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Kerstin Decker porträtiert Franziska zu Reventlow
Anlässlich des hundertsten Todestages Franziska zu Reventlows (1871 bis 1918) will Kerstin Decker mit ihrer Biographie das Bild der "gefallenen Gräfin, die sich beständig in Liebes- und Geldnöten befand" geraderücken. Dass das Leben Reventlows bisher vor allem als Emanzipationsgeschichte erzählt worden ist, sei zwar nicht falsch. Doch tatsächlich sei der Kampf um oder gegen etwas kein "Reventlow-Modus", und diese Optik verfehle deren eigentliche Vorstellung, in der Welt zu sein - "frei, gleichsam von Anfang an frei".Diesen Wunsch nach absoluter Freiheit deutlich zu machen, ist eines der Ziele des Buches. Dazu gehört für Decker die "Biografie ihrer Liebe", "denn auch Lieben sind Lebewesen: Sie werden geboren, reifen und sterben, aber nicht alle."
Es ist hinreißendes Buch geworden, das komisch und tragisch zugleich erzählt von der Vielliebenden und ihren Männern. Um die fünfzig sollen es gewesen sein, darunter Namen wie Rainer Maria Rilke und Karl Wolfskehl. Ihrer Sehnsucht nach fester Bindung widersprach ihre Unfähigkeit, sie zu ertragen, so auch bei der Beziehung zu Ludwig Klages, mit dem sie ein tiefes Gefühl verband. Auch die Schattenseiten der von Reventlow gelebten sexuellen Freiheit lässt Decker nicht aus; tatsächlich bleibt vom Bild der "robusten Männersammlerin" kaum etwas übrig. "Das wahnsinnige Ausmaß von Lebenskraft und die Gefangenschaft daheim. Das hat mich aus dem Gleichmaß gebracht." In dieser Selbstdeutung Reventlows sieht Decker den Schlüssel zu ihrem unsteten Leben. Sie wird für die Biographin zur "Seilgängerin mit Stelzen".
In die Darstellung der Männerbeziehungen bettet Decker auch die Geschichte der Mutterliebe: Für ihren Sohn Rolf, den Halt ihres Lebens, nahm die Rebentlow viele Einschränkungen hin. Da sie nicht wollte, das etwas von den Irrtümern ihrer Erziehung an ihm wiederholt werde, verhinderte sie den Zugriff des wilhelminischen Schulsystems auf Rolf Reventlow - dieses galt ihr genau wie die Kirche als Ort der systematischen Zerstörung junger Seelen.
Es ist Kerstin Decker hoch anzurechnen, dass sie Reventlows Traktat "Was Frauen ziemt", eine Auftragsarbeit für Oskar Panizza, die er Ende 1899 in seiner Zeitschrift "Züricher Diskußionen" unter dem Titel "Viragines und Hetären" veröffentlicht hat, nicht - wie andere Biographen - unterschlägt. Handelt es sich hier doch um ein Pamphlet gegen die moderne Frauenbewegung und den ersten bayerischen Frauentag, der Ende Oktober 1899 in München stattfand. Reventlow beschimpfte die Frauenrechtlerinnen als "Bewegungsweiber", "sexuelle Zwischenform" und "hermaphroditische Geister" und erklärt ihnen, was eine richtige Frau sein sollte - Hetäre und Mutter.
Man wünschte sich allerdings, die Autorin hätte einen Blick auf die jüngsten Forschungen zu Schwabing, der Boheme und zur modernen Frauenbewegung in München um 1900 geworfen. Weder lässt sich "Schwabing" mit der Boheme gleichsetzen noch Schwabing oder die Boheme auf den Kosmiker-Kreis und Reventlow reduzieren. Aufgeräumt wurde mit den bis heute kursierenden Mythen zuletzt in dem Sammelband "Typographie und Erinnerung. Erkundungen der Maxvorstadt" (F.A.Z. vom 25. Januar).
Denn mit Schwabing ist recht eigentlich die Maxvorstadt gemeint, die im neunzehnten Jahrhundert als repräsentatives Viertel angelegt wurde und sich zu einem politischen und kulturellen Zentrum Münchens entwickelt hatte, ehe das Dorf Schwabing eingemeindet war. Im letzten Drittel des Jahrhunderts waren viele Künstler hierhergezogen. Als Reventlow Anfang der 1890er Jahre erstmals nach München kam, das damals als liberalste Stadt im ganzen deutschen Reich galt, lebten hier bereits viele Frauen, Adelige und Bürgerliche, die schon lange vor Reventlow aus dem höheren Töchterdasein und der traditionellen Rolle der Frau ausgestiegen waren und für ihre Selbstbestimmung eintraten.
Dem letzten Kapitel ist anzumerken, dass Decker ein spektakulärer Fund noch nicht zur Verfügung stand: "Die Kehrseite des deutschen Wunders", ein Bericht Reventlows, in dem sie über ihre Aufenthalte in Deutschland während des Ersten Weltkriegs und die von ihr ins Werk gesetzte Desertion ihres Sohnes Rolf in die Schweiz im August 1917 berichtet. Er wurde jüngst im Nachlass des Schriftstellers Henri-Pierre Roché an der Universität von Texas in Austin gefunden. Roché, ein früherer Liebhaber Reventlows, kennt man auch als Autor von "Jules et Jim". "Ich habe dem Kaiser meinen Sohn weggenommen", lautet triumphierend Reventlows letzter Satz. Er ist ein prototypischer Ausdruck der Lebenshaltung Franziska zu Reventlows, die die eigene Person immer vor alle Ansprüche der Gesellschaft in den Vordergrund gestellt hat.
INGVILD RICHARDSEN
Kerstin Decker:
"Franziska zu Reventlow". Eine Biografie.
Berlin Verlag, Berlin 2018. 384 S., geb., 26,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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