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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Das Gedächtnis als Kampfplatz: Aleida Assmann verhandelt in sieben Fallstudien Formen des Vergessens
Haben wir das Vergessen vergessen? Nach Jahren des Booms der Erforschung und Gestaltung von Erinnerungskultur gewinnt die Beschäftigung mit dem komplementären Vorgang an Fahrt. Ob diese genauso rasant wie die Erinnerungsralley verlaufen wird, darf in einer Kultur, in der jeder Provinzpolitiker zumindest rhetorisch etwas "gegen das Vergessen" unternehmen will, allerdings bezweifelt werden. Eine friedensstiftende Kraft des Vergessens, die seit der Antike immer wieder beschworen, gelegentlich, wie nach dem Dreißigjährigen Krieg oder dem englischen Bürgerkrieg, sogar verordnet wurde, scheint da schwer begreiflich zu machen.
Das Vergessen ist auch jenseits der Psychologie und Medizin kein neues Sujet. Von Friedrich Nietzsche über Friedrich Georg Jünger bis Christian Meier reicht die Spannweite kluger Reflexionen. Aleida Assmann versucht nun, die Ergebnisse und Befunde ihrer Studien zur Erinnerungskultur auf das Vergessen zu übertragen, bleibt dabei aber in einem normativen erinnerungskulturellen Paradigma gefangen. Einen Satz nachdem sie Jan Philipp Reemtsmas Aussage, Erinnern und Vergessen seien weder gut noch schlecht, zitiert hat, beginnt sie schon, die sieben von ihr identifizierten Formen des Vergessens - ihren Buchtitel hat sie vom französischen Ethnologen Marc Augé geborgt - moralisch zu klassifizieren.
Das mündet in eine Tabelle, in der destruktives und defensives Vergessen als negativ, konstruktives und therapeutisches Vergessen als positiv und automatisches Vergessen, "Verwahrensvergessen" (Friedrich Georg Jünger) sowie das selektive Vergessen als neutral eingruppiert werden. Dabei ist es nicht nachvollziehbar, dass Assmann allein das destruktive und defensive Vergessen als Waffe verstehen will, das konstruktive und therapeutische Vergessen dagegen als "Ermöglichung von Zukunft". Die Erinnerungspolitik immer neuer Opfergruppen und ihrer Anwälte, die hier einzuordnen wäre, ist doch eine Waffe im Kampf um finanzielle, politische und moralische Ressourcen, welche mitnichten eine befriedende Wirkung zeitigt. Hat es nicht einmal so etwas wie Ideologiekritik gegeben?
In den sieben Fallstudien, die sich an die systematischen Überlegungen anschließen, will Assmann dem Vergessen, letztlich aber vor allem dem Auftauchen aus dem (nicht ganz) Vergessenen konkret auf die Spur kommen. Dabei zeigt sie sich nicht immer historisch sattelfest. Es beginnt schon damit, dass Assmann meint, Christian Meier führe für die befriedende Wirkung des Vergessens den "Peloponnesischen Bürgerkrieg in der Athenischen Polis an". Meier handelte tatsächlich von der Amnestie nach der Herrschaft der dreißig in Athen 404/403 vor Christus.
Viel zu pauschal ist es dann, den gesamten Kolonialkrieg 1904 bis 1908 gegen die Herero und Nama als Genozid zu etikettieren. Zur Untermauerung ein Positionspapier der Grünen heranzuziehen ist wissenschaftlich doch etwas kurz gesprungen. Oft genug ist nun schon gezeigt worden, dass der von Aleida Assmann erwähnte berüchtigte Vernichtungsbefehl General von Trothas zur Stützung dieser Generalthese nicht herhalten kann. Und wie jüngst Jonas Kreienbaum gezeigt hat (F.A.Z. vom 18. August 2015), wurden auch die Lager in Deutsch-Südwest gerade nicht in genozidaler Absicht errichtet.
Es ist schade, dass Assmann sich nur den Fällen nähert, die dem Vergessen nun entrissen sind. Aufschlussreicher wäre es gewesen, sich auch den Geschehen zu widmen, die derzeit gerade ins Vergessen zu sinken drohen. Wer erinnert sich noch der 200 000 Opfer, welche die blutige Niederschlagung des Aufstands in Zentralasien durch russische Truppen im Sommer 1916 forderte? Auch die Deportation und Versklavung der Russlanddeutschen unter Stalin, durch welche Hundertausende zu Tode kamen, droht nach dem Aussterben der Erlebnisgeneration tatsächlich in Vergessenheit zu geraten.
Verhält sich die Autorin zur gegenwärtigen Erinnerungskultur zumeist affirmativ und findet nicht zu einer wissenschaftlichen Distanz, so ist an anderer Stelle doch ihr Unbehagen zu spüren. Es geht dabei um den Konstanzer Germanisten Hans Robert Jauß, den Ministerpräsident Kretschmann bei seiner Jubiläumsrede an der Universität Konstanz offenkundig bewusst nicht erwähnte. Angesichts der Bedeutung von Jauß für die "Konstanzer Schule" und die Gruppe "Poetik und Hermeneutik" ist solche Damnatio memoriae des ehemaligen Waffen-SS-Manns von ähnlicher Grobheit wie die jüngst vielkritisierte Erinnerungspolitik der Freiburger Kommission zu Überprüfungen von Straßennamen (F.A.Z. vom 7. Oktober) Die Tätigkeit Winston Smiths in Orwells "1984" ist eine sich aufdrängende düstere Analogie.
Ist das absichtsvolle oder unbeabsichtigte Vergessen im Zeitalter der digitalen Speicherung und des Internets aber überhaupt noch eine Option? Assmann ist gegenüber den Visionen eines Verschwindens des Vergessens zu Recht skeptisch. Die Speichermedien sind nicht identisch mit dem Gedächtnis. Man muss eine Ahnung von dem haben, was man vergessen hat, um danach suchen zu können. In den Passagen zur Zukunft des Vergessens ist Aleida Assmann überzeugender als in ihren historischen Ausführungen.
PETER HOERES
Aleida Assmann: "Formen des Vergessens".
Wallstein Verlag,
Göttingen 2016.
224 S., Abb., br., 14,90 [Euro].
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