In hinreißender Prosa erzählt die Autorin ergreifend über das Erwachsenwerden im poststalinistischen Albanien und in einer schillernden Familie, die vom Sturm der Geschichte erfasst wird.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Im Sonderfall des Ostblocks: Lea Ypi hat ein Memoir über ihre Kindheit in Albanien und die Enttäuschung über den Westen geschrieben.
Das mulmige Gefühl stellt sich ganz unerwartet ein. Gerade freute man sich noch mit der sechsjährigen Erzählerin, dass ein monatelanger Streit mit den Nachbarn beigelegt ist, da lässt sie die Raki-geschwängerte Runde erstarren. Beiläufig erwähnt sie, ihre Eltern könnten Onkel Enver wohl nicht leiden, denn sonst hätten sie schon längst sein Foto im Wohnzimmer stehen. Der Nachbar, ein Parteifunktionär, rettet die Situation, indem er das Mädchen sanft ermahnt. "Du musst mir versprechen", schiebt er dann nach, "dass du zu mir kommst und es mir erzählst, falls dir je wieder solche dummen Gedanken über deine Familie in den Sinn kommen." In diesen Momenten ist Lea Ypis autobiographische Erzählung "Frei" besonders eindrucksvoll: wenn sich die Durchdringung aller Lebensbereiche durch die Überwachung einer Diktatur offenbart.
Ypi wächst in Albanien auf, dem Sonderfall des Ostblocks. Enver Hodscha herrschte dort von 1946 bis zu seinem Tod 1985, und unter ihm sagt sich das Land bis zur fast vollständigen Isolation von allen Verbündeten los. Die kleine Lea glaubt an Albanien, sie wünscht sich Familienmitglieder, die als Märtyrer im antifaschistischen Kampf sterben, damit sie deren Geschichten vor der Klasse erzählen kann. Denn Biographie, so lernt sie, ist im Sozialismus wichtiger als die eigene Gesinnung. Sie hätte nie in "die Partei" eintreten können, offenbart ihr die Mutter später, denn ihre Vorfahren seien verdächtig. Bei all dem befindet sich der Leser immer auf Leas Wissenstand. Warum es etwa ein Problem ist, mit jemandem zu verkehren, der gerade seinen Abschluss gemacht hat, erschließt sich erst, wenn man den Code kennt: Universität heißt Gefängnis, der Abschluss ist die Entlassung, der Ausschluss vom Unterricht die Todesstrafe.
So niederschmetternd der Inhalt, so ironisch ist oft der Bericht. Ypi schreibt mit jener unsentimentalen Distanz, die im englischen Sprachraum eine viel gelobte Haltung von Ich-Erzählungen ist. Häufig benutzt sie die direkte Rede, was Eindringlichkeit erzeugt, aber manchmal an ein Theaterstück erinnert. Im Epilog erfährt man, dass die Autorin, heute Professorin für politische Theorie an der London School of Economics, ursprünglich eine Abhandlung über "deckungsgleiche Vorstellungen von Freiheit" aus der liberalen und der sozialistischen Tradition geplant hatte. Aber dann kamen ihr die eigenen Erinnerungen in die Quere - und die Erkenntnis, dass "hinter jeder Personifikation ökonomischer Kategorien ein Mensch aus Fleisch und Blut" stecke. Die ideengeschichtliche Versuchsanordnung ist im Kern geblieben, denn das Buch ist auch ein Argument in einem familiär-historischen Konflikt: Wieso forscht die Tochter von Opfern des Sozialismus heute zu Marx?
Die Antwort gibt sie im zweiten Teil. Er setzt 1991 ein, dem Jahr der ersten freien Wahlen. Die nationale Abgeschlossenheit, zuvor eine Quelle von behütetem Stolz, verwandelt sich in den Frust darüber, eine abgehängte Balkanprovinz zu sein. Der Vater, ein intellektueller Freigeist, versinkt in Mutlosigkeit, weil er fünf Sprachen, aber kein Englisch kann. Die Mutter, mittlerweile Lokalpolitikerin, empfängt eine Delegation französischer Feministinnen im roten Seidennegligé, das sie, falsch informiert durch die Seifenwerbung, für ein edles Hauskleid hält.
Die ersehnte Freiheit ist zwiespältig. Zum einen verschwindet die Kontrolle durch die Partei, das Gleiche gilt zum anderen aber auch für die eingespielten Rituale der Beziehungspflege. Einkommensunterschiede lassen Freundschaften auseinanderbrechen. Die neue Rede von der Liberalisierung ersetzt die alten Parolen vom demokratischen Zentralismus, aber der Schlagwortcharakter bleibt.
Für das dünne Mädchen mit Jungenhaarschnitt fallen die Zeiten im Wandel mit der Verwandlung des eigenen Körpers zusammen. Ihr Vater wird ins Parlament gewählt, aber Jungs verziehen den Mund, wenn sie Lea beim Flaschendrehen küssen sollen. Wie viele Albaner verliert Leas Familie ihre Ersparnisse durch das "Pyramidensystem", das Privatanlegern für Firmeninvestitionen überhöhte Zinsversprechen gibt. Dessen Kollaps führt im März 1997 zum Bürgerkrieg, den die Autorin mithilfe ihrer alten Tagebucheinträge erzählt. Das Dauerfeuer der Kalaschnikows lässt sie zeitweise verstummen, zugleich geht das Leben weiter: "Ich habe daran gedacht, mich umzubringen", heißt es an einem Tag. "Irgendwo im Haus hat sich ein Kuckuck versteckt", an einem anderen.
Lea Ypis Buch ist keine klassische Autobiographie, sondern eine kluge Komposition aussagekräftiger Szenen, in denen Tragik und Absurdität, Freude und Grausamkeit nahe beieinander liegen. Dass man hinter der Illusion des allwissenden Kindes recht schnell den abgeklärten Blick der Akademikerin erkennt, trübt das Lesevergnügen nicht. Ob es den Epilog gebraucht hätte, ist dagegen fraglich. Er spricht viel aus, was zuvor nur angedeutet wurde. "Meine Familie setzt den Sozialismus mit Verleugnung gleich", schreibt Ypi. "Ich setze den Liberalismus mit gebrochenen Versprechen gleich, mit der Zerstörung von Solidarität, mit dem Anspruch auf vererbte Privilegien und dem bewussten Ausblenden von Ungerechtigkeit." Das liest sich in Anbetracht der Seiten zuvor, in der die vielen Widersprüche von Menschen und Systemen einfühlsam dargelegt wurden, ausgesprochen nuancenarm. Und zugleich lernt man, worum es in dem Buch wirklich geht: um die Erfahrung, dass die Theorie immer mit den Grenzen der Praxis zu kämpfen hat, die Theorie von Freiheit ebenso wie die von Solidarität und Gemeinschaft. KERSTIN MARIA PAHL
Lea Ypi: "Frei". Erwachsenwerden am Ende der Geschichte.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 332 S., geb., 28,- Euro.
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