FREELANDER nimmt den Leser - wie schon der Roman BUICK RIVERA - mit auf eine rasante Fahrt. Der pensionierte Gymnasiallehrer für Geschichte Karlo Adum erhält ein Telegramm, das ihn zu einer Testamentseröffnung in seine Geburtsstadt Sarajevo zitiert. Widerwillig und eigens mit einer Pistole bewaffnet, verlässt er Zagreb und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise. Je näher er in seinem treuen alten Volvo dem Ziel seiner Reise kommt, desto mehr Erinnerungen steigen in ihm auf: an seine hübsche, grausame »Mama Cica«, die gern mit deutschen und italienischen Offizieren flirtete; an den verrückt gewordenen Vater; an die von der Ustascha erhängten Kommunisten vor der Kathedrale; an die Fahrt zum Meer in einem Bus mit geistig behinderten Kindern und an seine eigenen Verfehlungen in einer Welt voller nationaler Animositäten. Miljenko Jergovic zeigt sich erneut als Sprachkünstler von fulminanter Erzählfreude. Inspiriert von der Landschaft, durch die die Reise geht, sinniert er mal melancholisch, mal urkomisch über die menschliche Dummheit und den Sinn des Lebens.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2010Der Balkan ist ein Vorort von Detroit
Phantasievoll, komisch und spannend zugleich: Miljenko Jergovics Roman "Freelander" erzählt von einem Land, das der Krieg so gründlich umgepflügt hat, dass auch danach kein Frieden kommen konnte.
Ist Miljenko Jergovic ein kroatischer Clint Eastwood? Gibt es eine untergründige Verbindung vom Balkan zum Stadtrand von Detroit? Die Geschichte, die Jergovic in seinem neuen Roman "Freelander" erzählt, erinnert jedenfalls frappierend an "Gran Torino", das letzte Meisterstück des amerikanischen Regisseurs und Schauspielers. Hier wie dort steht ein Mann im Mittelpunkt, den die Kriegserinnerungen nicht loslassen. Hier wie dort ist auch in der Nachkriegszeit kein Frieden eingekehrt, abseits der alten Frontverläufe dominiert Gewalt den Alltag.
Der von Eastwood selbst gespielte Walt Kowalski ist ein knorriger alter Mann und gebrochener Patriot. Er hat in Korea gekämpft, bevor er in den Fordwerken von Detroit Autos zusammenschraubte. Die Relikte davon sind ein auf Hochglanz polierter Gran Torino Baujahr 1972 in der Garage und, stets in Griffweite: das alte Gewehr. Beides aber kommt nicht mehr zum Einsatz, denn der lungenkranke Mann wird bis zuletzt nicht mehr reisen und niemanden mehr erschießen. Und doch stirbt er im Krieg - als Opfer eines waffenstarrenden Bandenkampfs zwischen afroamerikanischen und asiatischen Jugendlichen. Eastwoods Heldenfigur rebelliert gegen den Irrsinn ethnisch motivierter Kriege, den der Regisseur von den Schlachtfeldern Koreas und Vietnams bis in die Nachbarschaft einer amerikanischen Vorstadt verlängert sieht.
Der 1966 geborene Schriftsteller Miljenko Jergovic kennt ethnischen Hass und die bestialische Gewalt zwischen Menschen, die bis gestern noch selbstverständlich zusammenlebten, aus eigener Anschauung. Er hat seine Heimatstadt Sarajevo im Belagerungszustand des Jahres 1993 verlassen. Seitdem lebt er in Zagreb. In "Freelander" erzählt er nun von einem Land, das der Krieg so gründlich umgepflügt hat, dass auch danach kein Frieden kommen konnte. Wie Walt Kowalski ist Jergovics Protagonist Karlo Adum ein griesgrämiger, verwitweter Einzelgänger, der nicht an Gott glauben kann. Seit der Pensionierung ist das Leben des ehemaligen Geschichtslehrers nichts als ein Warten auf den Tod, und wenn es zu einer letzten Selbstermächtigung kommen sollte, dann hat der sechsundsechzigjährige Adum dafür zwei Requisiten zur Hand: die alte Waffe und ein Auto, von dem er glaubt, dass es "wie ein gutes Pferd war, das im lockeren Trab die halbe Welt umrundet". Adum, so heißt es bittersüß, "war dem Volvo wie einem letzten Freund verbunden". Im Unterschied zu Kowalski macht er sich damit noch einmal auf den Weg.
Per Telegramm wird Karlo Adum aufgefordert, bei der Testamentseröffnung seines Onkels anwesend zu sein, und so kommt er zum ersten Mal nach fünfzig Jahren wieder in seine Geburtsstadt Sarajevo. Entlang der Fahrt dorthin, im orangefarbenen Volvo - "Baujahr 1975, Originallackierung und mit einem Hupton, der wie die Blechbläser in einer Mahler-Symphonie klingt" - entrollt sich die Handlung dieses kapitellosen Romans. Von Zagreb aus geht es durch entvölkerte Landstriche der Posavina, über neue Grenzen hinweg, vorbei an Ruinen, Minenfeldern und Friedhöfen nach Bosnien. Was wie ein Film an Adum vorbeizieht, ruft früheste Erinnerungen wach, darunter die schmerzlichsten. Etwa daran, wie die Mutter ihren Jungen kurz nach Kriegsende mit einer Gruppe kranker Kinder zur Erholung ans Meer schickt, in einem klapprigen ehemals deutschen Bus, von dem er schon als Siebenjähriger annimmt, er würde ihn in den Tod transportieren.
Plötzlich ist jedes Detail dieser Fahrt präsent, der Geruch nach Benzin, nach Schweiß von fünfzig Jungen, verschimmeltem Brot und dünner Suppe, die Peitschenhiebe des grausamen Aufsichtspersonals. Seine Mutter, "Mama Cica", war die Einzige, die beim Abschied nicht gewinkt hatte. Mit ihr zeichnet Jergovic eine übermächtige Frauenfigur. Ihren Mann, der durch einen Unfall einen Daumen verloren hatte und darüber bis in den Tod verzweifelte, überlebt sie durch Zähigkeit, der Übergang ins kommunistische System gelingt durch geschickte Anpassung. Auch rettet sie ihrem Sohn einmal das Leben. Die sexuelle Symbolik abgeschnittener männlicher Gliedmaßen lässt bereits ahnen, was Karlos Nachname dann überdeutlich auf den Begriff bringt: Adum, das kommt von Hadum, was Kastrat bedeutet. Der kinderlose Protagonist des Romans ist eine impotente Gestalt, und die Pistole, die er als Phallusersatz bei sich hat, wird bis zuletzt nicht abgefeuert.
So phantasiereich, komisch und nicht zuletzt spannend Miljenko Jergovic erzählt, möchte man das Buch nicht aus der Hand legen. Mit jedem gefahrenen Kilometer setzt Adums Leben sich vor unseren Augen zusammen. Auch für ihn selbst ist es aber eine Reise in die eigene Biographie, in der sich die komplizierte Geschichte Jugoslawiens vom Zweiten Weltkrieg bis heute spiegelt.
Allein das Wort für Lammbraten, der auf Kroatisch janjetina, auf Serbisch indes jagnjetina heißt, zeigt, wie marginal die Unterschiede der benachbarten Kulturen sind. Doch werden sie auch in Adums Augen manifest: "Er fürchtete sich einfach vor denen, die nicht wussten, wie überflüssig dieses g war, oder die aus einer Welt kamen, in der das g nicht überflüssig war." Mit abgründigem Humor erkennt der Protagonist seine bosnische Heimat als ein Land "an der Wende vom siebzehnten ins einundzwanzigste Jahrhundert". Am Ende scheint es, als sei nicht eine Erbschaft der Grund dieser Fahrt gewesen, sondern vielmehr der Versuch, mit sich selbst ins Reine zu kommen, um sterben zu können. Adum hatte fortwährend seinen eigenen Tod geträumt. In Sarajevo soll sich dieses Traumgesicht erfüllen. Er stirbt im Zimmer eines schäbigen Stundenhotels in seiner Geburtsstadt. Den Volvo vor der Tür haben seine Landsleute da bereits gründlich ausgeweidet.
STEFANIE PETER
Miljenko Jergovic: "Freelander". Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert, Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2010. 231 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Phantasievoll, komisch und spannend zugleich: Miljenko Jergovics Roman "Freelander" erzählt von einem Land, das der Krieg so gründlich umgepflügt hat, dass auch danach kein Frieden kommen konnte.
Ist Miljenko Jergovic ein kroatischer Clint Eastwood? Gibt es eine untergründige Verbindung vom Balkan zum Stadtrand von Detroit? Die Geschichte, die Jergovic in seinem neuen Roman "Freelander" erzählt, erinnert jedenfalls frappierend an "Gran Torino", das letzte Meisterstück des amerikanischen Regisseurs und Schauspielers. Hier wie dort steht ein Mann im Mittelpunkt, den die Kriegserinnerungen nicht loslassen. Hier wie dort ist auch in der Nachkriegszeit kein Frieden eingekehrt, abseits der alten Frontverläufe dominiert Gewalt den Alltag.
Der von Eastwood selbst gespielte Walt Kowalski ist ein knorriger alter Mann und gebrochener Patriot. Er hat in Korea gekämpft, bevor er in den Fordwerken von Detroit Autos zusammenschraubte. Die Relikte davon sind ein auf Hochglanz polierter Gran Torino Baujahr 1972 in der Garage und, stets in Griffweite: das alte Gewehr. Beides aber kommt nicht mehr zum Einsatz, denn der lungenkranke Mann wird bis zuletzt nicht mehr reisen und niemanden mehr erschießen. Und doch stirbt er im Krieg - als Opfer eines waffenstarrenden Bandenkampfs zwischen afroamerikanischen und asiatischen Jugendlichen. Eastwoods Heldenfigur rebelliert gegen den Irrsinn ethnisch motivierter Kriege, den der Regisseur von den Schlachtfeldern Koreas und Vietnams bis in die Nachbarschaft einer amerikanischen Vorstadt verlängert sieht.
Der 1966 geborene Schriftsteller Miljenko Jergovic kennt ethnischen Hass und die bestialische Gewalt zwischen Menschen, die bis gestern noch selbstverständlich zusammenlebten, aus eigener Anschauung. Er hat seine Heimatstadt Sarajevo im Belagerungszustand des Jahres 1993 verlassen. Seitdem lebt er in Zagreb. In "Freelander" erzählt er nun von einem Land, das der Krieg so gründlich umgepflügt hat, dass auch danach kein Frieden kommen konnte. Wie Walt Kowalski ist Jergovics Protagonist Karlo Adum ein griesgrämiger, verwitweter Einzelgänger, der nicht an Gott glauben kann. Seit der Pensionierung ist das Leben des ehemaligen Geschichtslehrers nichts als ein Warten auf den Tod, und wenn es zu einer letzten Selbstermächtigung kommen sollte, dann hat der sechsundsechzigjährige Adum dafür zwei Requisiten zur Hand: die alte Waffe und ein Auto, von dem er glaubt, dass es "wie ein gutes Pferd war, das im lockeren Trab die halbe Welt umrundet". Adum, so heißt es bittersüß, "war dem Volvo wie einem letzten Freund verbunden". Im Unterschied zu Kowalski macht er sich damit noch einmal auf den Weg.
Per Telegramm wird Karlo Adum aufgefordert, bei der Testamentseröffnung seines Onkels anwesend zu sein, und so kommt er zum ersten Mal nach fünfzig Jahren wieder in seine Geburtsstadt Sarajevo. Entlang der Fahrt dorthin, im orangefarbenen Volvo - "Baujahr 1975, Originallackierung und mit einem Hupton, der wie die Blechbläser in einer Mahler-Symphonie klingt" - entrollt sich die Handlung dieses kapitellosen Romans. Von Zagreb aus geht es durch entvölkerte Landstriche der Posavina, über neue Grenzen hinweg, vorbei an Ruinen, Minenfeldern und Friedhöfen nach Bosnien. Was wie ein Film an Adum vorbeizieht, ruft früheste Erinnerungen wach, darunter die schmerzlichsten. Etwa daran, wie die Mutter ihren Jungen kurz nach Kriegsende mit einer Gruppe kranker Kinder zur Erholung ans Meer schickt, in einem klapprigen ehemals deutschen Bus, von dem er schon als Siebenjähriger annimmt, er würde ihn in den Tod transportieren.
Plötzlich ist jedes Detail dieser Fahrt präsent, der Geruch nach Benzin, nach Schweiß von fünfzig Jungen, verschimmeltem Brot und dünner Suppe, die Peitschenhiebe des grausamen Aufsichtspersonals. Seine Mutter, "Mama Cica", war die Einzige, die beim Abschied nicht gewinkt hatte. Mit ihr zeichnet Jergovic eine übermächtige Frauenfigur. Ihren Mann, der durch einen Unfall einen Daumen verloren hatte und darüber bis in den Tod verzweifelte, überlebt sie durch Zähigkeit, der Übergang ins kommunistische System gelingt durch geschickte Anpassung. Auch rettet sie ihrem Sohn einmal das Leben. Die sexuelle Symbolik abgeschnittener männlicher Gliedmaßen lässt bereits ahnen, was Karlos Nachname dann überdeutlich auf den Begriff bringt: Adum, das kommt von Hadum, was Kastrat bedeutet. Der kinderlose Protagonist des Romans ist eine impotente Gestalt, und die Pistole, die er als Phallusersatz bei sich hat, wird bis zuletzt nicht abgefeuert.
So phantasiereich, komisch und nicht zuletzt spannend Miljenko Jergovic erzählt, möchte man das Buch nicht aus der Hand legen. Mit jedem gefahrenen Kilometer setzt Adums Leben sich vor unseren Augen zusammen. Auch für ihn selbst ist es aber eine Reise in die eigene Biographie, in der sich die komplizierte Geschichte Jugoslawiens vom Zweiten Weltkrieg bis heute spiegelt.
Allein das Wort für Lammbraten, der auf Kroatisch janjetina, auf Serbisch indes jagnjetina heißt, zeigt, wie marginal die Unterschiede der benachbarten Kulturen sind. Doch werden sie auch in Adums Augen manifest: "Er fürchtete sich einfach vor denen, die nicht wussten, wie überflüssig dieses g war, oder die aus einer Welt kamen, in der das g nicht überflüssig war." Mit abgründigem Humor erkennt der Protagonist seine bosnische Heimat als ein Land "an der Wende vom siebzehnten ins einundzwanzigste Jahrhundert". Am Ende scheint es, als sei nicht eine Erbschaft der Grund dieser Fahrt gewesen, sondern vielmehr der Versuch, mit sich selbst ins Reine zu kommen, um sterben zu können. Adum hatte fortwährend seinen eigenen Tod geträumt. In Sarajevo soll sich dieses Traumgesicht erfüllen. Er stirbt im Zimmer eines schäbigen Stundenhotels in seiner Geburtsstadt. Den Volvo vor der Tür haben seine Landsleute da bereits gründlich ausgeweidet.
STEFANIE PETER
Miljenko Jergovic: "Freelander". Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert, Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2010. 231 S., geb., 19,90 [Euro].
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»Voll atemberaubender erzählerischer Momente, (...) gnadenlos wird hier eine archaische Kultur ad absurdum geführt.«Neue Zürcher Zeitung