Jahrtausende und über die Kontinente allenfalls in Nuancen voneinander abweichen.
Schon die biblische Überlieferung berichtet von Flucht und Heimatlosigkeit. Das babylonische Exil des jüdischen Volkes nach der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar II. ist bis heute sprichwörtlich, genau wie der mythische Exodus, also der Auszug der Israeliten aus Ägypten. Die Erinnerung an die Geburt Jesu umfasst auch die Flucht des Neugeborenen mit seinen Eltern vor König Herodes nach Ägypten. Kossert betont, welch bedeutende Rolle im christlich geprägten Kulturkreis die Erzählung von Flucht und Exil seit zwei Jahrtausenden spielt.
Allerdings, das wird eindrucksvoll deutlich, haben weder die bis vor wenigen Jahrzehnten weit verbreitete Kenntnis biblischer Geschichten und Gebote (etwa „Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland“; 5. Mose 10) noch etwa eine eigene Fluchtbiografie die Menschen derart verlässlich gegen Hartherzigkeit imprägniert, dass sie andere Menschen, die ihre Heimat unter Zwang verlassen mussten, immer mit Großmut und Verständnis empfangen hätten.
Im Gegenteil, Kossert schreibt, dass Flüchtlinge allein durch ihre Existenz als Bedrohung gelten, weil sie bei vielen unterschwellig oder offen die Angst auslösen, ein ähnliches Schicksal könne auch ihnen drohen. Dabei verkörperten sie eher „die Defensive schlechthin“.
Er verweist auf das Schicksal der nachgerade verhassten deutschen Vertriebenen nach 1945, auf die nach den Versailler Verträgen im Zuge „ethnischer Entflechtung“ aus der Türkei vertriebenen Millionen Griechen, die in Griechenland beschimpft und geschmäht wurden. Genau wie heutige Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea, die in den Staaten Europas überwiegend so wenig willkommen sind wie in den USA oder in Australien. Ein zeitloses Schicksal, betont Kossert. „Es gab zu viele Flüchtlinge … Das schreckte die Nächstenliebe ab. Diese jammervolle Menge hatte nichts Menschliches mehr; sie ähnelte einer fliehenden Herde“, wie die Schriftstellerin Irène Némirovsky in ihrem Roman „Suite française“ schrieb, der im Sommer 1940 in Frankreich spielt.
Die Entscheidung Kosserts, auch belletristische und lyrische Texte heranzuziehen, mag für einen Historiker ungewöhnlich sein, klug ist sie aber. An Autoren wie Bertolt Brecht, Gustaw Herling, Zbigniew Herbert, Yaşar Kemal, Judith Kerr, Herta Müller, Amos Oz, Isaac B. Singer, Franz Werfel oder Stefan Zweig zeigt er, welch große Rolle Flucht und Heimatlosigkeit in der Weltliteratur spielen. Die Botschaft ist einfach: Das Elend von Flucht und Heimatverlust kann jeden treffen.
Das belegen auch die Auszüge aus Tagebüchern, Briefen, Reportagen, Erinnerungen und Autobiografien, eine Vielzahl von Zeugnissen, mit denen Kossert die „endlose Geschichte der Flucht“ illustriert. Sie setzt ein in der frühen Neuzeit mit der Vertreibung der spanischen Juden im späten 15. Jahrhundert. Vier Jahrhunderte später sind es die russischen Juden, die fliehen müssen, ausgelöst durch Pogrome nach der Ermordung Alexanders II. 1881. Bis zum Ersten Weltkrieg folgt eine Massenflucht, auch aus Österreich-Ungarn und Rumänien. Sie ist der Auftakt zu den millionenfachen Vertreibungen der kommenden Jahrzehnte, weit über Europa hinaus und bis heute. Nicht nur der europäischen Juden, die in der Shoa gipfeln, auch von Armeniern, Polen, Ukrainern, Finnen, Griechen, Deutschen, Russen, Slowenen, Tutsi – eine endlose Reihe.
Zwangsmigrationen seien humane Katastrophen des 20. Jahrhunderts, stellte 1948 der Soziologe und frühe Fluchtforscher Eugene M. Kulischer in seinem Buch „Europe on the Move“ nüchtern fest, auch er ein Flüchtling vor den Nazis. Kulischer, ein Jude aus Kiew, hatte 1941 eine neue Heimat in den USA gefunden. Soweit das möglich war. Der Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, in einem anderen Land heimisch zu werden, wenn man unter Lebensgefahr fliehen musste, widmet Andreas Kossert den berührendsten Teil seiner Untersuchung. Nicht nur werden die Ankömmlinge oft misstrauisch, sogar hasserfüllt empfangen, die Einheimischen können oder wollen auch ihre Geschichte, ihr bisheriges Leben weder glauben und schon gar nicht nachvollziehen. Hinzu kommt das Heimweh, das als Todesursache in keinem medizinischen Lehrbuch steht, wie Kossert anmerkt – das aber ganz gewiss manchen vor der Zeit sterben ließ und lässt. Zu einem „hilflosen Nichts“ sei sein Vater 1948 im Beiruter Flüchtlingslager geworden, wie sich der palästinensische Autor Fawaz Turki später erinnerte. Bald darauf starb der Vater.
Man kann Andreas Kosserts Buch nicht genug loben. Einfühlsam, klug und mit deutlich erkennbarer Haltung geschrieben, lässt es doch nie die Distanz des Historikers zu seinem Stoff vermissen. Man wünscht ihm sehr viele Leser, gerade in einem Land wie Deutschland, das durch Flucht und Vertreibung – der jüdischen Nachbarn und Landsleute seit 1933, der Deutschen im Osten seit 1945 – vielfach gezeichnet und von einst entwurzelten Menschen geprägt ist.
Das Buch ist einfühlsam, klug
und mit deutlich erkennbarer
Haltung geschrieben
Andreas Kossert:
Flucht. Eine Menschheits-
geschichte. Siedler-Verlag, München 2020.
431 Seiten, 25 Euro.
E-Book: 22,99 Euro.
Von wegen Tor nach Europa: 2016 saßen Tausende Flüchtlinge in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze fest.
Foto: DIMITAR DILKOFF / AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
nicht willkommen
Andreas Kossert hat eine ausgezeichnete Erzählung
über Flucht und Vertreibung geschrieben
VON CORD ASCHENBRENNER
Zum Flüchtling kann jeder werden. Immer schon mussten Menschen ihr Haus, ihre Heimat, ihr ganzes bisheriges Leben „fluchtartig“ (ein Adjektiv, nach dem man in anderen Sprachen vergebens sucht) verlassen. Ein „Kernthema der Menschheit“ nennt der Historiker Andreas Kossert, Verfasser einer viel gerühmten Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945 („Kalte Heimat“) das Sujet seines neuen Buches.
Der Begriff „Flucht“ wurde im Deutschen lange Zeit nur im strafrechtlichen und im militärischen Fall verwendet: Verbrecher und geschlagene Soldaten traten gelegentlich die Flucht an. Erst spät, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, erlangte das Wort die heutige Bedeutung: das rasche Verlassen eines Ortes, um Gewalt und Lebensgefahr zu entgehen. Auch das Wort „Flüchtling“ – den manche heute grammatisch und semantisch eigenwillig zum Geflüchteten machen – setzte sich erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im heutigen Sinne durch, als überall in Europa Millionen fast über Nacht heimat- und staatenlos Gewordener fliehen mussten oder vertrieben wurden.
Vertreibung, Umsiedlung, ethnische Säuberung, Zwangsdeportation, Gewaltmigration – Kossert zählt die gängigen Begriffe auf, die aus der Perspektive der Opfer entstanden oder von den Tätern geprägt sind und immer eines be- oder umschreiben sollen: dass Menschen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen, weil sie anderen politisch, ethnisch oder religiös im Wege sind. Enthemmte Brutalität, gewaltsamer Tod und großes Leid gehen oft einher mit dem erzwungenen Auszug aus der nicht selten generationenlang von einer Familie bewohnten Umgebung. Zurück bleiben die Gräber der Vorfahren und manchmal die Alten.
Andreas Kossert konzentriert sich bei seiner großen, glänzend geschriebenen Erzählung von Flucht und Vertreibung – ein Begriffspaar, das hierzulande lange Zeit untrennbar mit den „Vertriebenen“ aus dem Osten des ehemaligen Deutschen Reiches verbunden war – auf Europa und den Nahen Osten. Den Untertitel „Eine Menschheitsgeschichte“ trägt das Buch dennoch zu Recht. Flucht ist eine historische Konstante, die fast nirgends unbekannt ist und deren Charakteristika durch die Jahrtausende und über die Kontinente allenfalls in Nuancen voneinander abweichen.
Schon die biblische Überlieferung berichtet von Flucht und Heimatlosigkeit. Das babylonische Exil des jüdischen Volkes nach der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar II. ist bis heute sprichwörtlich, genau wie der mythische Exodus, also der Auszug der Israeliten aus Ägypten. Die Erinnerung an die Geburt Jesu umfasst auch die Flucht des Neugeborenen mit seinen Eltern vor König Herodes nach Ägypten. Kossert betont, welch bedeutende Rolle im christlich geprägten Kulturkreis die Erzählung von Flucht und Exil seit zwei Jahrtausenden spielt.
Allerdings, das wird eindrucksvoll deutlich, haben weder die bis vor wenigen Jahrzehnten weit verbreitete Kenntnis biblischer Geschichten und Gebote (etwa „Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland“; 5. Mose 10) noch etwa eine eigene Fluchtbiografie die Menschen derart verlässlich gegen Hartherzigkeit imprägniert, dass sie andere Menschen, die ihre Heimat unter Zwang verlassen mussten, immer mit Großmut und Verständnis empfangen hätten.
Im Gegenteil, Kossert schreibt, dass Flüchtlinge allein durch ihre Existenz als Bedrohung gelten, weil sie bei vielen unterschwellig oder offen die Angst auslösen, ein ähnliches Schicksal könne auch ihnen drohen. Dabei verkörperten sie eher „die Defensive schlechthin“.
Er verweist auf das Schicksal der nachgerade verhassten deutschen Vertriebenen nach 1945, auf die nach den Versailler Verträgen im Zuge „ethnischer Entflechtung“ aus der Türkei vertriebenen Millionen Griechen, die in Griechenland beschimpft und geschmäht wurden. Genau wie heutige Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea, die in den Staaten Europas überwiegend so wenig willkommen sind wie in den USA oder in Australien. Ein zeitloses Schicksal, betont Kossert. „Es gab zu viele Flüchtlinge … Das schreckte die Nächstenliebe ab. Diese jammervolle Menge hatte nichts Menschliches mehr; sie ähnelte einer fliehenden Herde“, wie die Schriftstellerin Irène Némirovsky in ihrem Roman „Suite française“ schrieb, der im Sommer 1940 in Frankreich spielt.
Die Entscheidung Kosserts, auch belletristische und lyrische Texte heranzuziehen, mag für einen Historiker ungewöhnlich sein, klug ist sie aber. An Autoren wie Bertolt Brecht, Gustaw Herling, Zbigniew Herbert, Yaşar Kemal, Judith Kerr, Herta Müller, Amos Oz, Isaac B. Singer, Franz Werfel oder Stefan Zweig zeigt er, welch große Rolle Flucht und Heimatlosigkeit in der Weltliteratur spielen. Die Botschaft ist einfach: Das Elend von Flucht und Heimatverlust kann jeden treffen.
Das belegen auch die Auszüge aus Tagebüchern, Briefen, Reportagen, Erinnerungen und Autobiografien, eine Vielzahl von Zeugnissen, mit denen Kossert die „endlose Geschichte der Flucht“ illustriert. Sie setzt ein in der frühen Neuzeit mit der Vertreibung der spanischen Juden im späten 15. Jahrhundert. Vier Jahrhunderte später sind es die russischen Juden, die fliehen müssen, ausgelöst durch Pogrome nach der Ermordung Alexanders II. 1881. Bis zum Ersten Weltkrieg folgt eine Massenflucht, auch aus Österreich-Ungarn und Rumänien. Sie ist der Auftakt zu den millionenfachen Vertreibungen der kommenden Jahrzehnte, weit über Europa hinaus und bis heute. Nicht nur der europäischen Juden, die in der Shoa gipfeln, auch von Armeniern, Polen, Ukrainern, Finnen, Griechen, Deutschen, Russen, Slowenen, Tutsi – eine endlose Reihe.
Zwangsmigrationen seien humane Katastrophen des 20. Jahrhunderts, stellte 1948 der Soziologe und frühe Fluchtforscher Eugene M. Kulischer in seinem Buch „Europe on the Move“ nüchtern fest, auch er ein Flüchtling vor den Nazis. Kulischer, ein Jude aus Kiew, hatte 1941 eine neue Heimat in den USA gefunden. Soweit das möglich war. Der Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, in einem anderen Land heimisch zu werden, wenn man unter Lebensgefahr fliehen musste, widmet Andreas Kossert den berührendsten Teil seiner Untersuchung. Nicht nur werden die Ankömmlinge oft misstrauisch, sogar hasserfüllt empfangen, die Einheimischen können oder wollen auch ihre Geschichte, ihr bisheriges Leben weder glauben und schon gar nicht nachvollziehen. Hinzu kommt das Heimweh, das als Todesursache in keinem medizinischen Lehrbuch steht, wie Kossert anmerkt – das aber ganz gewiss manchen vor der Zeit sterben ließ und lässt. Zu einem „hilflosen Nichts“ sei sein Vater 1948 im Beiruter Flüchtlingslager geworden, wie sich der palästinensische Autor Fawaz Turki später erinnerte. Bald darauf starb der Vater.
Man kann Andreas Kosserts Buch nicht genug loben. Einfühlsam, klug und mit deutlich erkennbarer Haltung geschrieben, lässt es doch nie die Distanz des Historikers zu seinem Stoff vermissen. Man wünscht ihm sehr viele Leser, gerade in einem Land wie Deutschland, das durch Flucht und Vertreibung – der jüdischen Nachbarn und Landsleute seit 1933, der Deutschen im Osten seit 1945 – vielfach gezeichnet und von einst entwurzelten Menschen geprägt ist.
Das Buch ist einfühlsam, klug
und mit deutlich erkennbarer
Haltung geschrieben
Andreas Kossert:
Flucht. Eine Menschheits-
geschichte. Siedler-Verlag, München 2020.
431 Seiten, 25 Euro.
E-Book: 22,99 Euro.
Von wegen Tor nach Europa: 2016 saßen Tausende Flüchtlinge in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze fest.
Foto: DIMITAR DILKOFF / AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2021Nicht mehr dort - noch nicht hier
Flucht als existentielle Menschheitserfahrung
Am 20. Juni 2019, anlässlich des 2001 eingeführten Weltflüchtlingstags, haben der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die UN-Flüchtlingshilfe Deutschland eine Initiative mit dem Ziel gestartet, das Thema Flucht noch stärker in die Öffentlichkeit zu tragen. Sie wollten damit Resonanzräume für die notwendige und verstärkte Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung schaffen. Diesem Anliegen entspricht das Buch von Andreas Kossert in hohem Maß, ohne dass es allerdings dieser Anregung bedurft hätte. Das Thema hat seit Jahrzehnten sowohl in der Forschung als auch in populärwissenschaftlichen Publikationen Konjunktur. Kossert selbst hat dazu wichtige Veröffentlichungen vorgelegt, an die er mit seinem neuen Buch nahtlos anknüpft. Also nur ein weiterer Band, der lediglich die Zahl der kaum zu überblickenden Veröffentlichungen zum großen Thema Flucht und Vertreibung vergrößert? Keineswegs. Mit seinem Ansatz, seiner Quellengrundlage und Struktur hebt sich das Buch deutlich aus der Masse einschlägiger Publikationen ab.
Flucht verwendet Kossert in seinem lesenswerten Buch in einer spezifischen, sicher kritisch zu hinterfragenden dreifachen Bedeutung. Erstens für Menschen in aller Welt, die im Laufe der Geschichte ihre Heimat verlassen mussten und müssen, weil ihr Leben in der Regel durch staatliche repressive Maßnahmen bedroht ist. Sie sind für ihn ohne Hierarchisierung und Wertung Flüchtlinge oder Vertriebene, aber keine Migranten im engeren Sinn. Flucht versteht er in diesem Sinn zweitens als Teil der Conditio humana, konstitutiv für die menschliche Natur schlechthin. Er folgt damit dem Satz von Rupert Neudeck, selbst Flüchtling sowie Vertriebener des Zweiten Weltkriegs und Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur für die Unterstützung der vietnamesischen Boatpeople: "In jedem Menschen steckt ein Flüchtling." Es ist demnach eine Menschheitsgeschichte, keine Weltgeschichte der Flucht, die Kossert schreibt. Damit verbunden ist der Blick des Autors drittens einer bestimmten Perspektive verpflichtet. Ihn interessieren die mit Flucht und Vertreibung verbundenen existentiellen Bedrohungen von Menschen, vor allem bezogen auf Europa und den Nahen Osten seit der Moderne und insbesondere im 20. Jahrhundert. Der geraffte und exemplarische, hie und da richtigzustellende historische Rückblick auf Zwangsmigrationen bis in die Antike hat nur die Funktion eines Prologs. Kossert stellt zentral und konsequent die individuellen Erfahrungen von Flüchtlingen und Vertriebenen in den Mittelpunkt, nicht, wie üblich, die der Täter, die Menschen zur Flucht zwingen. In epischer Breite schenkt er den Fluchtgeschichten von Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und sozialer Zugehörigkeit Gehör. Er lässt sie, ob in Europa, Afrika, Asien, Amerika oder Australien, in ihren in der Regel veröffentlichten persönlichen Zeugnissen zu Wort kommen - in Tagebüchern, Interviews, Autobiographien, Erinnerungen und literarischen Werken, ob Prosa oder Poesie.
Dem gewählten, theoretisch nicht untermauerten erfahrungsgeschichtlichen Ansatz folgend, entfaltet Kossert, ausgehend vom bewusst gewählten und hinterfragten Heimatbegriff, im Hauptteil seines Buches ein breites Panorama von Lebensgeschichten, die von Flucht geprägt waren und nach wie vor sind. Es sind berührende Geschichten, denen der Leser aber manchmal Mühe hat zu folgen, angesichts der geradezu fluchtartigen und schnellen zeitlichen sowie geographischen Sprünge zwischen Jahrhunderten und Jahrzehnten, zwischen Kontinenten, Regionen und Ländern. Die Erzählungen werden im Buch systematisch der in der Migrationsforschung klassischen Trias von Aufbruch, Weg und Ankunft zugeordnet. Auf eindrückliche, von Angst, Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung bestimmte Geschichten vom Weggehen, Fliehen, Allesverlieren, Deportation, Zwangsarbeit oder Vertreibung folgen solche, die vom Ankommen und Lagerdasein berichten; Erzählungen vom Unerwünschtsein, von Ausgrenzung, vom Nicht-dazu-Gehören und davon, als Außenseiter und lästiger Konkurrent am neuen Ort betrachtet zu werden; Texte und Gedichte über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Ankommens bis in die dritte Generation und darüber hinaus; oft vergeblich auf Zuhörer wartende Geschichten, die vom schmerzenden, nicht nachlassenden Erinnern an Zuhause und zermürbender Sehnsucht erzählen: "Das Weh um die Heimat ist so schlimm wie Hunger. An beiden kann man sterben."
Mit dem erfahrungsgeschichtlichen Ansatz schafft Kossert auch die Grundlage für ein Herzensanliegen, das seine Publikationen wie ein roter Faden durchzieht: Fluchterfahrungen zu vergleichen, wann und wo auch immer sie stattgefunden haben und nach wie vor stattfinden. Aus dieser und, was es zu unterstreichen gilt, nur aus der individuellen Perspektive der Betroffenen erscheinen Fluchtgeschichten und Fluchterfahrungen universell. Fliehen zu müssen, vertrieben zu werden, bedroht sein, hoffnungslos, erschöpft, gedemütigt, Familie und Verwandte suchend, nicht gewollt und nicht akzeptiert sein verbindet alle Flüchtlinge und Vertriebenen, unabhängig davon, wer sie zu Heimatlosen gemacht hat und weshalb. Aus der Perspektive ihrer Fluchterfahrung sind Flüchtlinge und Vertriebene, ob aus Griechenland, der Türkei, aus Schlesien, dem Sudetenland, aus Myanmar, Chile, Vietnam, Afghanistan, Syrien, ja weltweit, vergleichbar. So gesehen, ist der Handwagen von einst das auf dem Mittelmeer treibende Boot von heute. Aus diesem Blickwinkel kann, wofür Kossert zu Recht mit Nachdruck plädiert, die viel zu lange Zeit als Sonderfall betrachtete Geschichte der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen in die Menschheitsgeschichte von Flucht eingeordnet werden. Die zeitlosen und universellen Fluchterfahrungen lassen sich allerdings nicht losgelöst von den spezifischen Hintergründen, mit denen sie verbunden sind, betrachten. Denn auch wenn die Fluchterfahrungen vergleichbar, ja austauschbar sind, wird der Weg des Flüchtlings aus und in einer neuen Gesellschaft wesentlich auch vom juristischen Status bestimmt, der ihm von der Weltgemeinschaft und nationalen Gesetzgebungen zugesprochen wird. Deshalb weichen auch die rechtlichen Begriffe für Flüchtlinge und Vertriebene von den von ihnen für sich selbst benutzten ab.
Eine der ersten und die letzte Abbildung des Buches zeigen Schlüssel, die Flüchtlinge mitgenommen haben, als sie fliehen mussten, vertrieben wurden. Sie stehen sinnbildlich auch für das Buch. Es ist ein Schlüssel für das Verständnis von Menschen, die zur Flucht gezwungen wurden und werden und auf Skepsis und Ablehnung stoßen. Indem Kossert auch sprachlich gediegene kulturhistorische Migrationsforschung mit Empathie gegenüber Flüchtlingen verbindet, liefert er einen wichtigen Beitrag zu den notwendigen aktuellen und künftigen Debatten über Flüchtlinge, Flucht und Vertreibung - historische Aufklärungsliteratur für die breite Leserschaft im besten Sinn des Wortes. Flüchtlinge sind, daran lässt das Buch keinen Zweifel, immer ein Indikator für den Grad der Menschlichkeit einer Gesellschaft und dafür, wie zerbrechlich unsere scheinbar so sichere Existenz insgesamt ist.
MATHIAS BEER
Andreas Kossert: "Flucht". Eine Menschheitsgeschichte.
Siedler Verlag, München 2020. 432 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Flucht als existentielle Menschheitserfahrung
Am 20. Juni 2019, anlässlich des 2001 eingeführten Weltflüchtlingstags, haben der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die UN-Flüchtlingshilfe Deutschland eine Initiative mit dem Ziel gestartet, das Thema Flucht noch stärker in die Öffentlichkeit zu tragen. Sie wollten damit Resonanzräume für die notwendige und verstärkte Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung schaffen. Diesem Anliegen entspricht das Buch von Andreas Kossert in hohem Maß, ohne dass es allerdings dieser Anregung bedurft hätte. Das Thema hat seit Jahrzehnten sowohl in der Forschung als auch in populärwissenschaftlichen Publikationen Konjunktur. Kossert selbst hat dazu wichtige Veröffentlichungen vorgelegt, an die er mit seinem neuen Buch nahtlos anknüpft. Also nur ein weiterer Band, der lediglich die Zahl der kaum zu überblickenden Veröffentlichungen zum großen Thema Flucht und Vertreibung vergrößert? Keineswegs. Mit seinem Ansatz, seiner Quellengrundlage und Struktur hebt sich das Buch deutlich aus der Masse einschlägiger Publikationen ab.
Flucht verwendet Kossert in seinem lesenswerten Buch in einer spezifischen, sicher kritisch zu hinterfragenden dreifachen Bedeutung. Erstens für Menschen in aller Welt, die im Laufe der Geschichte ihre Heimat verlassen mussten und müssen, weil ihr Leben in der Regel durch staatliche repressive Maßnahmen bedroht ist. Sie sind für ihn ohne Hierarchisierung und Wertung Flüchtlinge oder Vertriebene, aber keine Migranten im engeren Sinn. Flucht versteht er in diesem Sinn zweitens als Teil der Conditio humana, konstitutiv für die menschliche Natur schlechthin. Er folgt damit dem Satz von Rupert Neudeck, selbst Flüchtling sowie Vertriebener des Zweiten Weltkriegs und Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur für die Unterstützung der vietnamesischen Boatpeople: "In jedem Menschen steckt ein Flüchtling." Es ist demnach eine Menschheitsgeschichte, keine Weltgeschichte der Flucht, die Kossert schreibt. Damit verbunden ist der Blick des Autors drittens einer bestimmten Perspektive verpflichtet. Ihn interessieren die mit Flucht und Vertreibung verbundenen existentiellen Bedrohungen von Menschen, vor allem bezogen auf Europa und den Nahen Osten seit der Moderne und insbesondere im 20. Jahrhundert. Der geraffte und exemplarische, hie und da richtigzustellende historische Rückblick auf Zwangsmigrationen bis in die Antike hat nur die Funktion eines Prologs. Kossert stellt zentral und konsequent die individuellen Erfahrungen von Flüchtlingen und Vertriebenen in den Mittelpunkt, nicht, wie üblich, die der Täter, die Menschen zur Flucht zwingen. In epischer Breite schenkt er den Fluchtgeschichten von Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und sozialer Zugehörigkeit Gehör. Er lässt sie, ob in Europa, Afrika, Asien, Amerika oder Australien, in ihren in der Regel veröffentlichten persönlichen Zeugnissen zu Wort kommen - in Tagebüchern, Interviews, Autobiographien, Erinnerungen und literarischen Werken, ob Prosa oder Poesie.
Dem gewählten, theoretisch nicht untermauerten erfahrungsgeschichtlichen Ansatz folgend, entfaltet Kossert, ausgehend vom bewusst gewählten und hinterfragten Heimatbegriff, im Hauptteil seines Buches ein breites Panorama von Lebensgeschichten, die von Flucht geprägt waren und nach wie vor sind. Es sind berührende Geschichten, denen der Leser aber manchmal Mühe hat zu folgen, angesichts der geradezu fluchtartigen und schnellen zeitlichen sowie geographischen Sprünge zwischen Jahrhunderten und Jahrzehnten, zwischen Kontinenten, Regionen und Ländern. Die Erzählungen werden im Buch systematisch der in der Migrationsforschung klassischen Trias von Aufbruch, Weg und Ankunft zugeordnet. Auf eindrückliche, von Angst, Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung bestimmte Geschichten vom Weggehen, Fliehen, Allesverlieren, Deportation, Zwangsarbeit oder Vertreibung folgen solche, die vom Ankommen und Lagerdasein berichten; Erzählungen vom Unerwünschtsein, von Ausgrenzung, vom Nicht-dazu-Gehören und davon, als Außenseiter und lästiger Konkurrent am neuen Ort betrachtet zu werden; Texte und Gedichte über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Ankommens bis in die dritte Generation und darüber hinaus; oft vergeblich auf Zuhörer wartende Geschichten, die vom schmerzenden, nicht nachlassenden Erinnern an Zuhause und zermürbender Sehnsucht erzählen: "Das Weh um die Heimat ist so schlimm wie Hunger. An beiden kann man sterben."
Mit dem erfahrungsgeschichtlichen Ansatz schafft Kossert auch die Grundlage für ein Herzensanliegen, das seine Publikationen wie ein roter Faden durchzieht: Fluchterfahrungen zu vergleichen, wann und wo auch immer sie stattgefunden haben und nach wie vor stattfinden. Aus dieser und, was es zu unterstreichen gilt, nur aus der individuellen Perspektive der Betroffenen erscheinen Fluchtgeschichten und Fluchterfahrungen universell. Fliehen zu müssen, vertrieben zu werden, bedroht sein, hoffnungslos, erschöpft, gedemütigt, Familie und Verwandte suchend, nicht gewollt und nicht akzeptiert sein verbindet alle Flüchtlinge und Vertriebenen, unabhängig davon, wer sie zu Heimatlosen gemacht hat und weshalb. Aus der Perspektive ihrer Fluchterfahrung sind Flüchtlinge und Vertriebene, ob aus Griechenland, der Türkei, aus Schlesien, dem Sudetenland, aus Myanmar, Chile, Vietnam, Afghanistan, Syrien, ja weltweit, vergleichbar. So gesehen, ist der Handwagen von einst das auf dem Mittelmeer treibende Boot von heute. Aus diesem Blickwinkel kann, wofür Kossert zu Recht mit Nachdruck plädiert, die viel zu lange Zeit als Sonderfall betrachtete Geschichte der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen in die Menschheitsgeschichte von Flucht eingeordnet werden. Die zeitlosen und universellen Fluchterfahrungen lassen sich allerdings nicht losgelöst von den spezifischen Hintergründen, mit denen sie verbunden sind, betrachten. Denn auch wenn die Fluchterfahrungen vergleichbar, ja austauschbar sind, wird der Weg des Flüchtlings aus und in einer neuen Gesellschaft wesentlich auch vom juristischen Status bestimmt, der ihm von der Weltgemeinschaft und nationalen Gesetzgebungen zugesprochen wird. Deshalb weichen auch die rechtlichen Begriffe für Flüchtlinge und Vertriebene von den von ihnen für sich selbst benutzten ab.
Eine der ersten und die letzte Abbildung des Buches zeigen Schlüssel, die Flüchtlinge mitgenommen haben, als sie fliehen mussten, vertrieben wurden. Sie stehen sinnbildlich auch für das Buch. Es ist ein Schlüssel für das Verständnis von Menschen, die zur Flucht gezwungen wurden und werden und auf Skepsis und Ablehnung stoßen. Indem Kossert auch sprachlich gediegene kulturhistorische Migrationsforschung mit Empathie gegenüber Flüchtlingen verbindet, liefert er einen wichtigen Beitrag zu den notwendigen aktuellen und künftigen Debatten über Flüchtlinge, Flucht und Vertreibung - historische Aufklärungsliteratur für die breite Leserschaft im besten Sinn des Wortes. Flüchtlinge sind, daran lässt das Buch keinen Zweifel, immer ein Indikator für den Grad der Menschlichkeit einer Gesellschaft und dafür, wie zerbrechlich unsere scheinbar so sichere Existenz insgesamt ist.
MATHIAS BEER
Andreas Kossert: "Flucht". Eine Menschheitsgeschichte.
Siedler Verlag, München 2020. 432 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein wichtiges, ja wegweisendes Buch. So einfühlsam und verständnisvoll, wie das hier geschieht, sind die bedrückenden Erfahrungen, welche die Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland machen mussten, noch nie erzählt worden. Dadurch erhält die mit so viel Rechthaberei und gegenseitiger Bezichtigung belastete Debatte um das richtige Gedenken an Flucht und Vertreibung eine neue Wendung.« Die Zeit