Haffner ist charmant, eitel und moralisch verwerflich. Er ist ein Freigeist und ein Wüstling. Und er liebt Frauen. In einem behaglichen Alpen-Kurort sitzt Haffner nun, mit 78 Jahren, und denkt über die Verkopplungen des Lebens nach. Und sucht ein Allheilmittel, eine Wiedergutmachung. Und noch mehr Frauen. Nach und nach kommen bei ihm und dem Leser Fragen auf. Hat man seine Vergangenheit eigentlich verdient? Hat man die Familie, die man brauchte? Und die eigene Geschichte? Musste das sein? Ein brillanter, bösartiger und melancholischer Roman, eine unzüchtige Komödie, die den Leser verblüfft zurücklässt. »Einer der besten britischen Romane seit Jahren.« The Guardian
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2010Peepshow der reifen Jahre
Zirkusrevue flüchtiger Reflexe: Adam Thirlwell, der für sein Debüt "Strategie" viel Lob einheimste, hält in "Flüchtig" einem alternden Libertin die Stange.
Trotz seiner 78 Jahre und seines himmelblauen Jogginganzugs ist Raphael Haffner immer noch der Liebling der Frauen; selbst sein schwuler Masseur denkt, nicht nur der Namensähnlichkeit wegen, sofort an Hugh Hefner. Haffner ist ein Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts: Ewiger Jude und aristokratischer Anarchist, Zyniker und Menschenfreund, Bankier und Soldat; vor allem aber ist er ein alter Playboy. Eigentlich wollte er bei seinem Ausflug in ein Alpenhotel nur eine Erbschaft seiner verstorbenen Frau Livia regeln. Aber was kann Haffner dafür, dass er so viel Charme und Chuzpe hat? Frau Tummel, die resolute Matrone, macht ihm Avancen. Zinka, die junge Rumänin, lässt den greisen Faun im Kleiderschrank heimlich zuschauen, was sie mit ihrem Liebhaber im Schaumbad treibt. Die Frauen reizen Haffners erschlaffte Nerven und seine brillante Formulierungsgabe zu Höchstleistungen, aber als Leser von Edward Gibbon und Suetons Cäsarenbiographien weiß er auch, dass diktatorische Macht den Keim von Dekadenz und Untergang in sich trägt und jeder Triumph nur ein Pyrrhussieg ist.
Das voyeuristische Theater im Schrank, Frau Tummels peinliche Hingabe, die Sadomaso-Orgien mit Zinka sind für den althistorisch bewanderten "Bewunderer von Effekten" nur noch schale Genüsse, nicht halb so beglückend wie die Erinnerung an die Zeiten mit Livia; damals stand er als Bankier von Jayne Mansfield und Tanzpartner von Frau Thatcher, als Holocaust-Überlebender, Weltkriegssoldat und universaler Schwerenöter noch seinen Mann an allen Fronten seines Jahrhunderts. Ähnlich wie bei Philip Roths Portnoy ist in Haffners sexuellen Beschwerden und Obsessionen die Geschichte Fleisch geworden, wenn auch eher welkes. Wie für Roths egomanische Helden gehören auch für den britischen Dandy Liebesverrat im Kleinen und Untreue gegen Nation, Religion und Klasse zusammen. Wer Champagner und Frauen liebt, mit dem Geld und den Idealen anderer Leute spekuliert, kann kein langweiliger Engländer oder gar orthodoxer Jude sein. "Haffner, mein Held", bestätigt sein namenloser junger Biograph (der mit Adam Thirlwell nicht nur das Alter teilt), "glaubte nicht an den Ernst des Lebens."
"Kehren Sie wieder, Monsieur Stendhal! Ziehen Sie vom Leder, Mr. Dickens! Schreiben Sie einen gefühlvollen Bildungsroman für die Ältesten und Reifsten." Vergil, Flaubert, Kafka, Nabokov und die 42 anderen Großmeister der europäischen Literatur, denen Thirlwell in einer Nachbemerkung für "gelehrte Zitate, die meisten abgewandelt", dankt, haben den Ruf nicht erhört. So hat er sich selbst Haffners erbarmt und wenn schon keinen reifen Bildungsroman, so doch die "Peepshow seiner reifen Jahre" geschrieben.
Der alternde Libertin, der melancholisch auf sein vergeudetes Leben zurückblickt, ist allerdings seit Casanova eine ausgereizte Figur. Wenn er dann noch Plattitüden über Weib und Welt wie boshafte Bonmots und unwiderstehliche Epigramme verkündet, wird er vollends zum Ärgernis. "Alles, was geschah, dachte Haffner, entpuppte sich als unerwartet klein. Das Große war viel kleiner als erwartet." Das gilt nicht nur für Haffners männliches Teil: Auch Thirlwells affektierte, manierierte "Brillanz" kann ihren Mangel an Substanz nur oberflächlich kaschieren. So entpuppt sich der "Endpunkt der Moderne" als koketter Kindskopf und der große Bildungsroman als kleine Farce.
"Der wahre Freigeist", philosophiert der alte Satyr Haffner einmal, "ist ein Meister der Wiederholung. Im Gegensatz zum Künstler des Einmaligen, des Improvisierten. Jeder kann improvisieren. Das wahre Talent liegt in der Beständigkeit." Thirlwell macht die geistreiche Pointe allen Ernstes zu seinem Programm. Schon die (an John Updikes "Rabbit"-Zyklus angelehnten) Kapitelüberschriften - "Haffner Entfesselt", "Haffner Entflammt", "Haffner Verbannt", "Haffner Jüdisch", "Haffner Gastronomisch" - sind nicht unbedingt originelle Stilmittel, und der ständige Wink mit dem Zaunpfahl abendländischer Bildung ist auch nicht sehr lustig. Zinkas nass gescheiteltes Haar erinnert Haffner an alle androgynen Frisuren seines Jahrhunderts, etwa der ",Flappers' aus den zwanziger Jahren und der nouvelle vague, der movida nach Franco, der zugleich perversen und zivilisierten dolce vita der Faschisten und Kommunisten in Rom". Eine Nacht mit einer Frau oder in der Oper sind für ihn sein "Cinco de Mayo, sein Risorgimento, die Pariser événements seiner wilden Erhebung". Madame Tummel und die zerdehnte Zeit auf dem Zauberberg beschwören Thomas Mann herauf, aber das Glasperlenspiel führt nur ins Leere. Im Grunde besteht "Flüchtig" aus lauter Zitaten, preziösen Metaphern und unoriginellen Wiederholungen: ein Schaumbad epigonaler Selbstgefälligkeit.
Thirlwell, Oxford-Absolvent und eleganter "Esquire"-Kolumnist, erhielt für seinen ersten Roman "Strategie" viel Lob; schon sein zweites Buch, ein literarisches Vexierspiel um "Miss Herbert", die Gouvernante von Flauberts Nichte, wurde von der englischen Kritik als eitles Getändel gerügt. Man muss schon Milan Kundera heißen, um nun in diesen frivolen, gelegentlich auch pornographischen gewagten Haffneriaden die unerträgliche Leichtigkeit des Seins zu entdecken: "Bei Adam Thirlwell ist der Witz melancholisch, die Melancholie hinterhältig und das Talent einzigartig." "Flüchtig" ist nicht die "unzüchtige Komödie" des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern eine Zirkusrevue flüchtiger Effekte, kalter Provokationen und geborgter Kunststückchen, weniger ein Roman als eine Sammlung nachlässig zusammengeleimter Glossen über Cricket, Fußball, französischen Hiphop, Jazz und jüdische Identität. Wenigstens der Held ist auf der Höhe seiner Zeit: Haffner ist ungefähr so bescheiden und liebenswert wie Nero und Caligula.
MARTIN HALTER
Adam Thirlwell: "Flüchtig". Roman. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010. 384 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zirkusrevue flüchtiger Reflexe: Adam Thirlwell, der für sein Debüt "Strategie" viel Lob einheimste, hält in "Flüchtig" einem alternden Libertin die Stange.
Trotz seiner 78 Jahre und seines himmelblauen Jogginganzugs ist Raphael Haffner immer noch der Liebling der Frauen; selbst sein schwuler Masseur denkt, nicht nur der Namensähnlichkeit wegen, sofort an Hugh Hefner. Haffner ist ein Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts: Ewiger Jude und aristokratischer Anarchist, Zyniker und Menschenfreund, Bankier und Soldat; vor allem aber ist er ein alter Playboy. Eigentlich wollte er bei seinem Ausflug in ein Alpenhotel nur eine Erbschaft seiner verstorbenen Frau Livia regeln. Aber was kann Haffner dafür, dass er so viel Charme und Chuzpe hat? Frau Tummel, die resolute Matrone, macht ihm Avancen. Zinka, die junge Rumänin, lässt den greisen Faun im Kleiderschrank heimlich zuschauen, was sie mit ihrem Liebhaber im Schaumbad treibt. Die Frauen reizen Haffners erschlaffte Nerven und seine brillante Formulierungsgabe zu Höchstleistungen, aber als Leser von Edward Gibbon und Suetons Cäsarenbiographien weiß er auch, dass diktatorische Macht den Keim von Dekadenz und Untergang in sich trägt und jeder Triumph nur ein Pyrrhussieg ist.
Das voyeuristische Theater im Schrank, Frau Tummels peinliche Hingabe, die Sadomaso-Orgien mit Zinka sind für den althistorisch bewanderten "Bewunderer von Effekten" nur noch schale Genüsse, nicht halb so beglückend wie die Erinnerung an die Zeiten mit Livia; damals stand er als Bankier von Jayne Mansfield und Tanzpartner von Frau Thatcher, als Holocaust-Überlebender, Weltkriegssoldat und universaler Schwerenöter noch seinen Mann an allen Fronten seines Jahrhunderts. Ähnlich wie bei Philip Roths Portnoy ist in Haffners sexuellen Beschwerden und Obsessionen die Geschichte Fleisch geworden, wenn auch eher welkes. Wie für Roths egomanische Helden gehören auch für den britischen Dandy Liebesverrat im Kleinen und Untreue gegen Nation, Religion und Klasse zusammen. Wer Champagner und Frauen liebt, mit dem Geld und den Idealen anderer Leute spekuliert, kann kein langweiliger Engländer oder gar orthodoxer Jude sein. "Haffner, mein Held", bestätigt sein namenloser junger Biograph (der mit Adam Thirlwell nicht nur das Alter teilt), "glaubte nicht an den Ernst des Lebens."
"Kehren Sie wieder, Monsieur Stendhal! Ziehen Sie vom Leder, Mr. Dickens! Schreiben Sie einen gefühlvollen Bildungsroman für die Ältesten und Reifsten." Vergil, Flaubert, Kafka, Nabokov und die 42 anderen Großmeister der europäischen Literatur, denen Thirlwell in einer Nachbemerkung für "gelehrte Zitate, die meisten abgewandelt", dankt, haben den Ruf nicht erhört. So hat er sich selbst Haffners erbarmt und wenn schon keinen reifen Bildungsroman, so doch die "Peepshow seiner reifen Jahre" geschrieben.
Der alternde Libertin, der melancholisch auf sein vergeudetes Leben zurückblickt, ist allerdings seit Casanova eine ausgereizte Figur. Wenn er dann noch Plattitüden über Weib und Welt wie boshafte Bonmots und unwiderstehliche Epigramme verkündet, wird er vollends zum Ärgernis. "Alles, was geschah, dachte Haffner, entpuppte sich als unerwartet klein. Das Große war viel kleiner als erwartet." Das gilt nicht nur für Haffners männliches Teil: Auch Thirlwells affektierte, manierierte "Brillanz" kann ihren Mangel an Substanz nur oberflächlich kaschieren. So entpuppt sich der "Endpunkt der Moderne" als koketter Kindskopf und der große Bildungsroman als kleine Farce.
"Der wahre Freigeist", philosophiert der alte Satyr Haffner einmal, "ist ein Meister der Wiederholung. Im Gegensatz zum Künstler des Einmaligen, des Improvisierten. Jeder kann improvisieren. Das wahre Talent liegt in der Beständigkeit." Thirlwell macht die geistreiche Pointe allen Ernstes zu seinem Programm. Schon die (an John Updikes "Rabbit"-Zyklus angelehnten) Kapitelüberschriften - "Haffner Entfesselt", "Haffner Entflammt", "Haffner Verbannt", "Haffner Jüdisch", "Haffner Gastronomisch" - sind nicht unbedingt originelle Stilmittel, und der ständige Wink mit dem Zaunpfahl abendländischer Bildung ist auch nicht sehr lustig. Zinkas nass gescheiteltes Haar erinnert Haffner an alle androgynen Frisuren seines Jahrhunderts, etwa der ",Flappers' aus den zwanziger Jahren und der nouvelle vague, der movida nach Franco, der zugleich perversen und zivilisierten dolce vita der Faschisten und Kommunisten in Rom". Eine Nacht mit einer Frau oder in der Oper sind für ihn sein "Cinco de Mayo, sein Risorgimento, die Pariser événements seiner wilden Erhebung". Madame Tummel und die zerdehnte Zeit auf dem Zauberberg beschwören Thomas Mann herauf, aber das Glasperlenspiel führt nur ins Leere. Im Grunde besteht "Flüchtig" aus lauter Zitaten, preziösen Metaphern und unoriginellen Wiederholungen: ein Schaumbad epigonaler Selbstgefälligkeit.
Thirlwell, Oxford-Absolvent und eleganter "Esquire"-Kolumnist, erhielt für seinen ersten Roman "Strategie" viel Lob; schon sein zweites Buch, ein literarisches Vexierspiel um "Miss Herbert", die Gouvernante von Flauberts Nichte, wurde von der englischen Kritik als eitles Getändel gerügt. Man muss schon Milan Kundera heißen, um nun in diesen frivolen, gelegentlich auch pornographischen gewagten Haffneriaden die unerträgliche Leichtigkeit des Seins zu entdecken: "Bei Adam Thirlwell ist der Witz melancholisch, die Melancholie hinterhältig und das Talent einzigartig." "Flüchtig" ist nicht die "unzüchtige Komödie" des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern eine Zirkusrevue flüchtiger Effekte, kalter Provokationen und geborgter Kunststückchen, weniger ein Roman als eine Sammlung nachlässig zusammengeleimter Glossen über Cricket, Fußball, französischen Hiphop, Jazz und jüdische Identität. Wenigstens der Held ist auf der Höhe seiner Zeit: Haffner ist ungefähr so bescheiden und liebenswert wie Nero und Caligula.
MARTIN HALTER
Adam Thirlwell: "Flüchtig". Roman. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010. 384 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Christopher Schmidt hat der überambitionierte Roman des jungen Briten Adam Thirlwell erschöpft bis verärgert, er fühlt sich gar zum "Garderobenständer eines Autors degradiert, der als literarischer Oberklassensportler seine kunstvollen Spielzüge vorführt". Missmutig gestimmt haben ihn der enorme Aufwand, den Thirwell mit seinem Protagonisten Haffner betreibt, der auf seine alten Tage in ein heruntergekommenes Hotel in einem postkommunistischen Landes geschickt wird, um dort vorschriftsmäßig, wie es sich für einen ausgekochten und sexbesessenen Kapitalisten gehört, auf der Suche nach einem Abenteuer zu sterben. Wozu die ganze Posse?, fragt sich der Rezensent, den der Versuch einer Überhöhung ins Allgemeingültige unter Zuhilfenahme sämtlicher verfügbarer literarischer Hausgötter nicht eben versöhnlicher stimmt. Die Abschnitte, die Haffner als nicht assimilierten Juden charakterisieren, dem es mit seinem Selbstverständnis als Engländer während des Zweiten Weltkriegs schwer fällt sich zu seinem Volk zu bekennen, zählt Schmidt zu den interessantesten des Buches.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Christopher Schmidt hat der überambitionierte Roman des jungen Briten Adam Thirlwell erschöpft bis verärgert, er fühlt sich gar zum "Garderobenständer eines Autors degradiert, der als literarischer Oberklassensportler seine kunstvollen Spielzüge vorführt". Missmutig gestimmt haben ihn der enorme Aufwand, den Thirwell mit seinem Protagonisten Haffner betreibt, der auf seine alten Tage in ein heruntergekommenes Hotel in einem postkommunistischen Landes geschickt wird, um dort vorschriftsmäßig, wie es sich für einen ausgekochten und sexbesessenen Kapitalisten gehört, auf der Suche nach einem Abenteuer zu sterben. Wozu die ganze Posse?, fragt sich der Rezensent, den der Versuch einer Überhöhung ins Allgemeingültige unter Zuhilfenahme sämtlicher verfügbarer literarischer Hausgötter nicht eben versöhnlicher stimmt. Die Abschnitte, die Haffner als nicht assimilierten Juden charakterisieren, dem es mit seinem Selbstverständnis als Engländer während des Zweiten Weltkriegs schwer fällt sich zu seinem Volk zu bekennen, zählt Schmidt zu den interessantesten des Buches.
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