„Wie viel Blut muss noch vergossen werden, bis wir einsehen, dass der Frieden unsere einzige Option ist?“ – so David Grossmans Appell bei der Münchner Sicherheitskonferenz, mit allen Kräften für den Frieden im Nahen Osten einzutreten. Sein neues Buch warnt eindringlich vor der Eskalation der Gewalt und macht sich für eine Zweistaatenlösung stark. Der Kampf zwischen denen, die Verzweiflung und Hass säen, und denen, die ein menschenwürdiges Leben führen wollen, muss auf beiden Seiten beendet werden. Auch nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 meldet Grossman sich zu Wort und gibt den Mut zu einem neuen Anfang nicht auf. Dieser Band versammelt seine wichtigsten aktuellen Beiträge vor und nach dem „Schwarzen Schabbat“.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Viel Erfahrung steckt in diesem kleinen Buch, meint Rezensent Lothar Müller. Es enthält verschiedene Texte des israelischen Schrifstellers David Grossman, der sich hier erneut sowohl als Kritiker der israelischen Regierung als auch als vehementer Gegensprecher der internationale Apologie des palästinensischen Terrorismus zeigt. Grossman kritisiert in einem Text vom März 2023 in Bezug auf die Proteste gegen die geplante Justizreform das Übergreifen der Religion auf die Politik, so Müller, das gegen den Willen der Bürger geschehe. Nach den Hamas-Attentaten erhob er schwere Vorwürfe gegen Netanjahu, macht jedoch klar, dass die begangenen Gräueltaten durch nichts zu rechtfertigen sind, gibt Müller wieder. Das Werk des Autors zeichnet sich außerdem dadurch aus, so der Kritiker weiter, dass er sich mit der Thematik der israelischen Besatzung auseinandersetzt , um diese den Gegner Israels nicht "als Propaganda-Ressource" zu überlassen. Grossman setzt sich immer noch vehement für eine Zwei-Staaten-Lösung ein, die aber nur gelingen könne, wenn beide Seiten endlich die Möglichkeit zur "Heilung" bekommen, resümiert der überzeugte Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.02.2024Auf ihn hört sein Land
Ein schmaler Band versammelt Reden und Essays des israelischen Schriftstellers
David Grossman. In sein Werk bricht auch die Erschütterung des 7. Oktober ein.
VON LOTHAR MÜLLER
Dies ist ein schmales Buch, in dem viel Lebenserfahrung steckt. Unter dem Titel „Frieden ist die einzige Option“ enthält einige Reden und Zeitungsartikel des israelischen Schriftstellers David Grossman, von seinem Appell an die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2017 („unternehmen Sie etwas, um Israel und die Palästinenser aus dem Kreislauf der Selbstzerstörung zu erretten“) bis zu der am 16. November 2023 in Tel Aviv gehaltenen Trauerrede für die Opfer des Massakers der Hamas vom 7. Oktober 2023.
Das Bewusstsein der Zäsur prägt diese Trauerrede: „Ja, unsere Züge sind andere geworden. Die, die wir einmal waren, werden wir nie wieder sein. Die Bilder der Gräuel, die Fratzen des Hasses, denen wir ausgesetzt waren – so etwas sieht ein Mensch nicht, ohne ein anderer zu werden.“ Zugleich gibt es in diesen Texten Kontinuitätslinien, die durch die Zäsur hindurchgehen. Die erste ist die Kritik an der aktuellen israelischen Regierung. Ihren schärfsten Ausdruck findet sie in der „Momentaufnahme“ vom 20.3.2023 unter dem Titel „Die Lage – nach der Ankündigung der Justizreform in Israel“.
Grossman greift hier aus der Sicht eines säkularen, liberalen Staatsbürgers nicht lediglich die konkreten Gesetzesvorhaben zum Umbau des Justizsystems an, sondern die gesellschaftliche Grunddrift, „der zufolge sich die Religion wie Schlingpflanze um die Politik windet, sich von ihr nährt und den übrigen Israelis eine Lebensweise aufzwingt, die ihnen fremd ist“. Dies aber sei nur möglich, weil der wegen Betrug, Untreue und Bestechlichkeit angeklagte Ministerpräsident Netanjahu, um einer Haftstrafe zu entgehen, „eine Koalition mit den messianischen, gewalttätigsten und zum Teil sogar kriminellen Elementen der israelischen Gesellschaft gebildet und einige der wichtigsten, sensibelsten Geschäftsbereiche in ihre Hände gelegt“ habe. Die Bitterkeit, mit der Grossman das Vordringen des politischen Messianismus registriert, schließt die Verabschiedung der Illusion ein, es gebe in Israel so etwas wie eine grundlegende Einheit der Nation, die alle konkreten Konflikte überwölbe. Seine „Momentaufnahme“ präsentiert Israel im Sommer 2023 als einen Staat, der in Radio- und Fernsehsendern als Schauplatz eines potenziellen Bürgerkriegs präsentiert wird. Dem Sommer folgte im Herbst das Massaker der Hamas.
Es rief sogleich die Illusion auf den Plan, die äußere Bedrohung werde die fragil gewordene innere Einheit stabilisieren. Grossmans Text „Schwarzer Sabbat“, eine Woche nach dem Massaker in der FAZ publiziert, begann mit der Bilanz der Ermordeten, Verletzten, Entführten, ging aber sogleich in die Anklage über, die Regierung habe die Bürger verraten, das Sicherheitsversprechen des Staates preisgegeben und die Demonstrationen der Protestbewegung gegen den Justizumbau mit innerstaatlichen Feinderklärungen beantwortet. Dann erst folgten die Sätze, die jeglichem Umschlag von Regierungskritik in Täterapologie einen festen Riegel vorschoben: „Doch dürfen wir uns bei aller Wut auf Netanjahu, seine Leute und sein Vorgehen keiner Täuschung hingeben: Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein viel schwereres Verbrechen. Auch in der Hierarchie des Bösen gibt es eine Rangordnung, gibt es vom gesunden Menschenverstand und vom natürlichen Gefühl zu unterscheidende Schweregrade.“
Als Grossman dies schrieb, hatte in der internationalen Öffentlichkeit die Rechtfertigung der Täter bereits vielstimmig eingesetzt. Die Website der in Südafrika residierenden, vor allem von akademischen Infrastrukturen getragenen Organisation „Africa 4 Palestine“ publizierte schon unmittelbar nach Bekanntwerden eine Presseerklärung, in der das Massaker als „surprise operation“ gegen den Apartheidstaat Israel und Antwort auf die jahrzehntelange Besetzung Palästinas begrüßt wurde.
Die zweite Kontinuitätslinie, die in Grossmans Texten neben der aktuellen Regierungskritik die Zäsur des Massakers durchkreuzt, ist der Versuch, das politische Problem „Besatzung“ auf die diskursive Agenda der israelischen Gesellschaft selbst zu setzen, statt es den erklärten Feinden Israels als Propagandaressource zu überlassen. In einer Passage seiner „Momentaufnahme“ der Massendemonstrationen hatte er sich ausdrücklich damit einverstanden erklärt, die Frage der Besatzung aus der öffentlichen Debatte auszuklammern, um die Dynamik der Proteste nicht zu schwächen. Er hatte aber zugleich deutlich gemacht, dass es sich auf Dauer aber nicht ignorieren lasse.
Es ist darum kein Zufall, dass zu den Texten in diesem schmalen Buch auch der im Juni 2023 publizierte Artikel „Besatzungsregime und Demokratie. Was ist ein jüdischer Staat?“ gehört. Grossman hat diesen Beitrag zum 75. Geburtstag des unabhängigen Staates Israel seinem Lebensthema gewidmet. Als er 1988 seine Reportage über das Westjordanland unter dem Titel „Der gelbe Wind. Die israelisch-palästinensische Tragödie“ schrieb, war er 34 Jahre alt und stand am Beginn seiner Karriere als Romancier. In dem vor Essayband „Diesen Krieg kann keiner gewinnen“ (2003) lässt sich die Abfolge der Desillusionierungen nach dem Scheitern des Friedensprozesses in Camp David im Jahr 2000 nachlesen. Einseitige Schuldzuweisungen an Israel für das Scheitern lassen sich bei Grossman nicht finden.
Doch zieht sich durch alle seine Essaybände bis „Eine Taube erschießen“ von 2018 die Sorge, dass der „Albtraum der Besatzung“ seit 1967 die Fundamente der israelischen Demokratie angreift: „Besatzungsregime und Demokratie, das schließt sich gegenseitig aus. Denn die Demokratie entspringt der Einsicht, dass alle Menschen gleichwertig geboren werden und alle das Recht besitzen, ihr eigenes Schicksal mitzubestimmen.“ In Sätzen wie diesen formuliert Grossman den Zusammenhang zwischen den innergesellschaftlichen Spannungen in Israel und der Politik gegenüber den seit 1967 besetzten Gebieten. Die dramatische Engführung findet sich in Grossmans Rede „Trotz allem“ bei der Demonstration auf dem Habima-Platz in Tel-Aviv im Mai 2021.
Auch damals gab es im Zuge der Operation „Guardian of the Walls“ einen Krieg in Gaza und zugleich gab es massive Ausschreitungen in Israel selbst, bei denen Juden von Arabern und Arabern von Juden gelyncht wurden. Von heute aus gelesen, nach dem 7. Oktober 2023, hat der Appell, auf den diese Rede Grossmans zulief, an Dringlichkeit nicht verloren. „Möge es uns – denen, die sich weigern, Kollaborateure der Verzweiflung zu sein – gelingen, die gesunden Kräfte in beiden Gesellschaften von Neuem zu etablieren und zu stärken. Damit, wenn noch mal so eine mörderische Welle der Gewalt ausbrechen sollte, und ich fürchte, dass das alle paar Jahre wieder passieren kann, wir uns ihr dann erwachsen und wachen Auges entgegen stellen können.“
Eine weitere Kontinuitätslinie in Grossmans Essays wird hier greifbar– neben der aktuellen Kritik am Ministerpräsidenten Netanjahu und der fortwährenden Erinnerung an das Problem der Besatzung für die Stabilität des Staates Israel. Sie reicht wohl am tiefsten in seine intellektuelle Existenz hinab und verbindet zugleich sein politisch-essayistisches mit seinem literarischen Werk als Romancier. In der sehr persönlichen, 2022 in Amsterdam gehaltenen Dankesrede zum Erasmus-Preis berichtet Grossman zunächst, wie sehr ihn im Alter von acht Jahren der zufällig aufgeschnappte Satz des Pianisten Arthur Rubinstein beeindruckte, die Kunst habe ihn glücklich gemacht, und erwähnt nahezu übergangslos das „Unglück, das meiner Familie widerfuhr, als wir unseren Sohn Uri im Krieg verloren“. Dann fällt, auf Hebräisch, das Schlüsselwort dieser dritten Kontinuitätslinie: „Tikkun Olam, die ,Reparatur der Welt‘, ein über 2000 Jahre alter jüdischer Begriff.“
Grossman hat diesen Begriff für sich adoptiert, das Streben nach und die Verpflichtung zur Reparatur mit dem Akzent der „Heilung“ versehen. Seit Jahrzehnten schreibt er an seiner spiegelbildlichen Pathologie der israelischen Gesellschaft und des Staates Israels– und der Pathologie der palästinensischen Gesellschaft. Dass beide Gesellschaften nach Jahrzehnten des Konflikts und der Verletzungen der Heilung bedürfen, ehe politische Konfliktlösungen möglich werden, ist ein Zentralmotiv seiner Essays. Dass er nach wie vor für eine Zwei-Staaten-Lösung eintritt und alle binationalen Ein-Staat-Modelle vehement ablehnt, entspringt der resignativen Einsicht: Wir können, so wie wir derzeit sind, nicht zusammen leben.
So sehr er mit Blick auf das Besatzungsproblem für die Rechte der Palästinenser eintritt und so wenig Argumente er jenen liefert, deren Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts Israels mit Empathieblockaden gegenüber den zivilen Opfern in Gaza einhergeht, so unmissverständlich weisen seine Essays die international erfolgreiche Apologie des palästinensischen Terrorismus als legitimer Gegengewalt ab: „Ich als Israeli habe kein Recht, ihnen Vorschriften zu machen. Als Mensch aber habe ich jedes Recht, ja, sogar die Pflicht, ihnen humane, ethische Verhaltensformen abzuverlangen.“ Gegenüber den eigenen Landsleuten beschränkt Grossman sich nicht auf die Kritik am politischen Messianismus. Er spricht vielmehr die Sprache der Religion, um die Frommen an die normativen Verbindungslinien zu erinnern, die vom biblischen Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zum modernen Menschenrechtsuniversalismus führen: „Wie kann jemand, der an die Gottebenbildlichkeit glaubt, sein Ebenbild mit Füßen treten?“ Der säkulare Autor David Grossman definierte zum 75. Unabhängigkeitstag Israels den Begriff „jüdischer Staat“ wie folgt: „Ein jüdischer Staat ist die nationale Heimstatt aller Juden, der die volle Gleichberechtigung aller seiner Bürger als entscheidende Prüfung seiner Humanität und als Erfüllung der Visionen seiner Propheten und Gründerväter betrachtet.“
Auch in der Hierarchie
des Bösen gibt es
eine Rangordnung
„Besatzungsregime und
Demokratie, das schließt
sich gegenseitig aus.“
Wir können, so wie
wir derzeit sind,
nicht zusammen leben
David Grossman ist 1954 in Jerusalem geboren. Er schreibt Romane, politische Texte und Kinderbücher. Hier ist er bei einem Besuch im Élyséepalast in Paris zu sehen.
Foto: Lafargue Raphael / IMAGO / ABACAPRESS
David Grossman: Frieden ist die einzige Option.
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer und Helene Seidler. Carl Hanser Verlag, München 2024.
64 Seiten, 10 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein schmaler Band versammelt Reden und Essays des israelischen Schriftstellers
David Grossman. In sein Werk bricht auch die Erschütterung des 7. Oktober ein.
VON LOTHAR MÜLLER
Dies ist ein schmales Buch, in dem viel Lebenserfahrung steckt. Unter dem Titel „Frieden ist die einzige Option“ enthält einige Reden und Zeitungsartikel des israelischen Schriftstellers David Grossman, von seinem Appell an die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2017 („unternehmen Sie etwas, um Israel und die Palästinenser aus dem Kreislauf der Selbstzerstörung zu erretten“) bis zu der am 16. November 2023 in Tel Aviv gehaltenen Trauerrede für die Opfer des Massakers der Hamas vom 7. Oktober 2023.
Das Bewusstsein der Zäsur prägt diese Trauerrede: „Ja, unsere Züge sind andere geworden. Die, die wir einmal waren, werden wir nie wieder sein. Die Bilder der Gräuel, die Fratzen des Hasses, denen wir ausgesetzt waren – so etwas sieht ein Mensch nicht, ohne ein anderer zu werden.“ Zugleich gibt es in diesen Texten Kontinuitätslinien, die durch die Zäsur hindurchgehen. Die erste ist die Kritik an der aktuellen israelischen Regierung. Ihren schärfsten Ausdruck findet sie in der „Momentaufnahme“ vom 20.3.2023 unter dem Titel „Die Lage – nach der Ankündigung der Justizreform in Israel“.
Grossman greift hier aus der Sicht eines säkularen, liberalen Staatsbürgers nicht lediglich die konkreten Gesetzesvorhaben zum Umbau des Justizsystems an, sondern die gesellschaftliche Grunddrift, „der zufolge sich die Religion wie Schlingpflanze um die Politik windet, sich von ihr nährt und den übrigen Israelis eine Lebensweise aufzwingt, die ihnen fremd ist“. Dies aber sei nur möglich, weil der wegen Betrug, Untreue und Bestechlichkeit angeklagte Ministerpräsident Netanjahu, um einer Haftstrafe zu entgehen, „eine Koalition mit den messianischen, gewalttätigsten und zum Teil sogar kriminellen Elementen der israelischen Gesellschaft gebildet und einige der wichtigsten, sensibelsten Geschäftsbereiche in ihre Hände gelegt“ habe. Die Bitterkeit, mit der Grossman das Vordringen des politischen Messianismus registriert, schließt die Verabschiedung der Illusion ein, es gebe in Israel so etwas wie eine grundlegende Einheit der Nation, die alle konkreten Konflikte überwölbe. Seine „Momentaufnahme“ präsentiert Israel im Sommer 2023 als einen Staat, der in Radio- und Fernsehsendern als Schauplatz eines potenziellen Bürgerkriegs präsentiert wird. Dem Sommer folgte im Herbst das Massaker der Hamas.
Es rief sogleich die Illusion auf den Plan, die äußere Bedrohung werde die fragil gewordene innere Einheit stabilisieren. Grossmans Text „Schwarzer Sabbat“, eine Woche nach dem Massaker in der FAZ publiziert, begann mit der Bilanz der Ermordeten, Verletzten, Entführten, ging aber sogleich in die Anklage über, die Regierung habe die Bürger verraten, das Sicherheitsversprechen des Staates preisgegeben und die Demonstrationen der Protestbewegung gegen den Justizumbau mit innerstaatlichen Feinderklärungen beantwortet. Dann erst folgten die Sätze, die jeglichem Umschlag von Regierungskritik in Täterapologie einen festen Riegel vorschoben: „Doch dürfen wir uns bei aller Wut auf Netanjahu, seine Leute und sein Vorgehen keiner Täuschung hingeben: Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein viel schwereres Verbrechen. Auch in der Hierarchie des Bösen gibt es eine Rangordnung, gibt es vom gesunden Menschenverstand und vom natürlichen Gefühl zu unterscheidende Schweregrade.“
Als Grossman dies schrieb, hatte in der internationalen Öffentlichkeit die Rechtfertigung der Täter bereits vielstimmig eingesetzt. Die Website der in Südafrika residierenden, vor allem von akademischen Infrastrukturen getragenen Organisation „Africa 4 Palestine“ publizierte schon unmittelbar nach Bekanntwerden eine Presseerklärung, in der das Massaker als „surprise operation“ gegen den Apartheidstaat Israel und Antwort auf die jahrzehntelange Besetzung Palästinas begrüßt wurde.
Die zweite Kontinuitätslinie, die in Grossmans Texten neben der aktuellen Regierungskritik die Zäsur des Massakers durchkreuzt, ist der Versuch, das politische Problem „Besatzung“ auf die diskursive Agenda der israelischen Gesellschaft selbst zu setzen, statt es den erklärten Feinden Israels als Propagandaressource zu überlassen. In einer Passage seiner „Momentaufnahme“ der Massendemonstrationen hatte er sich ausdrücklich damit einverstanden erklärt, die Frage der Besatzung aus der öffentlichen Debatte auszuklammern, um die Dynamik der Proteste nicht zu schwächen. Er hatte aber zugleich deutlich gemacht, dass es sich auf Dauer aber nicht ignorieren lasse.
Es ist darum kein Zufall, dass zu den Texten in diesem schmalen Buch auch der im Juni 2023 publizierte Artikel „Besatzungsregime und Demokratie. Was ist ein jüdischer Staat?“ gehört. Grossman hat diesen Beitrag zum 75. Geburtstag des unabhängigen Staates Israel seinem Lebensthema gewidmet. Als er 1988 seine Reportage über das Westjordanland unter dem Titel „Der gelbe Wind. Die israelisch-palästinensische Tragödie“ schrieb, war er 34 Jahre alt und stand am Beginn seiner Karriere als Romancier. In dem vor Essayband „Diesen Krieg kann keiner gewinnen“ (2003) lässt sich die Abfolge der Desillusionierungen nach dem Scheitern des Friedensprozesses in Camp David im Jahr 2000 nachlesen. Einseitige Schuldzuweisungen an Israel für das Scheitern lassen sich bei Grossman nicht finden.
Doch zieht sich durch alle seine Essaybände bis „Eine Taube erschießen“ von 2018 die Sorge, dass der „Albtraum der Besatzung“ seit 1967 die Fundamente der israelischen Demokratie angreift: „Besatzungsregime und Demokratie, das schließt sich gegenseitig aus. Denn die Demokratie entspringt der Einsicht, dass alle Menschen gleichwertig geboren werden und alle das Recht besitzen, ihr eigenes Schicksal mitzubestimmen.“ In Sätzen wie diesen formuliert Grossman den Zusammenhang zwischen den innergesellschaftlichen Spannungen in Israel und der Politik gegenüber den seit 1967 besetzten Gebieten. Die dramatische Engführung findet sich in Grossmans Rede „Trotz allem“ bei der Demonstration auf dem Habima-Platz in Tel-Aviv im Mai 2021.
Auch damals gab es im Zuge der Operation „Guardian of the Walls“ einen Krieg in Gaza und zugleich gab es massive Ausschreitungen in Israel selbst, bei denen Juden von Arabern und Arabern von Juden gelyncht wurden. Von heute aus gelesen, nach dem 7. Oktober 2023, hat der Appell, auf den diese Rede Grossmans zulief, an Dringlichkeit nicht verloren. „Möge es uns – denen, die sich weigern, Kollaborateure der Verzweiflung zu sein – gelingen, die gesunden Kräfte in beiden Gesellschaften von Neuem zu etablieren und zu stärken. Damit, wenn noch mal so eine mörderische Welle der Gewalt ausbrechen sollte, und ich fürchte, dass das alle paar Jahre wieder passieren kann, wir uns ihr dann erwachsen und wachen Auges entgegen stellen können.“
Eine weitere Kontinuitätslinie in Grossmans Essays wird hier greifbar– neben der aktuellen Kritik am Ministerpräsidenten Netanjahu und der fortwährenden Erinnerung an das Problem der Besatzung für die Stabilität des Staates Israel. Sie reicht wohl am tiefsten in seine intellektuelle Existenz hinab und verbindet zugleich sein politisch-essayistisches mit seinem literarischen Werk als Romancier. In der sehr persönlichen, 2022 in Amsterdam gehaltenen Dankesrede zum Erasmus-Preis berichtet Grossman zunächst, wie sehr ihn im Alter von acht Jahren der zufällig aufgeschnappte Satz des Pianisten Arthur Rubinstein beeindruckte, die Kunst habe ihn glücklich gemacht, und erwähnt nahezu übergangslos das „Unglück, das meiner Familie widerfuhr, als wir unseren Sohn Uri im Krieg verloren“. Dann fällt, auf Hebräisch, das Schlüsselwort dieser dritten Kontinuitätslinie: „Tikkun Olam, die ,Reparatur der Welt‘, ein über 2000 Jahre alter jüdischer Begriff.“
Grossman hat diesen Begriff für sich adoptiert, das Streben nach und die Verpflichtung zur Reparatur mit dem Akzent der „Heilung“ versehen. Seit Jahrzehnten schreibt er an seiner spiegelbildlichen Pathologie der israelischen Gesellschaft und des Staates Israels– und der Pathologie der palästinensischen Gesellschaft. Dass beide Gesellschaften nach Jahrzehnten des Konflikts und der Verletzungen der Heilung bedürfen, ehe politische Konfliktlösungen möglich werden, ist ein Zentralmotiv seiner Essays. Dass er nach wie vor für eine Zwei-Staaten-Lösung eintritt und alle binationalen Ein-Staat-Modelle vehement ablehnt, entspringt der resignativen Einsicht: Wir können, so wie wir derzeit sind, nicht zusammen leben.
So sehr er mit Blick auf das Besatzungsproblem für die Rechte der Palästinenser eintritt und so wenig Argumente er jenen liefert, deren Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts Israels mit Empathieblockaden gegenüber den zivilen Opfern in Gaza einhergeht, so unmissverständlich weisen seine Essays die international erfolgreiche Apologie des palästinensischen Terrorismus als legitimer Gegengewalt ab: „Ich als Israeli habe kein Recht, ihnen Vorschriften zu machen. Als Mensch aber habe ich jedes Recht, ja, sogar die Pflicht, ihnen humane, ethische Verhaltensformen abzuverlangen.“ Gegenüber den eigenen Landsleuten beschränkt Grossman sich nicht auf die Kritik am politischen Messianismus. Er spricht vielmehr die Sprache der Religion, um die Frommen an die normativen Verbindungslinien zu erinnern, die vom biblischen Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zum modernen Menschenrechtsuniversalismus führen: „Wie kann jemand, der an die Gottebenbildlichkeit glaubt, sein Ebenbild mit Füßen treten?“ Der säkulare Autor David Grossman definierte zum 75. Unabhängigkeitstag Israels den Begriff „jüdischer Staat“ wie folgt: „Ein jüdischer Staat ist die nationale Heimstatt aller Juden, der die volle Gleichberechtigung aller seiner Bürger als entscheidende Prüfung seiner Humanität und als Erfüllung der Visionen seiner Propheten und Gründerväter betrachtet.“
Auch in der Hierarchie
des Bösen gibt es
eine Rangordnung
„Besatzungsregime und
Demokratie, das schließt
sich gegenseitig aus.“
Wir können, so wie
wir derzeit sind,
nicht zusammen leben
David Grossman ist 1954 in Jerusalem geboren. Er schreibt Romane, politische Texte und Kinderbücher. Hier ist er bei einem Besuch im Élyséepalast in Paris zu sehen.
Foto: Lafargue Raphael / IMAGO / ABACAPRESS
David Grossman: Frieden ist die einzige Option.
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer und Helene Seidler. Carl Hanser Verlag, München 2024.
64 Seiten, 10 Euro.
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