Das Bild der französischen Präsidentschaft zwischen "Zweitem Kalten Krieg" und deutscher Wiedervereinigung ist in der Forschung bislang von großer Ambivalenz geprägt. Die Studie erforscht erstmals die politischen Handlungsstrategien von François Mitterrand und seiner außenpolitischen Regierungsmannschaft zwischen "Zweitem Kalten Krieg" und deutscher Wiedervereinigung. Mit dem Ende der Entspannung zwischen Ost und West, Blockierungen in der europapolitischen Zusammenarbeit und transatlantischen Konflikten wurde der Übergang von den 70er zu den 80er Jahren von Zeitgenossen als umfassende Krise empfunden. Zudem trat François Mitterrand das Amt des französischen Präsidenten in der Erwartung eines gewaltigen politischen Umbruchs an: Er ging davon aus, dass die Sowjetunion auf mittelfristige Sicht zu geschwächt sein würde, um die Dominanz über ihr Imperium aufrecht zu erhalten. In den 1980er Jahren entwickelte die équipe Mitterrand Ideen und Konzepte zu einer umfassenden Neustrukturierung der internationalen Staatenwelt. Erstmals werden in der Studie systematisch emotionshistorische Ansätze genutzt, um politische Handlungsstrategien zu erforschen. Auf diese Weise gelingt es aufzuzeigen, mit welchen Strategien Akteure der internationalen Beziehungen Auswege aus Konfrontationen eröffnen. Anhand der neuen empirischen Erkenntnisse zur französischen Außen- und Sicherheits- und Europapolitik wird durch die Weiterentwicklung methodischer Instrumentarien dargelegt, wie sich Emotionen im Kontext internationaler Beziehungen erforschen lassen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2019Ein Getriebener seiner Angst?
François Mitterrand und seine Außenpolitik vor und während der Vereinigung Deutschlands
"Das Streben nach Macht", so behauptete Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand 1995 im Gespräch mit dem Journalisten Georges-Marc Benamou, sei "das einzige, das etwas taugt". In der Dissertation von Frederike Schotters über Mitterrands Außen- und Sicherheitspolitik bleibt diese Aussage unerwähnt. Was umso mehr überrascht, als sie dem realistischen Ansatz der Lehre von den Internationalen Beziehungen grundsätzlich vorhält, sich nicht von der "überholten Grundannahme" lösen zu können, wonach "die Geschichte internationaler Beziehungen im Kern im Ringen um Macht aufgehe". Wissenschaftler, die Mitterrand als das beschreiben, was er war, ein Machtpolitiker par excellence, attestiert sie "Fehleinschätzungen", weil sie "Macht zu einer Analysekategorie" des wissenschaftlichen Forschens erheben. Unwillkürlich fühlt sich der Leser an Rainer Hanks Buch "Lob der Macht" erinnert: "Moralisierer", so heißt es da an einer Stelle, wollten die Macht "ignorieren oder stigmatisieren"; doch damit sei "nichts gewonnen".
Im Zentrum der Studie von Schotters steht die von der Historiographie bisher höchst kontrovers diskutierte Außen- und Sicherheitspolitik Mitterrands vom Einzug in den Elysée 1981 bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990. Um "nicht auf der Ebene der Entscheidungen stehen" zu bleiben, sondern deren "Entstehungsprozesse" herauszuarbeiten, erscheint es der Verfasserin notwendig, ihren Analyserahmen vom Präsidenten auf eine "équipe Mitterrand" genannte Gruppe von Experten und Freunden in deren "Interaktionsverhältnis" auszuweiten. Dass ein französischer Staatschef der Fünften Republik auf die Zuarbeit durch Berater (und Beraterinnen) angewiesen war, kann kaum überraschen. Allerdings ist aus der Literatur bekannt, dass Mitterrand einen eigenen, um nicht zu sagen eigenwilligen Amtsstil pflegte, der ein wenig an das "Schottensystem" Konrad Adenauers erinnert: Höchsten Wert auf ein unabhängiges Urteil legend, weihte er nicht einmal die nächsten Berater in die Details seines Handelns ein und vertraute nur kleineren Zirkeln, und selbst ihnen lediglich zeitweise. Die von Mitterrands "conseiller culturel" Laure Adler veröffentlichte These, es habe im Arbeitsumfeld des Präsidenten keine echte Equipe gegeben, allenfalls eine "équipe hétéroclite", eine eigentümliche, bizarre, wird von Schotters nicht diskutiert.
Unter Ausnutzung der "Konjunktur emotionshistorischer Studien" konzentriert sich die Verfasserin auf die normativen Prämissen der Mitterrandschen Politik und zielt explizit darauf ab, einen "Beitrag zu der Erforschung von Emotionen im außenpolitischen Tagesgeschäft" zu liefern. Im Fokus stehen die Kategorien "Angst und Vertrauen".
Um deutlich zu machen, wie politische Konzeptionen und Strategien aufgrund enttäuschter Erwartungen oder einer Veränderung äußerer Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume angepasst wurden, hat Schotters ihre Studie nach chronologischen und systematischen Gesichtspunkten gegliedert. Geht es zunächst um das bei Mitterrand zu Beginn seiner Amtszeit vorhandene Konzept zur Bewältigung internationaler Krisenphänomene, behandelt der zweite Teil die Strategien, die der Präsident und seine Entourage als Antwort auf den "Zweiten Kalten Krieg" bzw. die Spannungen mit Amerika entwickelten. Kapitel drei beleuchtet die "transformative Komponente der französischen Détente". Im vierten Abschnitt geht Schotters der Frage nach, welche Funktion Mitterrand im Prozess der Entspannung nach dem Machtantritt Michail Gorbatschows 1985 übernommen habe. Das fünfte und letzte Kapitel analysiert die Politik der "équipe Mitterrand" im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90.
Ausgehend von der Kardinalthese, dass Mitterrand und seine Mitarbeiter "eine Neuordnung der internationalen Staatenbeziehungen" anstrebten, in der die Bipolarität durch Multipolarität ersetzt werden sollte, schildert Schotters ausführlich, wie die "équipe" durch Empathie Prozesse der Vertrauensbildung zwischen den Supermächten zu erzeugen bemüht war, zugleich aber auch Angst evozierte und beide Gefühle als "Ressourcen" für ihr politisches Handeln einsetzte. Folgt man ihren Befunden, stieg Frankreichs Staatspräsident durch diesen spezifischen Regierungsstil zu einem "Mitinitiator der Neuen Détente ab Sommer 1984" auf und übernahm seit der Wahl Gorbatschows eine wichtige Rolle "als Bindeglied zwischen Washington und Moskau". Nach dem Mauerfall im November 1989 versuchte Mitterrand ihres Erachtens, "das deutsche Einheitsstreben zu multilateralisieren und die EG als Akteur an diesem Prozess zu beteiligen". Gedankenspiele einer "französisch-sowjetischen Komplizenschaft" waren ihm wie auch der "équipe" dabei ebenso wenig fremd wie Misstrauen und Bedrohungsperzeptionen. Nach der Vorstellung des Zehnpunkteplans von Helmut Kohl sei Mitterrand zu einem "Getriebenen seiner Angst" geworden, bei dem die Gefühle das Kalkül bisweilen überlagerten. Trotzdem habe er den Wiedervereinigungsprozess "keinesfalls aufhalten" wollen.
Auch wenn man manch positives Urteil von Schotters über die Außen- und Sicherheitspolitik Mitterrands dezidiert nicht teilt, kommt man nicht umhin festzuhalten, dass ihre theoretisch anspruchsvolle und literarisch ansprechende, umfangreiche französische Archivbestände auswertende Studie unser bisheriges Wissen erweitert und zu neuen Forschungen anregt. Störend wirken indes ihr Umgang mit anderslautenden Meinungen der Wissenschaft, ihr Angriff gegen die realistische Schule der Internationalen Beziehungen und ihre Negation der Macht oder nationaler Interessen als Analysekategorie. Indem Schotters außerdem expressis verbis verlangt, dass der Fokus der Erforschung internationaler Beziehungen "nie auf nur einem Akteur alleine liegen" dürfe, stellt sich dem Rezensenten die Frage, welche Berechtigung sie einer biographisch orientierten Forschung zumisst.
ULRICH LAPPENKÜPER.
Frederike Schotters: Frankreich und das Ende des Kalten Krieges. Gefühlsstrategien der Équipe Mitterrand 1981-1990.
De Gruyter Oldenbourg Verlag, Berlin/Boston 2019. XII, 462 S., 59,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
François Mitterrand und seine Außenpolitik vor und während der Vereinigung Deutschlands
"Das Streben nach Macht", so behauptete Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand 1995 im Gespräch mit dem Journalisten Georges-Marc Benamou, sei "das einzige, das etwas taugt". In der Dissertation von Frederike Schotters über Mitterrands Außen- und Sicherheitspolitik bleibt diese Aussage unerwähnt. Was umso mehr überrascht, als sie dem realistischen Ansatz der Lehre von den Internationalen Beziehungen grundsätzlich vorhält, sich nicht von der "überholten Grundannahme" lösen zu können, wonach "die Geschichte internationaler Beziehungen im Kern im Ringen um Macht aufgehe". Wissenschaftler, die Mitterrand als das beschreiben, was er war, ein Machtpolitiker par excellence, attestiert sie "Fehleinschätzungen", weil sie "Macht zu einer Analysekategorie" des wissenschaftlichen Forschens erheben. Unwillkürlich fühlt sich der Leser an Rainer Hanks Buch "Lob der Macht" erinnert: "Moralisierer", so heißt es da an einer Stelle, wollten die Macht "ignorieren oder stigmatisieren"; doch damit sei "nichts gewonnen".
Im Zentrum der Studie von Schotters steht die von der Historiographie bisher höchst kontrovers diskutierte Außen- und Sicherheitspolitik Mitterrands vom Einzug in den Elysée 1981 bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990. Um "nicht auf der Ebene der Entscheidungen stehen" zu bleiben, sondern deren "Entstehungsprozesse" herauszuarbeiten, erscheint es der Verfasserin notwendig, ihren Analyserahmen vom Präsidenten auf eine "équipe Mitterrand" genannte Gruppe von Experten und Freunden in deren "Interaktionsverhältnis" auszuweiten. Dass ein französischer Staatschef der Fünften Republik auf die Zuarbeit durch Berater (und Beraterinnen) angewiesen war, kann kaum überraschen. Allerdings ist aus der Literatur bekannt, dass Mitterrand einen eigenen, um nicht zu sagen eigenwilligen Amtsstil pflegte, der ein wenig an das "Schottensystem" Konrad Adenauers erinnert: Höchsten Wert auf ein unabhängiges Urteil legend, weihte er nicht einmal die nächsten Berater in die Details seines Handelns ein und vertraute nur kleineren Zirkeln, und selbst ihnen lediglich zeitweise. Die von Mitterrands "conseiller culturel" Laure Adler veröffentlichte These, es habe im Arbeitsumfeld des Präsidenten keine echte Equipe gegeben, allenfalls eine "équipe hétéroclite", eine eigentümliche, bizarre, wird von Schotters nicht diskutiert.
Unter Ausnutzung der "Konjunktur emotionshistorischer Studien" konzentriert sich die Verfasserin auf die normativen Prämissen der Mitterrandschen Politik und zielt explizit darauf ab, einen "Beitrag zu der Erforschung von Emotionen im außenpolitischen Tagesgeschäft" zu liefern. Im Fokus stehen die Kategorien "Angst und Vertrauen".
Um deutlich zu machen, wie politische Konzeptionen und Strategien aufgrund enttäuschter Erwartungen oder einer Veränderung äußerer Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume angepasst wurden, hat Schotters ihre Studie nach chronologischen und systematischen Gesichtspunkten gegliedert. Geht es zunächst um das bei Mitterrand zu Beginn seiner Amtszeit vorhandene Konzept zur Bewältigung internationaler Krisenphänomene, behandelt der zweite Teil die Strategien, die der Präsident und seine Entourage als Antwort auf den "Zweiten Kalten Krieg" bzw. die Spannungen mit Amerika entwickelten. Kapitel drei beleuchtet die "transformative Komponente der französischen Détente". Im vierten Abschnitt geht Schotters der Frage nach, welche Funktion Mitterrand im Prozess der Entspannung nach dem Machtantritt Michail Gorbatschows 1985 übernommen habe. Das fünfte und letzte Kapitel analysiert die Politik der "équipe Mitterrand" im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90.
Ausgehend von der Kardinalthese, dass Mitterrand und seine Mitarbeiter "eine Neuordnung der internationalen Staatenbeziehungen" anstrebten, in der die Bipolarität durch Multipolarität ersetzt werden sollte, schildert Schotters ausführlich, wie die "équipe" durch Empathie Prozesse der Vertrauensbildung zwischen den Supermächten zu erzeugen bemüht war, zugleich aber auch Angst evozierte und beide Gefühle als "Ressourcen" für ihr politisches Handeln einsetzte. Folgt man ihren Befunden, stieg Frankreichs Staatspräsident durch diesen spezifischen Regierungsstil zu einem "Mitinitiator der Neuen Détente ab Sommer 1984" auf und übernahm seit der Wahl Gorbatschows eine wichtige Rolle "als Bindeglied zwischen Washington und Moskau". Nach dem Mauerfall im November 1989 versuchte Mitterrand ihres Erachtens, "das deutsche Einheitsstreben zu multilateralisieren und die EG als Akteur an diesem Prozess zu beteiligen". Gedankenspiele einer "französisch-sowjetischen Komplizenschaft" waren ihm wie auch der "équipe" dabei ebenso wenig fremd wie Misstrauen und Bedrohungsperzeptionen. Nach der Vorstellung des Zehnpunkteplans von Helmut Kohl sei Mitterrand zu einem "Getriebenen seiner Angst" geworden, bei dem die Gefühle das Kalkül bisweilen überlagerten. Trotzdem habe er den Wiedervereinigungsprozess "keinesfalls aufhalten" wollen.
Auch wenn man manch positives Urteil von Schotters über die Außen- und Sicherheitspolitik Mitterrands dezidiert nicht teilt, kommt man nicht umhin festzuhalten, dass ihre theoretisch anspruchsvolle und literarisch ansprechende, umfangreiche französische Archivbestände auswertende Studie unser bisheriges Wissen erweitert und zu neuen Forschungen anregt. Störend wirken indes ihr Umgang mit anderslautenden Meinungen der Wissenschaft, ihr Angriff gegen die realistische Schule der Internationalen Beziehungen und ihre Negation der Macht oder nationaler Interessen als Analysekategorie. Indem Schotters außerdem expressis verbis verlangt, dass der Fokus der Erforschung internationaler Beziehungen "nie auf nur einem Akteur alleine liegen" dürfe, stellt sich dem Rezensenten die Frage, welche Berechtigung sie einer biographisch orientierten Forschung zumisst.
ULRICH LAPPENKÜPER.
Frederike Schotters: Frankreich und das Ende des Kalten Krieges. Gefühlsstrategien der Équipe Mitterrand 1981-1990.
De Gruyter Oldenbourg Verlag, Berlin/Boston 2019. XII, 462 S., 59,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Auch wenn man manch positives Urteil von Schotters über die Außen-und Sicherheitspolitik Mitterrands dezidiert nicht teilt, kommt man nicht umhin festzuhalten, dass ihre theoretisch anspruchsvolle und literarisch ansprechende, umfangreiche französische Archivbestände auswertende Studie unser bisheriges Wissen erweitert und zu neuen Forschungen anregt."
Ulrich Lappenküper in: FAZ (09.07.2019), 6
"Vieles an den Paradigmata der achtziger Jahre erweist sich auch für die heutigen atlantischen und europäischen Verhältnisse als durchaus erkenntnisfördernd, und dass man das heutige deutsch-französische erhältnis nicht nur als Paarung im Streichelzoo sehen sollte, wird der kritische Leser durchaus mit Gewinn ableiten können."
Peter März in: ZdF 44 (2019), 271-274
Ulrich Lappenküper in: FAZ (09.07.2019), 6
"Vieles an den Paradigmata der achtziger Jahre erweist sich auch für die heutigen atlantischen und europäischen Verhältnisse als durchaus erkenntnisfördernd, und dass man das heutige deutsch-französische erhältnis nicht nur als Paarung im Streichelzoo sehen sollte, wird der kritische Leser durchaus mit Gewinn ableiten können."
Peter März in: ZdF 44 (2019), 271-274