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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Martin Mittelmeier erzählt von Entstehung und Nachwirkung der "Dialektik der Aufklärung"
Philosophie habe einen Zeitkern; etwas wie zeitlos, definitiv gültige philosophische Aussagen gebe es nicht: So lautet eine Grundthese der Kritischen Theorie, die als Frankfurter Schule unter die einflussreichsten Traditionen des zwanzigsten Jahrhunderts zählt. Aber auch diese These ist nicht einfach theoretisches Axiom, verdankt sich vielmehr den historisch fixierbaren Umständen einer katastrophalen Epoche. Hervorgegangen ist die Kritische Theorie aus neomarxistischen Studien in der Krise nach dem Ersten Weltkrieg; entfaltet hat sie sich im amerikanischen Exil unter dem Eindruck des neuerlichen Krieges und der Vernichtung des europäischen Judentums; zu weltweiter Wirkung kam sie in den Jahrzehnten des Wiederaufbaus bis zur akademischen Revolte 1968.
Eine historisierende Lektüre von Texten der Kritischen Theorie wäre also gerade die Probe aufs Exempel ihrer These: Be deutet doch der Begriff des "Zeitkerns" keineswegs eine Stillstellung in der Vergangenheit, vielmehr den Versuch, aus dieser Vergangenheit das herauszulösen, was in ihr produktiv ist für eine ständig neue Gegenwart. Eine Philosophie, die das nicht vermag, bliebe in der Tat ausschließlich Gegenstand der Philosophiegeschichte.
Die "Dialektik der Aufklärung", das erste Hauptwerk aus der Phase des Exils, bietet sich besonders an für eine solche historisierende Lektüre, denn sie ist in mehrfacher Hinsicht ein höchst eigentümliches Buch. Zunächst als Gemeinschaftsarbeit zweier Autoren, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die nach allen Zeugnissen jeden einzelnen Satz diskutiert und verantwortet haben. Dann durch die äußere Form: Was heute als eines der großen Werke der Philosophie gilt, ist ein unsystematisch zusammengestelltes Buch, und es trägt seinen Untertitel "Philosophische Fragmente" zu Recht: Auf die Einleitung "Begriff der Aufklärung" folgen sofort zwei "Exkurse" zu historischen Quellen, zur "Odyssee" und zum Marquis de Sade, ein Kapitel "Kulturindustrie", Überlegungen zum Antisemitismus und aphorismenartige "Aufzeichnungen und Entwürfe". Das Ganze in der Erstausgabe mit der Goethe'schen Schlussformel: "fortzusetzen".
Den unmittelbaren Zeithorizont umreißt die Vorrede: "Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt." Doch das Wort vom nationalsozialistischen Judenmord, dem eigentlichen Kern dieser Barbarei, fällt nirgendwo.
Martin Mittelmeiers Absicht, durch die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einen Zugang gerade zu den Eigentümlichkeiten des Werkes freizulegen, ist gut begründet. Dass es ihm trotz vieler Einsichten nicht durchweg gelingt, liegt zunächst einmal an einer gewissen Unentschiedenheit im Adressaten: Dem mit der Materie Vertrauten bietet er wenig Neues; mit einer populären Einführung durch kurze Paraphrasen wiederum kann er nicht den kritischen Anspruch erfüllen, der eine solche Vertrautheit ja voraussetzt.
Zugegeben, die inzwischen wohl unvermeidliche Ankündigung im Verlagstext, der Autor erzähle diese Geschichte "eingängig und unterhaltsam", schreckt den Rezensenten angesichts der Stichworte Barbarei, Rassismus und Antisemitismus kräftig ab, doch mehr als ein Kapitel gibt der Reklame recht. Häufig misslingt der Versuch, Philosophie durch Anekdoten interessant zu machen: Die szenische Nachdichtung von Hannah Arendts Fußweg durch New York mit Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen in der Tasche ist nichtssagend; Bertolt Brechts Reklame-Gedicht zum Gewinn eines Automobils desgleichen, doch wenigstens lustig; während der Lektüre von Adornos außer- und ehelichen Liebesverwicklungen beschleicht den Rezensenten die Furcht, der Autor werde sich auch Gretel Adornos Selbstmordversuch nach ihres Mannes Tod nicht entgehen lassen - leider wird er nicht enttäuscht.
Solche Ausflüge in langweilige Erzählprosa sind umso bedauerlicher, als Mittelmeier anderswo durchaus beweist, dass sein Ansatz fruchtbar sein kann: wenn nämlich der beschriebene Moment nicht an narrativen Haaren herbeigezogen wird, sondern zum Thema gehört. Natürlich hatte Charlie Chaplin keinen "Anteil an der Entstehung eines Meisterwerks der Philosophie", um ein letztes Mal die Verlagsprosa zu zitieren, aber Mittelmeiers Skizze der Diskussion über Chaplins "Der große Diktator" gibt auf diesem Nebenweg höchst interessanten Aufschluss zu einer Hauptfrage der "Dialektik der Aufklärung".
Kritisierte Adorno, obwohl großer Chaplin-Verehrer, die humanistische Schlussrede des zum letzten Mal auftretenden Tramps und ihre filmische Illustration durch friedlich wogende Kornfelder als gut gemeinten, doch hilflosen Kitsch, so sah Horkheimer hier einen legitimen, plakativen und wirkungsvollen Friedensappell. Überzeugend auch die Passagen über Adornos Zusammenarbeit mit Thomas Mann für den Musikerroman "Doktor Faustus": Tatsächlich wäre nicht nur manches Stück im Roman "unkomponiert" geblieben; heller, positiver läse man ohne Adornos Einfluss auch den tiefschwarzen Schluss mit "Doktor Fausti Weheklag" und seiner Dialektik von Höllenfahrt und minimaler Erlösungshoffnung.
Dann aber kommt Mittelmeier zu einem Fazit, das nicht unwidersprochen bleiben kann. Die Hölle im "Doktor Faustus" von 1947 wie in der "Dialektik der Aufklärung" von 1944 meint natürlich vor allem den millionenfachen Judenmord. Doch Mittelmeier schließt an: "Dass Himmel und Hölle identisch sein können, ist eine Konsequenz aus der ungeheuerlichen gedanklichen Konstruktion, dass der Holocaust die letzte, notwendige Etappe zur Erlösung ist. Der Holocaust ist das schrecklichste 'Bild', an das sich der Bilderentzifferer Adorno wagt. Und er entziffert selbst aus den Menschheitsverbrechen der Nazis eine Utopie."
Der Gedanke, Adorno habe je etwas entworfen wie eine teleologische Geschichtskonstruktion, in der die Judenvernichtung in welchem Sinne auch immer "notwendig" sei, ist so ungeheuerlich falsch oder so unbeholfen ausgedrückt, dass es einem Missverstehen der ganzen Theorie gleichkommt. Adorno hat es ganz ausdrücklich abgelehnt, irgendeinen philosophischen Sinn, geschweige eine heilsgeschichtliche "Notwendigkeit" herauszupressen aus dem vergleichslosen Verbrechen. Wenn überhaupt eines, so hat er, zurückgekehrt nach Deutschland, nur ein einziges Axiom für alles Denken und Handeln formuliert: dass Auschwitz sich nicht wiederholen dürfe. Dies aber ist bereits der Impuls des Jahrhundertbuchs "Dialektik der Aufklärung". WOLFGANG MATZ
Martin Mittelmeier: "Freiheit und Finsternis". Wie die "Dialektik der Aufklärung" zum Jahrhundertbuch wurde.
Siedler Verlag, München 2021. 320 S., geb., 24,- Euro.
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