Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Arbeitsmigranten aus Süditalien blieben "die anderen" - im eigenen Land und in Deutschland
Sie stehen auf einem Gleis am Münchner Hauptbahnhof und laden Gepäck aus einem Waggon aus. Koffer und Taschen gefüllt mit dem, was sie aus dem Süden mitgebracht haben für das neue Leben im Norden. Junge und mittelalte Männer, die meisten im Mantel, viele mit Schiebermützen. Eine bauchige, mit Stroh umflochtene Weinflasche gibt einen Hinweis auf ihre Herkunft: Italien, Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und das Mitgliedsland, das in der Nachkriegszeit zu viele Arbeitskräfte für zu wenige Stellen hatte, vor allem in den südlichen Regionen, dem "Mezzogiorno". Millionen Italiener suchten deshalb ihr Glück in den Industriemetropolen des Nordens, diesseits und jenseits der Alpen.
Der Fotograf Jenö Kovacs hat diese Suche in Bildern festgehalten. Die Bahnhofsszene nahm er 1960 auf, für eine Reportage über italienische "Gastarbeiter". Das Foto erschien damals in einer Münchner Wochenzeitschrift und illustriert heute den Umschlag des Buches "Fremde Heimat, fremde Ferne. Italienische Arbeitsmigration in Turin und München 1950-1975". Die Historikerin Olga Sparschuh untersucht darin, wie sich die Europäisierungsprozesse jener Jahre auf die Arbeitsmigration von Süditalienern auswirkten und welche Rolle dabei die sozialen und kulturellen Unterschiede innerhalb Italiens und Europas spielten.
Am 20. Dezember 1955 unterzeichneten Bundesarbeitsminister Anton Storch und der italienische Außenminister Gaetano Martino in Rom das deutsch-italienische Anwerbeabkommen, das erste seiner Art zwischen der Bundesrepublik und einem anderen Staat, das letzte für Italien, das schon seit 1946 solche Abkommen abgeschlossen hatte. Es erleichterte durch die klaren Konditionen vielen Italienern den Schritt über die Grenze, gerade auch weil die Binnenmigration in Italien durch ein Gesetz aus der Zeit des Faschismus, das "legge contro l'urbanesimo", noch bis 1961 mit hohen bürokratischen Hürden verbunden war. Das hinderte Süditaliener zwar nicht daran, sich Richtung Mailand oder Turin aufzumachen, um dort Arbeit zu suchen. Es schwächte aber ihre rechtliche Position, trotz ihrer italienischen Staatsbürgerschaft.
Mit der Liberalisierung der italienischen Gesetzgebung im Jahr 1961 und der schrittweisen Einführung der EWG-Freizügigkeit, wie sie schon 1957 in den Römischen Verträgen vereinbart worden war, änderte sich diese Situation nach und nach - Italiener konnten sich schließlich auf dem italienischen Arbeitsmarkt ähnlich frei bewegen wie auf jenem der EWG. Grob geschätzt migrierten zwischen 1955 und 1971 etwa neun Millionen Italiener innerhalb ihres Landes, zwei Millionen italienische Arbeitsmigranten kamen in jenen Jahren in die Bundesrepublik.
Die Leitfrage für Sparschuhs Untersuchung ist, inwiefern diese Migrationsbewegungen als gemeinsame europäische Erfahrung gefasst werden können. Das Foto vom Münchner Hauptbahnhof gibt im Zusammenspiel mit der Aufnahme auf der Rückseite des Buchumschlags - Migranten aus Süditalien 1962 am Turiner Bahnhof Porta Nuova - eine erste Antwort: Ohne die Quellenangaben wären die Fotografien kaum der einen oder anderen Stadt zuordenbar, so ähnlich sind sich die Motive.
Diese Ähnlichkeit der Erfahrungen, aber auch des Umgangs mit Migranten arbeitet Sparschuh in ihrer Analyse überzeugend heraus. Sie schaut sich dabei zunächst an, wie Migration in München und Turin gesteuert und kontrolliert wurde und welche Vorstellungen von ihr vorherrschten. Dann nimmt sie die konkreten Lebensumstände der süditalienischen Migranten in den Blick - wie sie arbeiteten, ihre Freizeit gestalteten, konsumierten und wohnten.
Die Auswahl der beiden Städte begründet die Autorin zum einen mit dem ähnlich starken Bevölkerungszuwachs zwischen 1951 und 1961 - von etwa 700 000 (Turin) beziehungsweise 850 000 (München) auf jeweils über eine Million Einwohner -, zum anderen mit ihrer Funktion als Ziel süditalienischer Migration, wenn auch in unterschiedlich starkem Ausmaß. Turin war innerhalb Italiens das Hauptziel, bedingt vor allem durch die Anziehungskraft des Automobilherstellers Fiat. Auch die bayerische Landeshauptstadt hatte durch BMW und andere Industrieunternehmen einen großen Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland. Heute sei München die deutsche Großstadt mit der zahlenstärksten italienischen Bevölkerung, schreibt Sparschuh mit Verweis auf eigene Berechnungen.
Die Grenzen ihres Ansatzes sind der Autorin durchaus bewusst: Lassen sich die Situationen in zwei Städten wirklich auf gewinnbringende Weise vergleichen? Dies fragt sie schon zu Beginn. Für die von Sparschuh vorgelegte Arbeit - ihr Dissertationsprojekt - lässt sich diese Frage eindeutig mit Ja beantworten. Durch ihren Fokus auf Städte, nicht auf Nationen entsteht Raum für eine europäische Perspektive auf Arbeitsmigration. In ihrer mehr als 650 Seiten langen Analyse zeichnet sie ein genaues Bild der mit ihr verbundenen Debatten, Akteure und Prozesse. Sparschuh geht dabei nicht nur den großen Linien nach, sondern versorgt ihre Leserinnen und Leser auch mit vielen Detailinformationen, etwa dass die Migranten aus dem Süden die Gruppenbezeichnung "meridionali" erst nach und nach von den Norditalienern für sich übernahmen oder dass die Migranten den Aufenthalt im Freien in beiden Städten populär machten.
Dabei wird deutlich, dass sich die ehemaligen Residenzstädte München und Turin in vielerlei Hinsicht ähnlicher waren als der italienische Norden und der italienische Süden - und dass die Süditaliener in beiden Städten aufgrund kultureller, sprachlicher und sozialer Unterschiede als "die anderen" galten und gegenüber den Einheimischen schlechtergestellt waren. In Turin beruhte dies auf den großen Unterschieden zwischen den Landesteilen, in München auf den tradierten Unterschieden zwischen Nord- und Südeuropa.
Für eine Abmilderung des Unterschieds zwischen Binnen- und Auslandsmigration sorgten auch die unterschiedlichen Arten der Regulierung. Dass die Migration innerhalb Italiens weitgehend ungesteuert verlief, erschwerte sowohl für die Stadt Turin als auch für die Migranten selbst die Lage - es entstand eine Situation permanenten sozialen Stresses. In München verlief die Aufnahme der "Gastarbeiter" auch nicht reibungslos, aber die Anwerbeverträge erleichterten sie spürbar: Arbeitsplatz, Unterkunft und Freizeitangebote waren sichergestellt.
Mit der EWG-Freizügigkeit und der Liberalisierung der italienischen Binnenmigration nahm die Bedeutung des bilateralen Anwerbeabkommens ab, auch weil sein starres Korsett vielen italienischen Arbeitsmigranten nicht mehr so attraktiv erschien wie die selbständige Stellensuche. Gleichzeitig waren sie so aber in München Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche ausgesetzt, vor denen sie die Anwerbeverträge zuvor geschützt hatten - und die durch die ungelenkte Migration für Süditaliener in Turin längst Alltag waren.
Das komplexe Zusammenspiel zwischen der Regulierung von Migration und den Unterschieden zwischen Nord- und Südeuropa beziehungsweise Nord- und Süditalien führte also, so Sparschuhs Befund, zu einer Europäisierung der Migrationserfahrung - nach dem Motto "Norden ist dort, wo Arbeit ist" (Flavio Faganello). Das Überwinden einer großen räumlichen Distanz sei letztlich entscheidender gewesen als das Überschreiten einer nationalen Grenze. Das erscheint plausibel, und doch drängt sich die Frage nach dem Einfluss der Nationalität auf die Identität und die Ortswahl der Migranten auf. Denn auch wenn es unter den Süditalienern kein starkes Nationalgefühl gegeben haben mag, dürfte es dennoch wirksam geworden sein. Sparschuh bestreitet dies nicht, geht allerdings auch nicht näher darauf ein. Die Unterschiede bei der Rückkehrerquote, die für München dreimal so hoch war wie für Turin, begründet sie vor allem mit der unterschiedlichen Ansiedelungsstruktur, in Turin als Produkt der ungeregelten Migration in Kolonien, in München als Spätfolge des Anwerbeabkommens verteilt über die Stadt.
Die hohe Zahl an Rückkehrern lässt sich aber auch in Zusammenhang bringen mit den nationalen Interessen der Bundesrepublik: Sie warb seit Anfang der Sechzigerjahre auch Arbeitskräfte aus Nicht-EWG-Staaten an. Das schwächte die Position der italienischen Arbeitnehmer auf dem Münchner Arbeitsmarkt, denn die Migranten aus Drittstaaten waren den Einheimischen - anders als die Italiener - nicht gleichgestellt. Nach und nach nahm die Zahl italienischer Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik ab, während die der ausländischen Arbeitsmigranten insgesamt stieg.
Es ist eine der Stärken des Buches, dass es solche Zusammenhänge und die damit verbundenen Pfadabhängigkeiten herausarbeitet. Es bleibt den Leserinnen und Lesern jedoch weitgehend selbst überlassen, Bezüge zur Gegenwart und zu aktuellen Debatten um Migration und die Zukunft der Europäischen Union herzustellen - auch wenn Sparschuh dafür unzählige Anknüpfungspunkte liefert, seien es die soziale Ungleichheit in Städten, die Globalisierung von Arbeit oder schlicht unsere Vorstellungen von und unser Umgang mit den vermeintlich "Fremden". ANNA-LENA RIPPERGER
Olga Sparschuh: Fremde Heimat, fremde Ferne. Italienische Arbeitsmigration in Turin und München 1950-1975.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 718 S., 74,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH