Sie war beschlagnahmt, blieb verschwunden und wurde erst ein Jahrzehnt später wiederaufgespürt: eine unglaubliche Geschichte, eines Kafka oder Borges würdig, in der Realität und Wahnsinn auf immer neue Weise die Rollen tauschen. Ein bedeutender Wissenschaftler wird in einer sowjet-ukrainischen Provinzstadt wegen Zugehörigkeit zu einer ihm unbekannten Organisation verhaftet. Ihm droht Folter, und er ahnt, dass er das nicht durchhalten wird. Er entwickelt die Idee, vor den NKWD-Offizieren den »Fone Kwas« (ein jiddischer Ausdruck für einen Narren oder »Trottel«) vorzutäuschen, wirre und unglaubliche »Geständnisse« zu machen - in der Hoffnung, schnell verurteilt zu werden, dann aber Berufung einzulegen und zu zeigen, dass alles, was er gestanden hat, technisch und wissenschaftlich vollkommen unhaltbar ist, so dass er schlussendlich wegen »irrtümlicher« Verhaftung entlassen werden wird. Er setzt sein Vorhaben um. Er erzählt von sagenhaften Sabotageakten, malt wirre Diagramme. Je irrer und bizarrer seine Ausführungen werden, desto gebannter hört sein Ermittler zu und desto erfreuter zeigt er sich. Und am Ende kommt alles ganz anders, als der Angeklagte erwartet hat. Die wahnsinnige Realität des stalinistischen Terrors wird die fabrizierten Phantasmen des »Fone Kwas« bei Weitem übertreffen.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Ein wichtiges Buch über den stalinistischen Terror ist Georgi Demidows 1964 fertiggestellter und nun erstmals auf Deutsch erschienener Roman laut Rezensentin Gisa Funck. Hauptfigur ist Rafail Belokrinitskij, ein Industrieller, der - eine biografische Parallele zum Autor, so die Rezensentin - in den 1930er Jahren von sowjetischen Schergen inhaftiert wird und sich zunächst mit den unmenschlichen Haftbedingungen arrangieren muss. Dass es nicht um die Ermittlung von Schuld geht, sondern um die Erpressung falscher Geständnisse, lernt der Protagonist schnell, so Funck. Freilich legen die Stalinisten Wert darauf, dass die erfundenen Beichten auch glaubwürdig sind, was für Funck die Absurdität des Terrorsystems offenbart. Belokrinitskij selbst begeht schließlich einen tragischen Fehler, lernen wir, weil er an die Vernunft im Wahnwitz glaubt, er wird, worauf bereits der Titel deutet, zum "Fone Kwas" - jiddisch für "Trottel". Als eine eindringliche Warnung vor dem Irrsinn des selbstzweckhaften Terrors ist dies ein zeitloses Buch, resümiert beeindruckt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Wer neu ist, schläft auf dem Latrineneimer
Vom gefährlichen Irrsinn der Stalinzeit: Georgi Demidows wiederentdeckter Roman "Fone Kwas oder Der Idiot".
Von Tilman Spreckelsen
Als Rafail Lwowitsch Belokrinitskij, Chefingenieur in einem sowjetischen Elektrizitätswerk, von seinen beiden Besuchern genötigt wird, das Telefonat mit seinem Mitarbeiter zu beenden, sagt er, bevor er auflegt, die beiden Worte: "Bis morgen."
Wie sehr er sich in der Erwartung täuscht, das Gespräch und mit ihm sein gewohntes Leben am nächsten Tag fortsetzen zu können, wird ihm bald klar. Die Besucher überprüfen seine Personalien, durchwühlen sein Bücherregal und seinen Schreibtisch, wobei sie keinen Finger rühren, um die entstandene Unordnung wieder zu beheben, schließlich führen sie ihn ab. Seine Frau kann ihm gerade noch ein paar Sachen einpacken, seine wie erstarrte Mutter ihn noch einmal umarmen. Dann bringen ihn seine Besucher ins Untersuchungsgefängnis. Hinter der Fassade zur Straße hin zeigt es sich als vierflügeliger, um einen Hof gruppierter Gebäudekomplex. Bereits beim Aussteigen sieht er, dass die Fenster in den Bereichen, die sich später als Zellentrakte entpuppen, von außen fast vollständig durch Metallplatten verdeckt sind.
Ganz unvorbereitet trifft ihn die Verhaftung nicht, schließlich weiß er von den Untersuchungen des NKWD, des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, dessen "nächtliche Arbeit sich am Morgen durch leere Arbeitsplätze, verschlossene Büros und das verängstigte Flüstern von Kollegen offenbarte, die sich mit äußerster Vorsicht 'Abgeholt . . .' ins Ohr flüsterten". Nun trifft es ihn. Gegen die jähe Furcht klammert er sich an das Gefühl der eigenen Unschuld, das wiederum, um Hoffnung zu spenden, mit der Ahnung der Schuld der anderen Verhafteten verbunden sein muss. Denn nur wenn diese zu Recht eingekerkert sind, kann er auf Erlösung hoffen. Und nur dann haben die beruhigenden Worte seiner Frau Lena einen Sinn, die im Moment seiner Verhaftung zu ihm sagt, dass sich "alles sehr bald aufklären" werde: "Das NKWD irrt sich nie, das weißt du . . ."
Es ist dieses irritierende Miteinander von Form und Chaos, von scheinbarer Rationalität und blankem Irrsinn, das den Roman prägt. Es vernebelt nicht nur dem unglücklichen Belokrinitskij den Blick, sondern lässt auch den Leser, der das Ganze immerhin aus historischem Abstand verfolgen und das Verhängnis des Ingenieurs dadurch besser einordnen kann, immer wieder die unverständlichen Zeichen deuten, die der Gefangene seitens seiner Peiniger erhält. Dass Belokrinitskij im Untersuchungsgefängnis sofort geduzt wird, soll ihn entwürdigen. Was aber hat es damit auf sich, wenn er in bestimmten Situationen plötzlich gesiezt wird - ein Anzeichen für eine Rückkehr zu zivilen Verhältnissen oder für eine weitere Eskalation?
Der Erzähler nimmt die Perspektive des Inhaftierten fast vollständig ein. Er entdeckt mit ihm die Räumlichkeiten, in denen er verhört und eingesperrt wird, und auch den Weg von der anfänglichen Hoffnung zur immer größeren Ratlosigkeit machen wir mit. Belokrinitskij ist von allem abgeschnitten, was sich jenseits der Gefängnismauern zuträgt, und als er noch in der ersten Nacht in eine völlig überfüllte Gemeinschaftszelle gebracht wird, verschwindet sogar die Welt jenseits dieses eng umgrenzten Platzes für ihn. Der größte Teil des Romans spielt sich in diesem viel zu kleinen Raum ab, in dem man als Neuankömmling keinen anderen Platz hat als den auf dem Eimer, der zur Aufnahme der Fäkalien dient. Wer länger da ist, rückt vor in Richtung der Wand, in der sich das abgedeckte Fenster befindet, zum Schlafen müssen ausgeklügelte Stellungen eingenommen werden, die jederzeit durch die barsche Aufforderung an den einen oder anderen, zum Verhör mitzukommen, obsolet werden können.
Belokrinitskij, der Neuankömmling, hört sich an, was andere zu erzählen haben. Er erlebt das Manöver eines Mannes mit, der zu einem falschen Geständnis genötigt wird und sich zum Teil einer Verschwörung macht, von der er keine Ahnung hat. Er selbst kommt auf die Idee, dies noch weiter zu treiben, indem er eine Sabotageaktion zugibt, die rein physikalisch keinen Sinn ergibt. Er will den "Fone Kwas" geben, den Verrückten, der, wie er glaubt, eben dadurch für jede ernsthafte Verfolgung uninteressant wird. Es ist eine Wette auf Rationalität, die Belokrinitskij damit eingeht, und ihr Ausgang wirft ein grelles Licht auf das stalinistische Verfolgungssystem.
Georgi Demidow hat zeit seines Lebens Erfahrungen mit dem Regime seines Landes gemacht, er hat viele Jahre in Lagerhaft verbracht, die er nur knapp überlebte, und er büßte dabei durch Erfrierungen die volle Beweglichkeit seiner Hände ein. Er wurde schließlich freigelassen, aber weiterhin überwacht, und als er sein literarisches Werk verfasste, blieb ihm wegen seiner Einschränkung dafür nur der Weg über die Schreibmaschine. Ausgerechnet dieses Hilfsmittel wurde bei einer späten Razzia beschlagnahmt, dazu seine Manuskripte. Demidow erholte sich davon nicht mehr. Dass seine Werke erhalten waren, blieb ihm bis zu seinem Tod 1987 verborgen. Wiederentdeckt und publiziert, erzählen sie brillant und hellsichtig von der Ohnmacht des Einzelnen im Totalitarismus und weisen so weit über ihre Zeit hinaus.
Georgi Demidow: "Fone Kwas oder Der Idiot". Roman.
Aus dem Russischen von Irina Rastorgueva und Thomas Martin. Galiani Berlin, Berlin 2023. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom gefährlichen Irrsinn der Stalinzeit: Georgi Demidows wiederentdeckter Roman "Fone Kwas oder Der Idiot".
Von Tilman Spreckelsen
Als Rafail Lwowitsch Belokrinitskij, Chefingenieur in einem sowjetischen Elektrizitätswerk, von seinen beiden Besuchern genötigt wird, das Telefonat mit seinem Mitarbeiter zu beenden, sagt er, bevor er auflegt, die beiden Worte: "Bis morgen."
Wie sehr er sich in der Erwartung täuscht, das Gespräch und mit ihm sein gewohntes Leben am nächsten Tag fortsetzen zu können, wird ihm bald klar. Die Besucher überprüfen seine Personalien, durchwühlen sein Bücherregal und seinen Schreibtisch, wobei sie keinen Finger rühren, um die entstandene Unordnung wieder zu beheben, schließlich führen sie ihn ab. Seine Frau kann ihm gerade noch ein paar Sachen einpacken, seine wie erstarrte Mutter ihn noch einmal umarmen. Dann bringen ihn seine Besucher ins Untersuchungsgefängnis. Hinter der Fassade zur Straße hin zeigt es sich als vierflügeliger, um einen Hof gruppierter Gebäudekomplex. Bereits beim Aussteigen sieht er, dass die Fenster in den Bereichen, die sich später als Zellentrakte entpuppen, von außen fast vollständig durch Metallplatten verdeckt sind.
Ganz unvorbereitet trifft ihn die Verhaftung nicht, schließlich weiß er von den Untersuchungen des NKWD, des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, dessen "nächtliche Arbeit sich am Morgen durch leere Arbeitsplätze, verschlossene Büros und das verängstigte Flüstern von Kollegen offenbarte, die sich mit äußerster Vorsicht 'Abgeholt . . .' ins Ohr flüsterten". Nun trifft es ihn. Gegen die jähe Furcht klammert er sich an das Gefühl der eigenen Unschuld, das wiederum, um Hoffnung zu spenden, mit der Ahnung der Schuld der anderen Verhafteten verbunden sein muss. Denn nur wenn diese zu Recht eingekerkert sind, kann er auf Erlösung hoffen. Und nur dann haben die beruhigenden Worte seiner Frau Lena einen Sinn, die im Moment seiner Verhaftung zu ihm sagt, dass sich "alles sehr bald aufklären" werde: "Das NKWD irrt sich nie, das weißt du . . ."
Es ist dieses irritierende Miteinander von Form und Chaos, von scheinbarer Rationalität und blankem Irrsinn, das den Roman prägt. Es vernebelt nicht nur dem unglücklichen Belokrinitskij den Blick, sondern lässt auch den Leser, der das Ganze immerhin aus historischem Abstand verfolgen und das Verhängnis des Ingenieurs dadurch besser einordnen kann, immer wieder die unverständlichen Zeichen deuten, die der Gefangene seitens seiner Peiniger erhält. Dass Belokrinitskij im Untersuchungsgefängnis sofort geduzt wird, soll ihn entwürdigen. Was aber hat es damit auf sich, wenn er in bestimmten Situationen plötzlich gesiezt wird - ein Anzeichen für eine Rückkehr zu zivilen Verhältnissen oder für eine weitere Eskalation?
Der Erzähler nimmt die Perspektive des Inhaftierten fast vollständig ein. Er entdeckt mit ihm die Räumlichkeiten, in denen er verhört und eingesperrt wird, und auch den Weg von der anfänglichen Hoffnung zur immer größeren Ratlosigkeit machen wir mit. Belokrinitskij ist von allem abgeschnitten, was sich jenseits der Gefängnismauern zuträgt, und als er noch in der ersten Nacht in eine völlig überfüllte Gemeinschaftszelle gebracht wird, verschwindet sogar die Welt jenseits dieses eng umgrenzten Platzes für ihn. Der größte Teil des Romans spielt sich in diesem viel zu kleinen Raum ab, in dem man als Neuankömmling keinen anderen Platz hat als den auf dem Eimer, der zur Aufnahme der Fäkalien dient. Wer länger da ist, rückt vor in Richtung der Wand, in der sich das abgedeckte Fenster befindet, zum Schlafen müssen ausgeklügelte Stellungen eingenommen werden, die jederzeit durch die barsche Aufforderung an den einen oder anderen, zum Verhör mitzukommen, obsolet werden können.
Belokrinitskij, der Neuankömmling, hört sich an, was andere zu erzählen haben. Er erlebt das Manöver eines Mannes mit, der zu einem falschen Geständnis genötigt wird und sich zum Teil einer Verschwörung macht, von der er keine Ahnung hat. Er selbst kommt auf die Idee, dies noch weiter zu treiben, indem er eine Sabotageaktion zugibt, die rein physikalisch keinen Sinn ergibt. Er will den "Fone Kwas" geben, den Verrückten, der, wie er glaubt, eben dadurch für jede ernsthafte Verfolgung uninteressant wird. Es ist eine Wette auf Rationalität, die Belokrinitskij damit eingeht, und ihr Ausgang wirft ein grelles Licht auf das stalinistische Verfolgungssystem.
Georgi Demidow hat zeit seines Lebens Erfahrungen mit dem Regime seines Landes gemacht, er hat viele Jahre in Lagerhaft verbracht, die er nur knapp überlebte, und er büßte dabei durch Erfrierungen die volle Beweglichkeit seiner Hände ein. Er wurde schließlich freigelassen, aber weiterhin überwacht, und als er sein literarisches Werk verfasste, blieb ihm wegen seiner Einschränkung dafür nur der Weg über die Schreibmaschine. Ausgerechnet dieses Hilfsmittel wurde bei einer späten Razzia beschlagnahmt, dazu seine Manuskripte. Demidow erholte sich davon nicht mehr. Dass seine Werke erhalten waren, blieb ihm bis zu seinem Tod 1987 verborgen. Wiederentdeckt und publiziert, erzählen sie brillant und hellsichtig von der Ohnmacht des Einzelnen im Totalitarismus und weisen so weit über ihre Zeit hinaus.
Georgi Demidow: "Fone Kwas oder Der Idiot". Roman.
Aus dem Russischen von Irina Rastorgueva und Thomas Martin. Galiani Berlin, Berlin 2023. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wiederentdeckt und publiziert erzählen seine Werke brillant und hellsichtig von der Ohnmacht des Einzelnen im Totalitarismus und weisen so weit über ihre Zeit hinaus Tilman Spreckelsen FAZ 20231125
"Erschütternd" findet Rezensent Ulrich M. Schmid diesen Kurzroman von Georgi Demidow, der hier aus eigener Erfahrung von der Haft in einem sowjetischen Gulag erzählt. Warlam Schalamow, der im Gegensatz zu Demidow nach dem Ende der Sowjetunion zur einiger Bekanntheit gelangte, wie Schmid erinnert, bezeichnete den Autor, der sein Mithäftling war, als 'klügsten und ehrenhaftesten Menschen', den er jemals getroffen habe. Es geht um einen Ingenieur, der maßgeblich zur "Elektrifizierung der sowjetischen Industrie" beiträgt, so Schmid, dann aber denunziert und verhaftet wird. Am meisten beeindruckt hat den Kritiker in dieser Geschichte die Verurteilungsszene: der Ingenieur, der durch einen Trick seiner Anklage entgehen will, wird zum Tode verurteilt und erkennt, dass er ein "Fone Kwas", ein Trottel, ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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