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Tadellos wie einst Schwerin mit seinen Truppen bei Mollwitz: Johannes Kunisch schreibt eine Biographie über Friedrich den Großen / Von Gerrit Walther
Unzählige Male ist sein Leben schon erzählt worden: seine harte Jugend unter dem tyrannischen Vater, der ihm seine musischen Neigungen auszuprügeln suchte und ihm Pflichtgefühl und Regierungskunst am Ende buchstäblich unter Todesdrohungen einpauken ließ. Seine gleichwohl heiteren Kronprinzenjahre auf Schloß Rheinsberg. Seine Freundschaft mit Aufklärern wie Voltaire. Sein "Anti-Machiavell". Dann aber, gleich nach seiner Thronbesteigung 1740, sein Überfall auf Schlesien, die reichste Provinz der jungen Kaiserin Maria Theresia. Die drei langen Kriege, in denen er seinen Raub unter schweren Blutopfern gegen eine erdrückende Koalition fast aller europäischen Großmächte wider Erwarten behauptete. Seine späten Jahre, in denen er, ein früh gealterter, autokratischer Zyniker, sein verwüstetes Preußen durch spektakuläre Reformen zum modernsten und - internationale Vergleiche zeigen es - zum liberalsten Gemeinwesen des damaligen Europa ausbaute.
Der Tenor der Geschichte aber wechselt. Mal wurde Friedrichs Leben als Heldenepos gestaltet, mal als Schurkenstück, mal von Adolf Menzel und mal von Otto Gebühr, mal als Preußens Gloria und mal als deutsches Verhängnis. Beweisbar ist alles. Jede neue Friedrich-Biographie braucht deshalb vor allem eine starke These, am besten eine politische und eine, die den Zeitgeist zu provozieren fähig ist. So verfuhr Gerhard Ritter, als er es 1936 wagte, nicht Wehr und Waffen, sondern das Recht zum Kern preußischen Wesens zu erklären. So Rudolf Augstein, als er rechtzeitig zum Jahr 1968 die altehrwürdige Tradition sozialdemokratischer Preußen-Polemik schmissig restaurierte. So Ingrid Mittenzwei, als sie dem DDR-Publikum 1979 in einer bis heute vorzüglichen, nach endlosen Zensurverfahren doch noch genehmigten Biographie bewies, daß Friedrich mehr war als ein reaktionärer Klassenfeind. So schließlich Theodor Schieder, als er 1983, am Anfang der Ära Kohl, all dem noch einmal einen ganz realpolitischen Friedrich entgegenstellte.
Auch die Friedrich-Biographie, die der Kölner Emeritus Johannes Kunisch, Schieders einstiger Fakultätskollege, jetzt, nach zwanzig Jahren, vorlegt, versteht sich als Revision: als Versuch, den "Wissensvorrat, den die Geschichtswissenschaft im Hinblick auf den Preußenkönig zusammengetragen und bereitgestellt hat, nach einem heutigen Erkenntnisinteresse neu zu strukturieren". Welches Interesse dies jedoch sei, muß der Leser selbst herausfinden. Das ist um so schwerer, als das Werk mit souveräner Kennerschaft schlechthin alle Aspekte des Zeitalters zusammenführt - vom Militär bis zur Architektur, von den Wissenschaften bis zur fürstlichen Erbpolitik. Auch die "Strukturierung" gibt keinen Hinweis. Ungestört, retardiert nur von einigen Exkursen zu Spezialthemen, führt eine gerade Zeitlinie von Friedrichs Geburt bis zu seinem Tod. Nirgends eine schiefe Schlachtordnung. Nicht der schneidige General Seydlitz, der bei Roßbach plötzlich hinter dem Hügel hervorbricht und auf die überraschten Feinde losprescht, ist Kunischs strategisches Vorbild, sondern jener besonnene Schwerin, der den Sieg bei Mollwitz rettet, indem er die zersprengten Truppen sammelt und in parademäßiger Ordnung erneut nach vorne führt.
Der Autor erzählt in einer klaren, sorgsam geformten Sprache, in einem leisen, vornehmen Ton, jederzeit präzise, distinguiert, unendlich gebildet. So erscheint Friedrichs Welt als eine geordnete und verstehbare. Auch der Held selbst wirkt weder dämonisch oder "widersprüchlich" (wie einst bei Schieder) noch eignet ihm jene "Fremdheit", die Verfechter einer anthropologischen Geschichtsforschung auch im Zeitalter der Vernunft finden wollen. Selbst die sonderbarsten Züge in Friedrichs Wesen glaubt Kunisch rational erklären zu können. Er vertraut der Aufklärung, deren politisches Idol er schildert.
Psychologisch argumentiert er, wenn er in Friedrichs Konflikt mit dem Vater den Schlüssel zu seinem Charakter erkennt. Um sich der "Angst und Schrecken einflößenden Bedrohlichkeit" der "Macht- und Körperfülle des Vaters" zu erwehren, habe der Prinz jene Verstellungskunst, die dieser an ihm haßte, erst recht perfektioniert. Seit der demütigenden Haft 1730 in Küstrin habe er eine "sarkastische Verächtlichkeit" gegen sich selbst und andere gezeigt, die ihn nie mehr verließ und auf Dauer auch nahe Vertraute abstieß. Zugleich habe die im Kerker durchlebte, "von Todesangst erschütterte Einsamkeit seine Fähigkeit, sich auch in ausweglos erscheinenden Situationen zu behaupten, noch stärker auszuprägen vermocht". Seither aber habe er unter dem unwiderstehlichen inneren Zwang gelebt, sein Schicksal als "Bedrohungskonstellation" inszenieren zu müssen, stets "in Extremen zu denken und als Möglichkeiten seines Handelns nur die Katastrophe oder den Triumph zu erkennen". Daß Friedrich trotz nüchterner Kalkulation der Folgen "gar nicht anders konnte" als den Streich auf Schlesien zu wagen und in seinen Schlachten stets alles auf eine Karte zu setzen, deutet Kunisch als eine obsessive "Spiegelung literarischer Denkfiguren".
Eine solche Sicht erstaunt bei einem zünftigen Historiker. Vorbilder für diese Art, Friedrich zu betrachten, wird man denn auch eher bei Schriftstellern finden: bei Thomas Mann, dessen 1915 verfaßte Skizze über "Friedrich und die große Koalition" sich in vielem wie eine Kurzfassung dieses Werks liest (etwa in der Widerlegung von Friedrichs angeblicher Frauenfeindschaft), aber auch bei Theodor Fontane, der immer wieder als Gewährsmann hervortritt. Daß Kunisch seinen Helden mit den Augen des Ästheten sieht, zeigt sich nicht zuletzt an der Eleganz, mit der er politische Konstellationen in Kunstwerken zu spiegeln weiß: wie er etwa die kalte Pracht des Neuen Palais in Potsdam gerade nicht als Beweis für Friedrichs höfisches Stilgefühl erklärt, sondern als Symbol für dessen Verlust.
Aus dem gleichen Grund fällt ihm ein Wesenszug des Königs auf, der bislang selten so klar erfaßt worden ist: Friedrichs Lust an der "ostentativen Verweigerung" alles dessen, was den adligen Zeitgenossen des "schönen achtzehnten Jahrhunderts" selbstverständlich schien. Das reichte von der provokanten Nachlässigkeit seiner Kleidung, die sich beim "Alten Fritz" zu bestürzender Verwahrlosung steigerte, bis zu seiner Verachtung militärischer Grundregeln (der etwa, das Leben der Soldaten möglichst zu schonen). Friedrich wurde zum Idol der bürgerlichen Aufklärer, weil er sich unter Fürsten als Aussteiger inszenierte: weil er als absoluter Monarch einen Habitus an den Tag legte, den selbst erbitterte Gegner des absoluten Königtums kaum zu zeigen gewagt hätten. Mit der ihm eigenen Diskretion zeichnet Kunisch seinen Helden als einen Achtundsechziger auf dem Thron.
Das aber sagt er nicht. Die Leser müssen es selbst bemerken - so wie es ihnen überlassen bleibt, Kunischs Erkenntnisinteresse zu entdecken. Sie finden es in dem, was er nicht sagt. Was in verblüffender Weise fehlt in diesem umfassenden Werk, sind jene moralischen Aufwallungen, jene politischen Bekenntnisse und Reflexionen über "die Folgen", die seit jeher zum eisernen Inventar einer Friedrich-Biographie zählen. Offenkundig will Kunisch ein Bild des Königs zeichnen, das die ideologischen Debatten um seine Person so weit wie möglich ausblendet - insofern in der Tat ein "heutiges", ein postmodernes Bild. Das "kollektive Gedächtnis" über Friedrich zu rekonstruieren, sagt er, "wäre ein eigenes Thema". Seines ist es offenkundig nicht.
Das ist legitim. Vielleicht fällt es ihm deshalb so schwer, zu sagen, was an Friedrich "groß" gewesen sei. Kein anderer Fürst, meint er, habe eine "solche Fülle außerordentlicher Talente" besessen, kein anderer Wesen und Prinzipien aufgeklärter Herrschaft so tief "zu erfassen und theoretisch zu begründen vermocht". Die Zeitgenossen hätten darüber den Kopf geschüttelt. Für sie gründete Friedrichs Größe in seinen konkreten Erfolgen, und diese erklärten sie als einen Triumph der Aufklärung, die er in jeder Hinsicht zum Markenzeichen seiner Person gemacht hatte. Auch wer Preußen skeptisch betrachtete, ließ sich von diesem Selbstbild imponieren. Nicht preußisch sei man gesinnt gewesen, erinnert sich Goethe, sondern "Fritzisch" - "denn was ging uns Preußen an". Damit ging des Königs Kalkül auf: durch die Personalisierung seiner Politik und die Politisierung seiner Person im Zeichen aufgeklärter Ideale Solidarität mit seinem Staat zu stiften. Indem Kunisch Person und Wirkung trennt, entgeht er der ideologischen Falle, die sein Held auch seinen Biographen gestellt hat. Gehört die Einheit beider Momente nicht trotzdem zu dessen wichtigsten Wesenszügen?
Ein anderer bedeutender Biograph unserer Tage, der Mediävist Jacques Le Goff, hat dieses Problem ins Zentrum seines Werks gestellt. In einer spannenden Studie über Ludwig den Heiligen (1996, deutsch 2000) untersucht er die kontroversen, konkurrierenden Vorstellungen und Vereinnahmungen, die dieser König bei der Mit- und Nachwelt provozierte. Keine blasse "Rezeptionsgeschichte" entsteht daraus, sondern das lebendige Porträt einer realen Person, die "groß" war, weil sie einen nicht minder realen kollektiven Traum verkörperte. Als ein solches "globalisierendes Subjekt" im Sinne Le Goffs ließe sich künftig auch der große Friedrich schildern. Gewiß ist es nicht die geringste Stärke von Johannes Kunischs inspirierendem Buch, daß es nicht nur zum Weiterlesen zwingt, sondern auch zum Weiterdenken.
Johannes Kunisch: "Friedrich der Große". Der König und seine Zeit. C. H. Beck Verlag, München 2004. 624 S., 29 Abb., 16 Karten, geb., 29,90 [Euro].
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