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Genau der Blick, reich das Wissen, poetisch das Verfahren: Was Jean-Christophe Bailly sieht, wenn er Frankreich bereist
"Sie können zwanzig Jahre in Paris leben und doch nicht Frankreich kennen." So steht es in Stendhals "Mémoires d'un touriste", als Einsicht des Eisenhändlers, der dort von seinen Reisen in der französischen Provinz berichtet. Sie zielte darauf, dass sich abseits der Hauptstadt wirklich die Chance biete, Frankreich kennenzulernen, während in Paris dazu die Erfahrungen eines ganzen Lebens kaum ausreichten.
Wenn Jean-Christoph Bailly in seinem eigenen Buch der Reisen durch das heutige Frankreich die Sentenz Stendhals von 1838 zitiert, glaubt man ihn schon auf dem Weg, das gegenwärtige Verhältnis zwischen Hauptstadt und "tiefem Frankreich" zu behandeln. Doch weil man es bei diesem Essayisten, Erzähler und Dichter, der von Haus aus Philosoph ist und an einer Grande École in Blois "Geschichte der Landschaft" lehrt, mit einem Autor zu tun hat, der recht genau weiß, wo Fragestellungen zu groß geraten und sich von konkreten Eindrücken und Erfahrungen loslösen, wird daraus eine andere Erkundung: Wo eigentlich beginnt das Frankreich jenseits von Paris?
Irgendwo hinter dem Périphérique, dem Stadtautobahnring, mag die Antwort lauten. Aber was das genauer bedeuten könnte, erschließt sich (vielleicht) erst demjenigen, der sich auf den Weg macht, etwa einmal nicht einfach in die Schnellbahn steigt, um von einer Vorstadt zurück nach Paris zu fahren, sondern sich im Umkreis der Stationen umsieht und - es lässt sich ja da und dort machen - zu Fuß den Gürtel des Périphérique überwindet.
Das ist eine der Reisen und Wanderungen, die Bailly in den Jahren 2008 bis 2010 unternommen hat (das Buch erschien im Original im Jahr darauf). Paris berühren sie an der Banlieue, mit nur kurzen Übertritten in die Stadt, um sich dann gleich wieder der Provinz, ihren Städten, Städtchen und Landschaften, zuzuwenden. Mit einem Text, der sich gar nicht so einfach charakterisieren lässt. Das geht manchmal in Richtung Essay, versetzt mit unvorhersehbaren Abschweifungen, erreicht aber auch oft die Evokationsfülle des Prosagedichts, bleibt mitunter beim Notat.
Der durchgehende Anspruch ist es, nahe an den Dingen und den von ihnen angestoßenen, von persönlichen wie historischen Erinnerungsspuren durchquerten Erfahrungen zu bleiben. Oder wie es Bailly auch formuliert, glaubhaft werden zu lassen, dass sich sein Schreiben dem Diktat der von ihm wahrgenommenen Welt verdankt. Woraus schon ersichtlich ist, dass man es bei diesem Buch nicht etwa mit einer aufgelockerten Form der Landeskunde zu tun hat. Dass der Verlag es unter seine Sachbücher reiht, lädt fast schon zu Missverständnissen ein.
Man lernt über die besuchten Orte und ihre Geschichte bei Bailly beiläufig zwar vieles, doch nicht davon lebt im Grunde der Text. Um es nur scheinbar paradox zu formulieren: Gerade weil er so nahe, und in seiner Formgebung äußerst bewusst, an den Gegenständen operiert, geht er in diesen nicht auf. Man muss nicht einmal Erfahrungen mit Frankreich haben oder suchen, um ihn als poetisches Exerzitium zu schätzen.
Selbst wenn es zuerst Frankreich zugeneigte Leser sein werden, die diesen Band zur Hand nehmen. Um dann mit dem Autor, der auch an bekannten, touristisch erschlossenen Orten nicht ganz vorbeigeht, etwa an einem Wintermorgen durch Schloss Fontainebleau zu streifen. Aber eben nicht so, wie man es mit einem noch so kundigen und belesenen Cicerone tun würde. In Baillys Fall ist da zuerst eine tiefliegende Reminiszenz, die mit dem dortigen Karpfenbecken zusammenhängt, an welche sich wiederum Erinnerungen knüpfen, wie dem Kind die große französische Geschichte nahegebracht wurde, um dann aber nicht bei Miniaturen zu Franz I. oder dem abdankenden Napoléon zu enden, sondern auf dem Weg zurück zum Bahnhof an "unergründlich tristem Ort" die Namen der Geschäfte zu notieren, "Speed Auto" und "Royal Canin", nachdem er vorher schon das Fitnesscenter Club du Château gleich neben dem Schloss ins Auge gefasst hatte.
Um solches Ineinander von Zeitschichten, denen Bilder, Überlieferungen und Spuren - in Objekten, Landschaften oder auch nur noch in Namen - entsprechen, geht es oft: um das Wiederauftauchen von Vergangenheiten an die betrachtete Oberfläche. Gleich nach dem Gang durch Fontainebleau zeigt es Bailly in einem Kapitel, das im Städtchen Varennes seinen Ausgang nimmt, wo die flüchtende königliche Familie im Sommer 1791 festgesetzt wurde, mit weltgeschichtlichen Folgen. Da ist die "große offizielle Geschichte" berührt, "doch verschmolzen und verwoben mit Winkeln, Käffern, mehr oder weniger entlegenen Dörfern". Am Rande auch mit einem Dorf, von dem Goethe 1792 in seiner "Kampagne in Frankreich" berichtet. Nicht weit davon entfernt in diesem nordöstlichen Frankreich, im Argonner Wald, liegt eine Gedenkstätte für im Ersten Weltkrieg gefallene amerikanische Soldaten, aber auch ein Städtchen, das 1870 eine Schlacht zwischen Frankreich und Preußen über sich ergehen lassen musste; in den nahen Ardennen brachen die Deutschen 1940 ins Innere Frankreichs durch; man kommt durch den Landstrich, in dem Rimbaud aufwuchs.
Ein solches Resümee der verknüpften Orte nimmt sich freilich viel durchsichtiger, auch schwerfälliger aus, als es Baillys konkrete Vergegenwärtigungen sind. Er muss dazu nicht über Dörfer ziehen, sondern kann auch, wie gleich zu Beginn, all die Fangvorrichtungen für Tiere mustern, die ein Spezialgeschäft in Bordeaux anbietet, um daraus zwanglos Betrachtungen über die Listen der Jagd zu gewinnen, in denen sich landschaftliche Besonderheiten genauso niederschlagen wie das Verhalten der Tiere - und die "unentwirrbare und rätselhafte Verbindung von Land und Blut", faszinierend und abschreckend in einem.
Man hat es mit einem Autor von literarischem Format zu tun, kundig zudem auf mehreren Terrains. Spät, aber doch, Bailly geht auf die siebzig zu, liegt nun ein erstes und auch noch stattliches Buch von ihm auf Deutsch vor. Und schön wäre es eigentlich, wenn ihm noch andere folgen würden, seine Essays über Tiere etwa, die übrigens auch in den "Reisen" nicht übergangen werden. Doch das Lob für den Verlag muss man gleich wieder einschränken. Denn die Übersetzung, die er vorlegt, lässt sehr zu wünschen übrig. Dass Baillys Text einfach zu übersetzen sei, wird niemand behaupten wollen, es gibt da manche etwas rätselhafte Wendung. Aber das entschuldigt nicht, was der deutschen Fassung alles an Ungeschicklichkeiten und Fehlern unterläuft.
Der Übersetzer ist imstande, nicht etwa die Fußgängerbrücke den Périphérique überspannen zu lassen, sondern die Treppe, die zu ihr führt (wofür dann sogar der Beginn des nächsten Satzes geändert wird); aus gleich darauf folgenden Kämpfen zwischen "groupes d'étudiants de diverses factions" werden solche "zwischen Studentengruppen unterschiedlicher aufrührerischer Gruppen", aus erlebten Szenen "[qui] se détachent d'elles mêmes pour produire une sorte de fiction stationnaire" werden "Szenen, die von selbst abheben, um eine Art ortsgebundene Fiktion zu erzeugen", aus einem Effekt "facilement mais si efficacement obtenu" wird ein "leichter, aber sehr wirksamer" Effekt, wenn Rodin Wege "presque tactilement" kennt, wird daraus, dass er von den Wegen "eine beinahe fassbare Kenntnis besaß", in Verdun focht man einen "Positionskrieg", aus einer erbaulichen ("édifiant") Genreszene à la Greuze wird eine "aufschlussreiche", "papier vergé" ist "Papier mit Wasserzeichen".
Und so fort. Dass aus den im französischen Text einmal eingefügten Davidsternen - wenn Bailly die Inschriften auf Soldatengräbern des "Großen Kriegs" zitiert - Asteriske werden, die auf nichts verweisen, zeigt überdies die Sorgfalt des Verlags. Will der sein Ansehen als Ort für französische Literatur wahren, sollte er gleich an eine Überarbeitung der Übersetzung gehen, auf dass die zweite Auflage sich besser aus der Affäre zieht. Denn diesem Autor mit genauem Blick für die Dinge wie für den Text, den sie anstoßen, folgt man gern auf seinen manchmal etwas gewundenen Wegen.
HELMUT MAYER
Jean-Christophe Bailly: "Fremd gewordenes Land". Streifzüge durch Frankreich. Mit einem Nachwort von Hanns Zischler. Aus dem Französischen von Andreas Riehle. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
461 S., geb., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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