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Strafverfolgung deutscher Kriegsverbrecher in Frankreich
Claudia Moisel: Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 288 Seiten, 42,- [Euro].
Im Juni 1940 wurde Frankreich von der Wehrmacht überrannt. Um weitere Verluste zu vermeiden, die Souveränität zu erhalten und bei der erwarteten nationalsozialistischen Umgestaltung Europas nicht zu kurz zu kommen, schloß die Vichy-Regierung unter Marschall Pétain Frieden mit Hitler - und zahlte dafür einen hohen Preis. Sie verabschiedete sich von demokratischen Prinzipien und zeigte sich bei der Judenverfolgung entsetzlich kooperativ. Dieses Entgegenkommen konnte nicht verhindern, daß auch Frankreich zum Schauplatz nationalsozialistischer Bestialität wurde. Insbesondere Oradour, wo im Juni 1944 Angehörige der SS-Division "Das Reich" 642 Personen niedermetzelten, wurde zum Inbegriff des Besatzungsterrors.
Noch bevor Frankreich von den Deutschen befreit war, stand für Charles de Gaulle fest, daß die Verbrechen - anders als nach dem Ersten Weltkrieg - nicht ungesühnt bleiben dürften. Schon im August 1944 hatte die provisorische Regierung die erste Verordnung erlassen, auf Grund welcher die Deutschen zur Verantwortung gezogen werden sollten. Allerdings stellte sich in den kommenden Jahrzehnten heraus, wie schwierig es ist, grenzenloses Unrecht mit rechtsstaatlichen Mitteln zu ahnden. In den seltensten Fällen waren die Schuldigen namhaft zu machen. Von insgesamt 20 000 registrierten Kriegsverbrechen konnten in 16 000 Fällen die Täter nicht ermittelt werden. Beeinträchtigt wurde die Suche durch die "Säuberungsmaßnahmen" innerhalb der französischen Gesellschaft. Da die Polizei prinzipiell unter Kollaborationsverdacht stand, kamen für die Rechercheabteilung nur weniger qualifizierte Mitarbeiter in Frage, was sich fatal auf die Effizienz auswirkte.
Um möglichst viele Schuldige ihrer gerechten Strafe zuzuführen, paßte die französische Regierung ihre Gesetze und deren Auslegung flexibel dem Bedarf an. So schloß die Verordnung vom 30. August 1944 den Befehlsnotstand aus und umging das Rückwirkungsverbot. Mit dem Kriegsverbrechergesetz vom 15. September 1948 wurde zudem die Beweislast zuungunsten des Angeklagten umgedreht: Ihm mußte nicht mehr ein individuelles Vergehen nachgewiesen werden, vielmehr reichte für eine Anklage die Mitgliedschaft in einer "verbrecherischen" Organisation. Aber weder die Bundesrepublik noch die amerikanische oder britische Regierung teilten diese Auffassung und weigerten sich, auf dieser Grundlage den französischen Auslieferungsgesuchen stattzugeben. Letztlich waren es aber nicht die juristischen, sondern die politischen Bedenken, die den Prozessen im Wege standen. Deutsche und französische Politiker fürchteten um die zarte Pflanze bilateraler Verständigung, die Amerikaner um den deutschen Wehrbeitrag. Denn ehemalige Wehrmachtsoffiziere forderten eine weitreichende Amnestie.
Ironie des Schicksals war es schließlich, daß ausgerechnet die zahlreichen Urteile der französischen Militärgerichte, die in Ermangelung der Schuldigen in deren Abwesenheit ausgesprochen wurden, zu ihrem Schutzschild wurden - untersagte doch das sogenannte Überleitungsgesetz von 1954 den Deutschen explizit, die von französischen Gerichten behandelten Rechtsfälle noch einmal aufzurollen. So gingen gerade die höheren Chargen straffrei aus, zumal die Bundesregierung - offenbar unabhängig davon, welche Partei den Kanzler stellte - an einer juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit kein sonderliches Interesse zeigte. Erst als 1975 eine bilaterale Übereinkunft den Weg für bundesdeutsche Verfahren freigab, wurde zumindest einmal noch eine Akte aufgeschlagen: Kurt Lischka, der Stellvertreter des Pariser Kommandeurs der Sicherheitspolizei, wurde 1980 zu zehnjähriger Haft verurteilt. Eine magere Bilanz.
Obwohl Claudia Moisel akribisch recherchiert hat, läßt ihre Darstellung manche Frage offen. Inwieweit sind die präsentierten Beispiele repräsentativ? Welche Unterschiede machten die Tribunale zwischen Soldaten und Botschaftsangehörigen, von denen hier gar nicht die Rede ist? Warum wurde der "Judenreferent" der deutschen Botschaft, Carltheo Zeitschel, nicht angeklagt, dessen unheilvolle Rolle Barbara Lambauer in ihrer Studie über Botschafter Abetz beleuchtete? Warum nahm Frau Moisel diese Arbeit nicht zur Kenntnis? Hier wurde bereits beispielhaft die Unfähigkeit französischer Militärgerichte thematisiert, das polykratische NS-System zu durchschauen. Daß Claudia Moisels Arbeit nicht das letzte Wort zu den Kriegsverbrecherprozessen bleiben wird, liegt aber vor allem daran, daß die Militärgerichtsakten nur begrenzt herausgegeben wurden. Eine Gesamtdarstellung steht also noch aus.
BIRGIT ASCHMANN
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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