Ist Folter in einem modernen Rechtsstaat unter bestimmten Bedingungen legitimierbar? Für ein eindeutiges Bekenntnis zur Tradition des modernen Rechtsstaats, der aus dem Kampf gegen Folter und ihrer Delegitimierung hervorgegangen ist, bedarf es der Ächtung jeder Art von Folter. Dies kann nicht aufgegeben werden, ohne unsere Rechtskultur schwer zu beschädigen und letztlich aufs Spiel zu setzen. "Wir sind, was wir tun. Und wir sind, was wir versprechen, niemals zu tun".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2005Das zerbrochene Individuum
Jan Philipp Reemtsmas Gründe gegen eine Bundesfolterordnung
Im Jahre 1992 hielt Niklas Luhmann einen berühmt gewordenen Vortrag mit dem Titel: "Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?". Nach gutem Juristengebrauch eröffnete Luhmann seine Darlegungen mit einem Fall. Er forderte seine Zuhörer auf, sich vorzustellen, sie seien höhere Polizeioffiziere, und sich in folgendes Szenario hineinzuversetzen: "In Ihrem Lande - und das könnte in nicht zu ferner Zukunft auch Deutschland sein - gäbe es viele linke und rechte Terroristen, jeden Tag Morde, Brandanschläge, Tötungen und Schäden für zahlreiche Unbeteiligte. Sie hätten den Führer einer solchen Gruppe gefangen. Sie könnten, wenn Sie ihn folterten, vermutlich das Leben vieler Menschen retten - zehn, hundert, tausend, wir können den Fall variieren. Würden Sie es tun?"
Jan Philipp Reemtsma zögert nicht mit der Antwort auf Luhmanns hypothetische Frage. Ja, so bekennt Reemtsma in seinem prägnanten Buch über die Folter im Rechtsstaat, er würde es tun. Er würde den Gefangenen so lange quälen, bis dieser ihm alles verraten habe, was er wisse; "jedenfalls würde mir die Grenze meines Tuns nicht mein Mitgefühl mit dieser Person ziehen, sondern der irgendwann eintretende Ekel vor mir selbst". Dennoch, so fährt Reemtsma fort, würde er selbst in solchen Extremfällen nicht für eine Legalisierung der Folter eintreten. Weshalb nicht?
Verglichen mit den herkömmlichen Beschwörungen der Menschenwürde des Gefangenen, wirkt Reemtsmas Antwort auf den ersten Blick erfrischend originell. "Es geht nicht darum, ob jemand zu Recht sagen kann, der Gequälte habe sich die Qual selbst zuzuschreiben. Es geht darum, daß wir es sind, die quälen." Die Folter ist Reemtsma zufolge absolut verboten, nicht weil der gefangene Terrorist ein moralisches Anrecht auf Mitleid und Schonung hätte, sondern weil die Zulassung der peinlichen Befragung uns selbst den Boden unseres rechtsstaatlichen Selbstverständnisses unter den Füßen wegzuziehen drohe.
Diese Verschiebung des Begründungsansatzes ist rhetorisch durchaus geschickt. Der Mensch läßt sich, so sollte man meinen, im allgemeinen leichter von Gründen seines wohlverstandenen Eigeninteresses als von der Forderung zur Achtung fremder Belange ansprechen, zumal wenn es sich um so unsympathische Gestalten wie Bin Laden und seine Helfershelfer handelt.
Wie aber begründet Reemtsma seine These, nicht nur der Gefolterte, sondern auch der zu diesem Mittel greifende Rechtsstaat selbst würde an der Folter zugrunde gehen? Daß diese Behauptung sich keineswegs von selber versteht, lehrt eine eigene Beobachtung des Autors. Er weist darauf hin, daß die zivilisatorische Grunderfahrung des vergangenen Jahrhunderts antinomisch gewesen sei: "Allenthalben hat es zivilisatorische Abstürze gegeben und ein erstaunlich schnelles Sich-wieder-Berappeln." In Vietnam hätten die Vereinigten Staaten einen Krieg geführt, der in mancher Hinsicht nur einer skrupellosen völkermörderischen Diktatur zuzutrauen gewesen wäre, "und doch waren die USA keine, und Calley kam vor Gericht".
Als empirische Aussage ist Reemtsmas These somit nicht haltbar. Deshalb bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu ihrer Begründung in die Sphäre der reinen Normativität zurückzuziehen. In diesem Sinne schreibt er: "Die Folter ist mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar, weil durch sie das Individuum in seiner Fähigkeit, ein Rechtssubjekt zu sein, angegriffen, ja im Extremfall als autonomes Individuum zerbrochen und zerstört wird." Der Rechtsstaat garantiere dem von seinen Maßnahmen Betroffenen stets ein Minimum an Resistenzmöglichkeit. Die Folter hingegen "zielt auf die totale Unterwerfung des Gefolterten".
Damit kehrt Reemtsma stillschweigend auf die herkömmliche Begründungsbahn zurück. Die von ihm konstatierte vollständige Unterwerfung des Beschuldigten unter die Gewalt seines Peinigers wird üblicherweise als menschenwürdewidrig bezeichnet. Das von Reemtsma in Anspruch genommene Eigeninteresse der Rechtsgemeinschaft geht mithin in der ordnungsgemäßen Wahrung des betroffenen Fremdinteresses auf. Ein zusätzliches argumentatives Potential wird dadurch nicht freigesetzt.
Dies wäre freilich nicht weiter mißlich, wenn Reemtsmas Gründe für die Unzulässigkeit der Folter auch aus eigener Kraft bestehen könnten. Dem ist jedoch nicht so. Reemtsma beweist einerseits zuviel, andererseits aber zuwenig. Zu viel beweist er insofern, als auch der gezielte polizeiliche Todesschuß den Betroffenen als autonomes Individuum zerstört. Würde Reemtsma so weit gehen, diese Maßnahme gleichfalls für unzulässig zu erklären? Zu wenig beweist der Verfasser hingegen, wo er auf die Aufhebung der Resistenzmöglichkeit des Gefolterten abstellt. Nur eine keinerlei normativen Beschränkungen unterliegende Folter hebt die Chance des Opfers zum Widerstand zur Gänze auf. Der maßvollen Folter zu widerstehen ist hingegen möglich. An einer durch strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gekennzeichneten Bundesfolterordnung würde Reemtsmas Argument deshalb zerschellen. Wider seinen Willen demonstriert Reemtsma, wie schwierig es ist, den Schrecken der Folter auf den Begriff zu bringen.
Vielleicht sind es ohnehin nicht die Begriffe, die über die Haltung einer Rechtsgemeinschaft zur Folter entscheiden, sondern die Bilder. Wie Reemtsma selbst unterstreicht, war die Abschaffung der Folter das Ergebnis nicht eines Lernprozesses, sondern eines Kampfes gegenläufiger Imaginationen. "Man hatte sich geändert - ,sich', das heißt Anschauungen, Präferenzen, Sensibilitäten. Man hatte andere Bilder von sich entworfen, andere Modi der Legitimierbarkeit von Handlungen waren zu Selbstverständlichkeiten geworden." Dafür, daß dies auf ewig so bleiben müsse, gibt es keine Garantie.
Bereits Luhmann hatte in seinem eingangs erwähnten Vortrag von "Skandalen mit normengenerierender Potenz" gesprochen. So wie die Evidenz des Schreckens ein Folterregime diskreditieren kann, so kann möglicherweise die Evidenz einer Bedrohungssituation ein Rechtssystem diskreditieren, das auf die Frage, ob der Staat ausnahmsweise foltern dürfe, nur die Antwort "Natürlich nicht!" kennt. Offen ist lediglich, ob mit dem Fall Daschner oder dem 11. September 2001 die kritische Schwelle bereits überschritten worden ist oder noch nicht. Dies ist freilich kein innerjuristisch zu entscheidendes Problem mehr.
Wie Reemtsma anhand der Diskussion der vergangenen Jahre eindrucksvoll nachzeichnet, vermag das Bekenntnis zur Menschenwürde beide Positionen abzudecken, je nachdem, ob man primär auf den Schutz des Tatverdächtigen oder auf den Schutz der potentiellen Opfer abstellt. Innernormativ gibt es zum Thema der Folter im Rechtsstaat bis auf weiteres nichts nennenswert Neues mehr zu sagen - dies ist deshalb die wichtigste Lehre aus Reemtsmas klugem Buch. Der nächste große Terroranschlag wird für sich selbst sprechen.
MICHAEL PAWLIK
Jan Philipp Reemtsma: "Folter im Rechtsstaat?". Hamburger Edition, Hamburg 2005. 151 S., geb., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jan Philipp Reemtsmas Gründe gegen eine Bundesfolterordnung
Im Jahre 1992 hielt Niklas Luhmann einen berühmt gewordenen Vortrag mit dem Titel: "Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?". Nach gutem Juristengebrauch eröffnete Luhmann seine Darlegungen mit einem Fall. Er forderte seine Zuhörer auf, sich vorzustellen, sie seien höhere Polizeioffiziere, und sich in folgendes Szenario hineinzuversetzen: "In Ihrem Lande - und das könnte in nicht zu ferner Zukunft auch Deutschland sein - gäbe es viele linke und rechte Terroristen, jeden Tag Morde, Brandanschläge, Tötungen und Schäden für zahlreiche Unbeteiligte. Sie hätten den Führer einer solchen Gruppe gefangen. Sie könnten, wenn Sie ihn folterten, vermutlich das Leben vieler Menschen retten - zehn, hundert, tausend, wir können den Fall variieren. Würden Sie es tun?"
Jan Philipp Reemtsma zögert nicht mit der Antwort auf Luhmanns hypothetische Frage. Ja, so bekennt Reemtsma in seinem prägnanten Buch über die Folter im Rechtsstaat, er würde es tun. Er würde den Gefangenen so lange quälen, bis dieser ihm alles verraten habe, was er wisse; "jedenfalls würde mir die Grenze meines Tuns nicht mein Mitgefühl mit dieser Person ziehen, sondern der irgendwann eintretende Ekel vor mir selbst". Dennoch, so fährt Reemtsma fort, würde er selbst in solchen Extremfällen nicht für eine Legalisierung der Folter eintreten. Weshalb nicht?
Verglichen mit den herkömmlichen Beschwörungen der Menschenwürde des Gefangenen, wirkt Reemtsmas Antwort auf den ersten Blick erfrischend originell. "Es geht nicht darum, ob jemand zu Recht sagen kann, der Gequälte habe sich die Qual selbst zuzuschreiben. Es geht darum, daß wir es sind, die quälen." Die Folter ist Reemtsma zufolge absolut verboten, nicht weil der gefangene Terrorist ein moralisches Anrecht auf Mitleid und Schonung hätte, sondern weil die Zulassung der peinlichen Befragung uns selbst den Boden unseres rechtsstaatlichen Selbstverständnisses unter den Füßen wegzuziehen drohe.
Diese Verschiebung des Begründungsansatzes ist rhetorisch durchaus geschickt. Der Mensch läßt sich, so sollte man meinen, im allgemeinen leichter von Gründen seines wohlverstandenen Eigeninteresses als von der Forderung zur Achtung fremder Belange ansprechen, zumal wenn es sich um so unsympathische Gestalten wie Bin Laden und seine Helfershelfer handelt.
Wie aber begründet Reemtsma seine These, nicht nur der Gefolterte, sondern auch der zu diesem Mittel greifende Rechtsstaat selbst würde an der Folter zugrunde gehen? Daß diese Behauptung sich keineswegs von selber versteht, lehrt eine eigene Beobachtung des Autors. Er weist darauf hin, daß die zivilisatorische Grunderfahrung des vergangenen Jahrhunderts antinomisch gewesen sei: "Allenthalben hat es zivilisatorische Abstürze gegeben und ein erstaunlich schnelles Sich-wieder-Berappeln." In Vietnam hätten die Vereinigten Staaten einen Krieg geführt, der in mancher Hinsicht nur einer skrupellosen völkermörderischen Diktatur zuzutrauen gewesen wäre, "und doch waren die USA keine, und Calley kam vor Gericht".
Als empirische Aussage ist Reemtsmas These somit nicht haltbar. Deshalb bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu ihrer Begründung in die Sphäre der reinen Normativität zurückzuziehen. In diesem Sinne schreibt er: "Die Folter ist mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar, weil durch sie das Individuum in seiner Fähigkeit, ein Rechtssubjekt zu sein, angegriffen, ja im Extremfall als autonomes Individuum zerbrochen und zerstört wird." Der Rechtsstaat garantiere dem von seinen Maßnahmen Betroffenen stets ein Minimum an Resistenzmöglichkeit. Die Folter hingegen "zielt auf die totale Unterwerfung des Gefolterten".
Damit kehrt Reemtsma stillschweigend auf die herkömmliche Begründungsbahn zurück. Die von ihm konstatierte vollständige Unterwerfung des Beschuldigten unter die Gewalt seines Peinigers wird üblicherweise als menschenwürdewidrig bezeichnet. Das von Reemtsma in Anspruch genommene Eigeninteresse der Rechtsgemeinschaft geht mithin in der ordnungsgemäßen Wahrung des betroffenen Fremdinteresses auf. Ein zusätzliches argumentatives Potential wird dadurch nicht freigesetzt.
Dies wäre freilich nicht weiter mißlich, wenn Reemtsmas Gründe für die Unzulässigkeit der Folter auch aus eigener Kraft bestehen könnten. Dem ist jedoch nicht so. Reemtsma beweist einerseits zuviel, andererseits aber zuwenig. Zu viel beweist er insofern, als auch der gezielte polizeiliche Todesschuß den Betroffenen als autonomes Individuum zerstört. Würde Reemtsma so weit gehen, diese Maßnahme gleichfalls für unzulässig zu erklären? Zu wenig beweist der Verfasser hingegen, wo er auf die Aufhebung der Resistenzmöglichkeit des Gefolterten abstellt. Nur eine keinerlei normativen Beschränkungen unterliegende Folter hebt die Chance des Opfers zum Widerstand zur Gänze auf. Der maßvollen Folter zu widerstehen ist hingegen möglich. An einer durch strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gekennzeichneten Bundesfolterordnung würde Reemtsmas Argument deshalb zerschellen. Wider seinen Willen demonstriert Reemtsma, wie schwierig es ist, den Schrecken der Folter auf den Begriff zu bringen.
Vielleicht sind es ohnehin nicht die Begriffe, die über die Haltung einer Rechtsgemeinschaft zur Folter entscheiden, sondern die Bilder. Wie Reemtsma selbst unterstreicht, war die Abschaffung der Folter das Ergebnis nicht eines Lernprozesses, sondern eines Kampfes gegenläufiger Imaginationen. "Man hatte sich geändert - ,sich', das heißt Anschauungen, Präferenzen, Sensibilitäten. Man hatte andere Bilder von sich entworfen, andere Modi der Legitimierbarkeit von Handlungen waren zu Selbstverständlichkeiten geworden." Dafür, daß dies auf ewig so bleiben müsse, gibt es keine Garantie.
Bereits Luhmann hatte in seinem eingangs erwähnten Vortrag von "Skandalen mit normengenerierender Potenz" gesprochen. So wie die Evidenz des Schreckens ein Folterregime diskreditieren kann, so kann möglicherweise die Evidenz einer Bedrohungssituation ein Rechtssystem diskreditieren, das auf die Frage, ob der Staat ausnahmsweise foltern dürfe, nur die Antwort "Natürlich nicht!" kennt. Offen ist lediglich, ob mit dem Fall Daschner oder dem 11. September 2001 die kritische Schwelle bereits überschritten worden ist oder noch nicht. Dies ist freilich kein innerjuristisch zu entscheidendes Problem mehr.
Wie Reemtsma anhand der Diskussion der vergangenen Jahre eindrucksvoll nachzeichnet, vermag das Bekenntnis zur Menschenwürde beide Positionen abzudecken, je nachdem, ob man primär auf den Schutz des Tatverdächtigen oder auf den Schutz der potentiellen Opfer abstellt. Innernormativ gibt es zum Thema der Folter im Rechtsstaat bis auf weiteres nichts nennenswert Neues mehr zu sagen - dies ist deshalb die wichtigste Lehre aus Reemtsmas klugem Buch. Der nächste große Terroranschlag wird für sich selbst sprechen.
MICHAEL PAWLIK
Jan Philipp Reemtsma: "Folter im Rechtsstaat?". Hamburger Edition, Hamburg 2005. 151 S., geb., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Seit der Entführung und Ermordung des Schülers Jakob von Metzler diskutieren nicht nur Juristen über die Lockerung des Folterverbots. Jan Philipp Reemtsma komme nicht nur das Verdienst zu, betont Rudolf Walther in seiner Rezension, diese Debatte zu rekonstruieren und zu analysieren, sondern er verweise auch auf frühere Debatten, unter anderem auf einen Vortrag von Niklas Luhmann aus dem Jahr 1992. Auch den Grundgesetzkommentar von Maunz/Dürig knöpfe sich Reemtsma vor, der gewisse "finale Erwägungen" berücksichtigt sehen will. Für Reemtsma ist die Frage rechtlich nicht aufzulösen, berichtet Walther; der Autor, selbst Opfer einer Entführung, tritt für ihn mit dem "befremdlichen" aber - aufgrund seiner eigenen Geschichte - verständlichen Bekenntnis hervor, privat im schlimmsten Fall auch zu den härtesten Mitteln zu greifen. Dem Staat würde Reemtsma dies allerdings nicht zugestehen, meint Walther. Reemtsma habe einen brillanten Essay abgeliefert, findet er, weist aber darauf hin, dass es nicht nur Privatsache sei, sondern der öffentlichen Debatte bedürfe, welche Mittel der Rechtsstaat anzuwenden bereit sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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