Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Zum Nullpunkt: Inga Abeles Roman "Flut"
"Baltische Tragödie" ist nicht nur Titel eines Werks Siegfried von Vegesacks, sondern beschreibt wohl auch die Kenntnis baltischer Literaturen hierzulande recht gut. Ein Jammer. Kaum etwas ist aus diesen drei Ländern bekannt. Vegesack, 1888 in Wolmar geboren, hoch im Norden Lettlands, das damals noch Livland hieß, schildert in seiner Romantrilogie das Nebeneinander von deutschbaltischem Adel und livländischer Bevölkerung, wobei er andeutend beklagt, es läge eher an deutscher Reserviertheit, dass daraus kein Miteinander geworden ist. Wie Werner Bergengruen hat er sich als Erzähler hervorgetan, wie Johannes von Guenther aus dem Russischen übersetzt. Alle drei konnten beobachten, wie sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die lettische Literatur entwickelte, es jedoch schon bald wieder mit russischer Dominanz zu tun bekam.
Umso erfreulicher der Roman "Flut" der 1972 geborenen Lettin Inga Abele. Sie linst der Protagonistin Ieva gleichsam über die Schulter, wenn diese, etwa Mitte vierzig und hochgradig depressiv, aus einer Zeit nahe unserer Gegenwart zurückblickt auf ihr Leben. Das Rückwärtserzählen hin zur Geburt ist noch der harmloseste aller formalen Tricks und Kniffe. Perspektivwechsel, innerer Monolog und Briefe, alttestamentliche Anklänge und Alternativmilieu-Jargon prägen den Text und verlangen nach sehr konzentrierter Lektüre. Aktuell arbeitet Ieva beim Film: "Ihre Drehbücher handeln davon, dass nichts geschieht, denn es kann hier nichts geschehen." Ein einziger Satz, um empfundene Ödnis einzufangen. Allerdings geht es auch weniger pointiert: "Ein Strunt sind all die gegenseitigen Verständnisse, Seelenverwandtschaften und Geistesgigangentümer - das Allerwichtigste ist der Garten zweier schützender Hände, wenn du nicht mehr kannst." Abstrakte Passagen dieser Art mäandern durch den Text. Die Lektüre gleicht einem Spaziergang an der Ostsee, bei dem Bernstein aufgelesen wird. Mal findet sich im durchscheinenden Cognacbraun eine vollständige kleine Geschichte eingeschlossen, mal erinnert ein solcher Fund eher an eine Schneekugel mit Bewusstseinsstromschnelle darin.
Die Lesefunde vereinzelter Episoden deuten an, was es über Land und Leute zu sagen gäbe. Ieva ist gerade achtzehn, als sie nach glücklicher Kindheit bei der Oma auf dem Lande Andrejs heiratet. Die frühe Ehe ist für die damalige Zeit - als die Sowjetunion zerfällt und ein eigenständiges Lettland entsteht - recht typisch. Eine Tochter wird geboren, Monta, doch Ieva fühlt sich immer gefangener. Sie verlässt Andrejs, zieht mit dem neuen Lebensgefährten Aksels und Monta bei ihren Eltern ein. Aksels schließt sich Punkern in Riga an, kifft und trinkt, Ieva sehnt sich nach Freiheit und schafft mit wechselnden Jobs Geld heran. Irgendwann zieht Monta aus, das Mutter-Tochter-Verhältnis ist kaputt. Schließlich wird bei Aksels Krebs diagnostiziert. Ieva soll ihn erschießen, bringt das aber nicht fertig, so dass der abservierte Andrejs den Abzug betätigen muss.
Die Figur der Ieva ähnelt der Autorin im Alter und der Arbeit beim Film. Ihr Heranreifen geht quasi mit dem Heranreifen Lettlands einher. Russland ist ebenso ein Thema wie das Exil, ein Besuch in Schweden noch in der Umbruchszeit und ein Aufenthalt an der Berliner Akademie der Künste Jahre später, das Leben in einer Kommunalka und die Entstehung von Alternativszenen.
Verzweifelt sucht Ieva nach Freiheit und Selbstverwirklichung. Meist scheitert sie an sich selbst. Mehrere Selbstmordversuche hat sie bereits hinter sich. Das ist eine persönliche Tragödie, ohne Frage. Hätte sich Abele auf sie konzentriert, wäre vielleicht ein Text herausgekommen, der weniger eigenwillig ist, dafür aber auch weniger überfrachtet. Stattdessen erzählt sie die Geschichte einer Depressiven, deren Fragmente sich kaum zusammenfügen. Eher erinnern sie an Wettbewerbsbeiträge in einem globalen Metaphernwettstreit zur Beschreibung dieser Krankheit. Einzelne Episoden dagegen bestechen. Und reichen doch nicht aus, die mühevolle Lektüre zu entgelten. Die Konflikte, Anfechtungen und Reize, denen Ieva ausgesetzt ist, bilden außerliterarisch zwar ein einziges Leben, lassen sich aber vielleicht nicht unbedingt eins zu eins in einem Roman abbilden. Erzählerisch lässt das "baltische Glück" damit gegenwärtig noch auf sich warten. Leider.
CHRISTIANE PÖHLMANN.
Inga Abele: "Flut". Roman.
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll.
Kommode Verlag, Zürich 2020. 496 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main