Berlin vom Untergang zum Neuanfang. Dicht am Alltag, ohne falsche Sentimentalität, voller Tatsachen und einnehmend erzählt. Die Wiederentdeckung eines Ausnahmeautors. Es beginnt mit einem Glücksfall: Der Ich-Erzähler kann im Februar 1945 zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter in einem ruhigeren Randbezirk in ein von seinen Besitzern verlassenes Haus ziehen, in dem sich nur noch die Haushälterin und geheime Vorräte befinden. Eindrücklich und wendungsreich wird das Leben der kleinen Gemeinschaft in einer Zeit geschildert, in der die Vergangenheit brutal versinkt und das Kommende mehr als dunkel ist. Aber sie ist nicht nur gekennzeichnet von Todesangst, Zerstörung, Hunger und dem ängstlich erwarteten Eintreffen der Sieger, sondern auch von optimistischen Planungen für eine demokratische Zukunft und ganz persönlichen Sehnsüchten, die in dieser apokalyptischen Situation mitunter zu grundsätzlichen Lebensfragen werden. Dann kommt der Frieden und bringt eigene Gefahren mit sich. Ruhe tritt jedenfalls noch längst nicht ein. Lebendig und kompromisslos erzählt Borées autobiographisch geprägter Roman von diesen drastischen Tagen in der Geschichte Berlins.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2018Bestandsaufnahme der Stunde null
Wiederentdeckung einer Beschreibungspreziose: Karl Friedrich Borées autobiographischer Roman "Frühling 45"
Frühling 1945 kurz vor Kriegsende in Berlin: Herr Stein ist mit Frau und achtundzwanzigjähriger Tochter samt letzten Habseligkeiten unterwegs, heraus aus der Gefahrenzone im Stadtzentrum. Am äußersten Zipfel er Stadt, vermutlich Frohnau nachempfunden, wo der Autor dieses Romans selbst letzte Bombennächte erlebte, wartet ein neues Quartier. "Wir gingen schweigend, zweifellos machte uns alle drei der Eindruck des anderen stumm; aber mich drosselte auch die Angst vor der abgründigen Unzuverlässigkeit der Dinge, die uns die Zeit gelehrt hatte." Da schildert ein Zeitzeuge unsentimental und doch fesselnd die Ausnahmezeit um die sogenannte "Stunde null". Er gewährt Einblicke in gerade noch geöffnete Büros oder in das letzte Restaurant, das noch auftischt, ein unwirklicher Ort mitten in Ruinen. Die Atmosphäre des Niedergangs blitzt in Momentaufnahmen auf, während die kleine, sich aber ständig erweiternde Überlebensgemeinschaft um Familie Stein die Villa eines geflüchteten Nazi-Obersts bezieht: "Die Zimmer widersetzten sich uns. Wir kamen uns unanständig vor. Eine Wohnung ist ein weites Kleid; ich ziehe nicht gern fremde Sachen an. Vor allem nicht heimlich."
Erstaunlich, dass man den Autor Karl Friedrich Borée kaum kennt. Geboren 1886, wächst er als Friedrich Karl Boeters in einem Görlitzer Arzthaushalt auf. "Borée" nennt er sich später nach der Großmutter, als er in Königsberg und Berlin als Jurist arbeitet und schreibt: Romane, Essays, Artikel. "Frühling 45 - Chronik einer Berliner Familie" entstand 1948 auf Grundlage der Tagebücher. Es gilt als Borées Hauptwerk und ist allein aus sprachlicher Sicht eine echte Entdeckung: Es verfügt über einen unwahrscheinlichen Wortschatz und Wortwitz. Borée schreibt trocken, lakonisch, auch mal an den grässlichen Umständen implodierend. Herr Stein als Ich-Erzähler ist Borée zumindest geistesverwandt. Er ist die tragende Säule des Romans, ein sprachgenauer Feingeist, leidenschaftlicher Demokrat und Denker. Noch geht er täglich zur Arbeit im Archiv einer großen Berliner Bank, bis die Angriffe das unmöglich machen. Sein Herz aber hängt an einer Kultur-Zeitschrift, die längst nicht mehr erscheinen darf. Spannend deshalb auch die geschilderten Umstände nach russischer Eroberung und Neusortierung: Im amerikanischen Sektor darf die Zeitschrift wiedererstehen. Sie wird zum Sinnbild eines Neuanfangs.
Der "Frondeur der Theorie", wie Stein sich selbstkritisch nennt, lebt regelrecht auf, wenn er denken darf. Er grübelt über Begriffe wie "metaphysisches Schuldgefühl". Und wenn er sich mit Schwebel, einem Bekannten, auf den absehbaren Machtwechsel vorbereitet und in den letzten Kriegswochen Russisch lernt, läuft er gar zu diskursiver Hochform auf. Was für ein originelles Debatten-Duo! Schwebel kontert mit indischer Philosophie und entschuldigt vieles, Stein beharrt und hakt nach: War der Mord schon in der Welt? Oder haben die Menschen den Mord erst in die Welt gebracht?
Als "Frühling 45" 1954 im Darmstädter Schneekluth Verlag erschien, waren solche Fragen nach Schuld noch wenig erwünscht. Dass der Band unterging, liegt also auch am unglücklichen Zusammentreffen von Zeit und Werk. Borées Erstling, die Liebesgeschichte "Dor und der September", war 1930 ein Verkaufsschlager, gepriesen etwa von Vicky Baum. Danach wurde es schwer. 1936 veröffentlicht der im Ersten Weltkrieg lebensgefährlich verwundete Borée den Antikriegsroman "Quartier an der Mosel", der verboten wurde. Nach dem Krieg ging Borée, seit 1946 Mitglied der SPD, gegen die neuen Diktatoren im Osten vor. Als Theaterkritiker, Kolumnist und Mitglied verschiedener Schriftstellerverbände bezog er Stellung. Nach seinem Tod 1964 in Darmstadt gerieten seine Werke in Vergessenheit.
Ein Glück also, nun dieses Dokument einer Umbruchszeit wieder lesen zu können. Es ist Lebensphilosophie und hautnahe Alltagsbeschreibung, gefiltert von einem Erzähler, der nicht recht weiß, ob er die Menschen lieben oder verachten soll. Aus diesem ambivalenten Blickwinkel heraus sammelt er nicht nur Trümmerbilder, sondern auch "Glücksgüter": eine geschenkte Zigarre, eine Extra-Ration Brot, einen schönen Morgen mit viel Sonne.
Und immer wieder die humane Botschaft und unverstellte Empathie: "All diese Jugend, deren Seide der Krieg sozusagen beiläufig verschliss, zerschnitt mir das Herz." Es gibt auch zeittypisches Pathos, wenn das Neue sich ankündigt. "Mir war, als ob wir aus dem Gebirge in die Ebene getreten wären." So kommt in diesem emotionalen Wechselbad alles scharf nebeneinander zu stehen: die Nächte im Keller und die "neuen Wörter" der Zeit (Bombenteppiche, Flächenbrände, Nachtschlachtflugzeuge), die vielen kleinen Gesten einer Nächstenliebe, ohne gegenzurechnen, aber auch der Egoismus einer hamsternden Bevölkerung. "Alles lebt von der Nachahmung, vom Gruppenbild", begründet Stein einmal die fehlende Moral. "Die Menschheit ist nicht schlechter geworden, sondern sie ist nackt geworden."
Die Fülle an Details lässt an den beklemmenden, 1947 erschienenen Roman "Finale Berlin" von Heinz Rein denken, eine der großen Wiederentdeckungen der vergangenen Jahre. Borées Blick "vom Rand der Dinge, doch nicht außerhalb ihrer Bannmeile", ist ganz anders im Ton; subjektiver und zurückhaltender, wenn man so will. Gerade das macht "Frühling 45" jenseits der Kulisse von Zerstörung und Neuanfang überzeitlich relevant. Axel von Ernst, der mit Viola Eckelt den Lilienfeld Verlag leitet, konnte überdies Borées Sohn ausfindig machen, der biographische Informationen beisteuerte, über die das Marbacher Archiv, wo Borées spärlicher Nachlass liegt, nicht verfügte. Pionierarbeit also. Man darf gespannt sein auf weitere Werke dieses Autors.
ANJA HIRSCH
Karl Friedrich Borée:
"Frühling 45". Chronik
einer Berliner Familie.
Roman.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 461 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wiederentdeckung einer Beschreibungspreziose: Karl Friedrich Borées autobiographischer Roman "Frühling 45"
Frühling 1945 kurz vor Kriegsende in Berlin: Herr Stein ist mit Frau und achtundzwanzigjähriger Tochter samt letzten Habseligkeiten unterwegs, heraus aus der Gefahrenzone im Stadtzentrum. Am äußersten Zipfel er Stadt, vermutlich Frohnau nachempfunden, wo der Autor dieses Romans selbst letzte Bombennächte erlebte, wartet ein neues Quartier. "Wir gingen schweigend, zweifellos machte uns alle drei der Eindruck des anderen stumm; aber mich drosselte auch die Angst vor der abgründigen Unzuverlässigkeit der Dinge, die uns die Zeit gelehrt hatte." Da schildert ein Zeitzeuge unsentimental und doch fesselnd die Ausnahmezeit um die sogenannte "Stunde null". Er gewährt Einblicke in gerade noch geöffnete Büros oder in das letzte Restaurant, das noch auftischt, ein unwirklicher Ort mitten in Ruinen. Die Atmosphäre des Niedergangs blitzt in Momentaufnahmen auf, während die kleine, sich aber ständig erweiternde Überlebensgemeinschaft um Familie Stein die Villa eines geflüchteten Nazi-Obersts bezieht: "Die Zimmer widersetzten sich uns. Wir kamen uns unanständig vor. Eine Wohnung ist ein weites Kleid; ich ziehe nicht gern fremde Sachen an. Vor allem nicht heimlich."
Erstaunlich, dass man den Autor Karl Friedrich Borée kaum kennt. Geboren 1886, wächst er als Friedrich Karl Boeters in einem Görlitzer Arzthaushalt auf. "Borée" nennt er sich später nach der Großmutter, als er in Königsberg und Berlin als Jurist arbeitet und schreibt: Romane, Essays, Artikel. "Frühling 45 - Chronik einer Berliner Familie" entstand 1948 auf Grundlage der Tagebücher. Es gilt als Borées Hauptwerk und ist allein aus sprachlicher Sicht eine echte Entdeckung: Es verfügt über einen unwahrscheinlichen Wortschatz und Wortwitz. Borée schreibt trocken, lakonisch, auch mal an den grässlichen Umständen implodierend. Herr Stein als Ich-Erzähler ist Borée zumindest geistesverwandt. Er ist die tragende Säule des Romans, ein sprachgenauer Feingeist, leidenschaftlicher Demokrat und Denker. Noch geht er täglich zur Arbeit im Archiv einer großen Berliner Bank, bis die Angriffe das unmöglich machen. Sein Herz aber hängt an einer Kultur-Zeitschrift, die längst nicht mehr erscheinen darf. Spannend deshalb auch die geschilderten Umstände nach russischer Eroberung und Neusortierung: Im amerikanischen Sektor darf die Zeitschrift wiedererstehen. Sie wird zum Sinnbild eines Neuanfangs.
Der "Frondeur der Theorie", wie Stein sich selbstkritisch nennt, lebt regelrecht auf, wenn er denken darf. Er grübelt über Begriffe wie "metaphysisches Schuldgefühl". Und wenn er sich mit Schwebel, einem Bekannten, auf den absehbaren Machtwechsel vorbereitet und in den letzten Kriegswochen Russisch lernt, läuft er gar zu diskursiver Hochform auf. Was für ein originelles Debatten-Duo! Schwebel kontert mit indischer Philosophie und entschuldigt vieles, Stein beharrt und hakt nach: War der Mord schon in der Welt? Oder haben die Menschen den Mord erst in die Welt gebracht?
Als "Frühling 45" 1954 im Darmstädter Schneekluth Verlag erschien, waren solche Fragen nach Schuld noch wenig erwünscht. Dass der Band unterging, liegt also auch am unglücklichen Zusammentreffen von Zeit und Werk. Borées Erstling, die Liebesgeschichte "Dor und der September", war 1930 ein Verkaufsschlager, gepriesen etwa von Vicky Baum. Danach wurde es schwer. 1936 veröffentlicht der im Ersten Weltkrieg lebensgefährlich verwundete Borée den Antikriegsroman "Quartier an der Mosel", der verboten wurde. Nach dem Krieg ging Borée, seit 1946 Mitglied der SPD, gegen die neuen Diktatoren im Osten vor. Als Theaterkritiker, Kolumnist und Mitglied verschiedener Schriftstellerverbände bezog er Stellung. Nach seinem Tod 1964 in Darmstadt gerieten seine Werke in Vergessenheit.
Ein Glück also, nun dieses Dokument einer Umbruchszeit wieder lesen zu können. Es ist Lebensphilosophie und hautnahe Alltagsbeschreibung, gefiltert von einem Erzähler, der nicht recht weiß, ob er die Menschen lieben oder verachten soll. Aus diesem ambivalenten Blickwinkel heraus sammelt er nicht nur Trümmerbilder, sondern auch "Glücksgüter": eine geschenkte Zigarre, eine Extra-Ration Brot, einen schönen Morgen mit viel Sonne.
Und immer wieder die humane Botschaft und unverstellte Empathie: "All diese Jugend, deren Seide der Krieg sozusagen beiläufig verschliss, zerschnitt mir das Herz." Es gibt auch zeittypisches Pathos, wenn das Neue sich ankündigt. "Mir war, als ob wir aus dem Gebirge in die Ebene getreten wären." So kommt in diesem emotionalen Wechselbad alles scharf nebeneinander zu stehen: die Nächte im Keller und die "neuen Wörter" der Zeit (Bombenteppiche, Flächenbrände, Nachtschlachtflugzeuge), die vielen kleinen Gesten einer Nächstenliebe, ohne gegenzurechnen, aber auch der Egoismus einer hamsternden Bevölkerung. "Alles lebt von der Nachahmung, vom Gruppenbild", begründet Stein einmal die fehlende Moral. "Die Menschheit ist nicht schlechter geworden, sondern sie ist nackt geworden."
Die Fülle an Details lässt an den beklemmenden, 1947 erschienenen Roman "Finale Berlin" von Heinz Rein denken, eine der großen Wiederentdeckungen der vergangenen Jahre. Borées Blick "vom Rand der Dinge, doch nicht außerhalb ihrer Bannmeile", ist ganz anders im Ton; subjektiver und zurückhaltender, wenn man so will. Gerade das macht "Frühling 45" jenseits der Kulisse von Zerstörung und Neuanfang überzeitlich relevant. Axel von Ernst, der mit Viola Eckelt den Lilienfeld Verlag leitet, konnte überdies Borées Sohn ausfindig machen, der biographische Informationen beisteuerte, über die das Marbacher Archiv, wo Borées spärlicher Nachlass liegt, nicht verfügte. Pionierarbeit also. Man darf gespannt sein auf weitere Werke dieses Autors.
ANJA HIRSCH
Karl Friedrich Borée:
"Frühling 45". Chronik
einer Berliner Familie.
Roman.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 461 S., geb., 24,90 [Euro].
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'Frühling 45' "gilt als Borées Hauptwerk und ist allein aus sprachlicher Sicht eine echte Entdeckung: Es verfügt über einen unwahrscheinlichen Wortschatz und Wortwitz. Borée schreibt trocken, lakonisch, auch mal an den grässlichen Umständen implodierend. ... Ein Glück also, nun dieses Dokument der Umbruchszeit wieder lesen zu können. ... Man darf gespannt sein auf weitere Werke dieses Autors." (Anja Hirsch, Frankfurter Allgemeine Zeitung) "Wunderschöne Bücher in jeder Hinsicht macht der Düsseldorfer Lilienfeld Verlag, darunter ganz frisch 'Frühling 45. Chronik einer Berliner Familie' von Karl Friedrich Borée, den keiner mehr kennt, dessen großartigen Roman aber viele kennen sollten." (Klaus Schöffling, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) Dass Borée "jetzt wieder gelesen werden kann, verdankt sich der Neuauflage seines Meisterwerks 'Frühling 45'. Das Buch erlaubt einen Sprung ins Damals, wie ihn derart lebendig, mit nüchterner Lakonie und reservierter Empathie, wohl nur einesolche Melange aus Roman, Journal und Bericht vermitteln kann. ... Es ist ein Geschenk, Borée jetzt dank des Engagements von Axel von Ernst, dem Verleger des Lilienfeld Verlags, entdecken zu können." (Caroline Fetscher, Der Tagesspiegel)