Kiew, späte Breschnewzeit. Julia, ein so verträumtes wie rebellisches Mädchen, wächst im Milieu der bürgerlichen jüdischen Intelligenz heran. Während ihr Vater, der in ständiger Angst lebt, denunziert zu werden, Texte für eine Zirkusrevue schreibt, unterhält sie sich nachts mit den Führern des Weltproletariats. Ein älterer Herr, der sich als Pole ausgibt und Werke über die französische Küche verfasst, zeigt ihr das Anatomische Theater aus zaristischer und weißgardistischer Zeit. Das in Gärten versteckte Gebäude, die Aura des Todes und der materiellen Auflösung ziehen sie magisch an. Hier lauert ein Wissen, der »Lunatismus«, eine im Mondlicht gesteigerte Selbstwahrnehmung, mit dem sie sich den Zumutungen einer bedrängenden Realität entziehen kann. Traurig, wütend, mit visionärer Sprachkraft begabt, beschreibt Julia Kissina ihre sowjetische Kindheit vor dem Hintergrund des physischen und ideellen Zerfalls der Stadt Kiew und ihrer Bewohner. Die Museen und Parkbänke, die verschlungenen Gässchen und Hinterhöfe der Altstadt mit ihrem dahinsiechenden Abendlicht in den schmutzigen Pfützen, bleiben dem Leser unvergesslich.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2013Gottes blaue Faust
Verzaubernd, verrückt: Julia Kissinas Debütroman
Auf dem Buchcover prangt eine Art Burka mit vier Löchern. Aus den zwei oberen lugen runde Augen, aus den beiden unteren jeweils eine angemalte echte Brust. Zwischen Schock und Geheimnis, Kritik und Magie ist die Kunst von Julia Kissina, von der das Covermotiv stammt, anzusiedeln. Die 1966 in Kiew geborene, seit zwanzig Jahren in Berlin lebende Schriftstellerin ist eine Fotografin und Aktionskünstlerin von internationalem Ruf. Lange bevor Lady Gaga entsprechend posierte, hat Kissina Modelle mit Fleischfetzen behängt und fotografiert. Im 2006 gründete sie - eine unernste Madame Blavatsky des 21. Jahrhunderts - die "Dead Artists Society", die Séancen mit toten Künstlern wie Leonardo oder Marcel Duchamp abzuhalten pflegt. Auch als Literatin hat Kissina ein reiches Vorleben. In den achtziger Jahren gehörte sie zu den Moskauer Konzeptualisten um Sorokin und Pavel Pepperstein und galt als wichtige Vertreterin der russischen Underground-Literatur. Nach dem Erzählband "Vergesst Tarantino" (2005) liegt nun auch ihr gelungener Debütroman auf Deutsch vor.
"Frühling auf dem Mond" erzählt aus Sicht eines heranwachsenden Mädchens vom Kiew der Breschnew-Ära. Die namenlose Ich-Erzählerin vergleicht die Stagnation dieser Jahre mit einem anatomischen Kabinett, in dem "Skelette" und "in Spiritus weiße und rote Offiziere, Handlungsgehilfen, Wäscherinnen und Krämer aus dem vorigen Jahrhundert" vor sich hin dämmern. Während das Regime seinen größten Helden - Lenin - längst für die Ewigkeit präpariert hatte, riss man das alte Kiew nieder, um es durch gesichtslose Plattenbauten zu ersetzen. Doch hinter dem "unaufhaltsamen Zerstören und Zerschrunden" sieht das Mädchen auch "neues Leben". "Im Wartesaal des Herrn", in dem - wie es in der metaphorischen Eingangssequenz heißt - alle Erdenbewohner sitzen, blitzt Licht hinter der "riesigen, schlecht gestrichenen Tür" auf. Die kleine Gottesnärrin sucht das Übersinnliche in den Kiewer Pfützen, die das Abendlicht spiegeln, und in den Kirchen, wo Priester "in Nachthemden" stehen. Sie findet Gott - für Minuten - in einem ländlichen Gewitter, wo seine "blaue Faust" zornig auf sie niederzufahren scheint.
Geborgen scheint die Ich-Erzählerin in der Familie, die für Sowjetverhältnisse geradezu exzentrisch scheint. Während der Vater Revuen für den Zirkus schreibt, tut die Mutter ununterbrochen Gutes. In ihrem Haus scheint jedermann willkommen. Wilde Geschichten ranken sich um den prowestlichen Onkel Philipp, auf dessen WC japanische Pornobilder hängen und der sich in der Untersuchungshaft erhängt. Dessen Freundin Tamara ist das verfemte Kind eines Wehrmachtsoffiziers und einer Russlanddeutschen. Zu den Privilegierten zählt dagegen Onkel Wolodja mit der lauten "Rostbratlache". Er kann immer etwas organisieren - gerade wenn es sonst nur "zu Pyramiden aufgetürmte Dosen mit Algensalat" gibt. Der magere Polithäftling Schalajew hat angeblich lange in einer Friedhofsgruft gehaust. Eine Freundin des Vaters nennt ihn hämisch einen "Sklaven der Ehre". Es scheint fast, als wolle Julia Kissina die sowjetische Gesellschaft in ihrem Roman postum versöhnen, einen "Frühling auf dem Mond" stiften.
Mit der mutigen Mitschülerin Olga kommt Dynamik in das Leben des Mädchens. Den Mut der schwärmerischen, fanatisch religiösen und dichtenden Olga bewundert sie, auch wenn sie ihren Extremismus nicht teilt. Lapidar heißt es: "Damals war es verboten, an Gott zu glauben, so wie es heute verboten ist, nicht an ihn zu glauben." Gleichzeitig sucht die Pubertät - erste Menstruation, erster Schwarm, erste Begegnung mit einem Onanisten, erster Vollrausch - das Mädchen heim. Abgesehen davon, bleibt alles beim Alten: die Helden- und Dichtergedenkstätten - die zwischen Lenin und Puschkin im Grunde nicht unterscheiden -, die öden Statuen und Gedenksteine allerorten, die für Gagarin und Stalin schwärmenden Lehrerinnen.
Jenseits des offiziellen Mythos lauern die Tabuzonen. Nicht gesprochen wird etwa über die Mörderschlucht von Babi Jar; nur kurz wird erwähnt, dass diese unweit des Kiewer Syrez-Parks mit der harmlosen Pioniereisenbahn liegt. Dieser Debütroman überzeugt durch Wärme und Humor, Frechheit und Nachdenklichkeit, den Mut zum Widerspruch und sprachliche Kraft. Auf weitere Arbeiten von Julia Kissina - sei es in der bildenden Kunst, sei es in der Literatur - darf man in jedem Fall gespannt sein.
JUDITH LEISTER
Julia Kissina: "Frühling auf dem Mond". Roman.
Aus dem Russischen von Valerie Engler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 252 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verzaubernd, verrückt: Julia Kissinas Debütroman
Auf dem Buchcover prangt eine Art Burka mit vier Löchern. Aus den zwei oberen lugen runde Augen, aus den beiden unteren jeweils eine angemalte echte Brust. Zwischen Schock und Geheimnis, Kritik und Magie ist die Kunst von Julia Kissina, von der das Covermotiv stammt, anzusiedeln. Die 1966 in Kiew geborene, seit zwanzig Jahren in Berlin lebende Schriftstellerin ist eine Fotografin und Aktionskünstlerin von internationalem Ruf. Lange bevor Lady Gaga entsprechend posierte, hat Kissina Modelle mit Fleischfetzen behängt und fotografiert. Im 2006 gründete sie - eine unernste Madame Blavatsky des 21. Jahrhunderts - die "Dead Artists Society", die Séancen mit toten Künstlern wie Leonardo oder Marcel Duchamp abzuhalten pflegt. Auch als Literatin hat Kissina ein reiches Vorleben. In den achtziger Jahren gehörte sie zu den Moskauer Konzeptualisten um Sorokin und Pavel Pepperstein und galt als wichtige Vertreterin der russischen Underground-Literatur. Nach dem Erzählband "Vergesst Tarantino" (2005) liegt nun auch ihr gelungener Debütroman auf Deutsch vor.
"Frühling auf dem Mond" erzählt aus Sicht eines heranwachsenden Mädchens vom Kiew der Breschnew-Ära. Die namenlose Ich-Erzählerin vergleicht die Stagnation dieser Jahre mit einem anatomischen Kabinett, in dem "Skelette" und "in Spiritus weiße und rote Offiziere, Handlungsgehilfen, Wäscherinnen und Krämer aus dem vorigen Jahrhundert" vor sich hin dämmern. Während das Regime seinen größten Helden - Lenin - längst für die Ewigkeit präpariert hatte, riss man das alte Kiew nieder, um es durch gesichtslose Plattenbauten zu ersetzen. Doch hinter dem "unaufhaltsamen Zerstören und Zerschrunden" sieht das Mädchen auch "neues Leben". "Im Wartesaal des Herrn", in dem - wie es in der metaphorischen Eingangssequenz heißt - alle Erdenbewohner sitzen, blitzt Licht hinter der "riesigen, schlecht gestrichenen Tür" auf. Die kleine Gottesnärrin sucht das Übersinnliche in den Kiewer Pfützen, die das Abendlicht spiegeln, und in den Kirchen, wo Priester "in Nachthemden" stehen. Sie findet Gott - für Minuten - in einem ländlichen Gewitter, wo seine "blaue Faust" zornig auf sie niederzufahren scheint.
Geborgen scheint die Ich-Erzählerin in der Familie, die für Sowjetverhältnisse geradezu exzentrisch scheint. Während der Vater Revuen für den Zirkus schreibt, tut die Mutter ununterbrochen Gutes. In ihrem Haus scheint jedermann willkommen. Wilde Geschichten ranken sich um den prowestlichen Onkel Philipp, auf dessen WC japanische Pornobilder hängen und der sich in der Untersuchungshaft erhängt. Dessen Freundin Tamara ist das verfemte Kind eines Wehrmachtsoffiziers und einer Russlanddeutschen. Zu den Privilegierten zählt dagegen Onkel Wolodja mit der lauten "Rostbratlache". Er kann immer etwas organisieren - gerade wenn es sonst nur "zu Pyramiden aufgetürmte Dosen mit Algensalat" gibt. Der magere Polithäftling Schalajew hat angeblich lange in einer Friedhofsgruft gehaust. Eine Freundin des Vaters nennt ihn hämisch einen "Sklaven der Ehre". Es scheint fast, als wolle Julia Kissina die sowjetische Gesellschaft in ihrem Roman postum versöhnen, einen "Frühling auf dem Mond" stiften.
Mit der mutigen Mitschülerin Olga kommt Dynamik in das Leben des Mädchens. Den Mut der schwärmerischen, fanatisch religiösen und dichtenden Olga bewundert sie, auch wenn sie ihren Extremismus nicht teilt. Lapidar heißt es: "Damals war es verboten, an Gott zu glauben, so wie es heute verboten ist, nicht an ihn zu glauben." Gleichzeitig sucht die Pubertät - erste Menstruation, erster Schwarm, erste Begegnung mit einem Onanisten, erster Vollrausch - das Mädchen heim. Abgesehen davon, bleibt alles beim Alten: die Helden- und Dichtergedenkstätten - die zwischen Lenin und Puschkin im Grunde nicht unterscheiden -, die öden Statuen und Gedenksteine allerorten, die für Gagarin und Stalin schwärmenden Lehrerinnen.
Jenseits des offiziellen Mythos lauern die Tabuzonen. Nicht gesprochen wird etwa über die Mörderschlucht von Babi Jar; nur kurz wird erwähnt, dass diese unweit des Kiewer Syrez-Parks mit der harmlosen Pioniereisenbahn liegt. Dieser Debütroman überzeugt durch Wärme und Humor, Frechheit und Nachdenklichkeit, den Mut zum Widerspruch und sprachliche Kraft. Auf weitere Arbeiten von Julia Kissina - sei es in der bildenden Kunst, sei es in der Literatur - darf man in jedem Fall gespannt sein.
JUDITH LEISTER
Julia Kissina: "Frühling auf dem Mond". Roman.
Aus dem Russischen von Valerie Engler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 252 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Den autobiografischen Debütroman von Julia Kissina hat Andreas Breitenstein mit Vergnügen gelesen. Doch nicht nur. Die Tränen, die der Rezensent angeblich auf allen Seiten vergießt, sind auch Tränen des Schmerzes, der Tragödie. Wenn Kissina von einem Mädchen im Milieu der jüdischen Intelligenz während der späten Breschnew-Ära erzählt, das die Mythen durchschaut und das Unerhörte in den Wohnungen erahnt, das zwischen Nostalgie und Spott sich bewegt, kann Breitenstein nur staunen über die Tiefe der erzählten Schicksale. Und über den Reichtum an surrealen Bildern in diesem Buch. Kiew, meint er, hat spätestens jetzt seinen festen Platz auf der "mythopoetischen Landkarte".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.07.2013Mitleid mit den Mammuts
So lustig wie Wladimir Kaminer und so ernsthaft wie Nabokov: Die in Berlin lebende Ukrainerin Julia Kissina
hat einen tragikomischen Roman über ihre Kindheit in Kiew geschrieben – einer Stadt am Rande der sowjetischen Demenz
VON TIM NESHITOV
Julia Kissina, geboren 1966 in Kiew, hat in ihrem autobiografischen Roman „Frühling auf dem Mond“ ihre Kindheit und Jugend aufgeschrieben. Da Kissina in Berlin lebt und amüsant schreiben kann, neigt man zunächst dazu, ihr Buch im Regal neben die Werke von Wladimir Kaminer zu stellen, dem wohl lustigsten Vermarkter sowjetischer Vergangenheit. Man kann Kissina aber durchaus neben einen anderen Wladimir stellen: Nabokov. Dessen Memoirenklassiker „Erinnerung, sprich“ von 1966 beginnt mit den Sätzen: „Die Wiege schaukelt über dem Abgrund. Der Menschenverstand übertönt das Geflüster des begeisterten Aberglaubens und sagt uns, dass unser Leben nur ein schwacher Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.“
Kissinas Buch beginnt mit den Sätzen: „Wir alle sitzen im Empfangssaal des Herrn und warten auf unsere Stunde. Sein Empfangssaal ist riesig, dort stehen für die Wartenden Bänke.“ Damit setzt die Autorin einen spielerisch-nachdenklichen Ton, der die zahlreichen tragikomischen Anekdoten in ihrem Buch zusammenhält. „Frühling auf dem Mond“ ist oft bemüht lustig, das Bestreben aber, aus den eigenen Erinnerungen mehr herauszuholen als Unterhaltungsliteratur, verleiht Kissinas Buch eine Nabokovsche Dimension.
Kissina wuchs im Kiew der Siebzigerjahre auf, einer kosmopolitischen Stadt, in der Ukrainer, Russen, Juden, Polen, Armenier und Georgier nebeneinander lebten. Die ideologische Demenz des Systems, die auch an der Peripherie des Sowjetreichs den Alltag prägte, bekam Kissina als Kind nur begrenzt zu spüren. Einmal wurde ihr Vater, der dem Literatenkomitee vorstand, von einem Spitzel beim KGB denunziert. Das Komitee sei eine Einrichtung gewesen, schreibt Kissina, die „die Schreiberlinge und Dissidenten mehr oder weniger erfolgreich vor der Zwangsarbeit bewahrte. (. . .) Gedämpften Gesprächen der Erwachsenen entnahm ich, dass man das Literatenkomitee auflösen würde. Mama weinte wie gewöhnlich, färbte sich mehrmals die Haare neu und erging sich in düsteren Prognosen über unsere Zukunft in der Gosse, und ich stellte mir die schmutzige Gosse schon als unser neues Zuhause vor“.
Dieses triste Stück Realität schmückt Kissina mit schnuckligen Kinderphantasien aus, die dem Leser eindeutig ein Schmunzeln entlocken sollen: „Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, das Leben in der Gosse? Schließlich hatten die Urmenschen nicht mal eine Gosse und haben Jagd auf Mammuts gemacht. Auch wir werden Mammuts jagen, um nicht Hungers zu sterben. Ein würgendes Mitleid mit den armen Mammuts stieg in mir auf.“ Die Sache mit dem KGB geht dann überraschend gut aus, der Vater wird von einem Offizier verhört, der sich selbst als Dichter entpuppt („Mit der Poesie kommt auch die lichte Zukunft“). Er lässt die Anzeige fallen.
Ihre Mutter beschreibt Kissina als eine Schönheit, die sich neben der Arbeit als Lehrerin immer neue Aufgaben sucht und nie entspannen kann. Sie kümmert sich zum Beispiel um Alte im Irrenhaus, umsorgt eine Tante Vera und vernachlässigt dabei ihre eigene Familie. „Für Vera wurde zarte Kalbsleber gebraten, für sie wurden glasig schimmernde Kohlwickel mit schwarzen Pfefferkörnern bereitet.“
Zu Kissinas Alltag hinter dem Eisernen Vorhang gehören Menschen, die heimlich an geschmuggeltem Salz aus England lecken, als wäre es eine Droge, und dann für die Wanzen sagen, das Sowjetsalz sei noch besser. Man liest von Asthmatikern, die in Pferdeställe gehen, weil der Geruch von Pferdemist bei Lungenleiden helfe. Und von Lehrerinnen, die bis in alle Ewigkeit in den Kosmonauten Jurij Gagarin verliebt sind. Kissina erzählt auch von den Spuren des Krieges. Ihre Mutter kam am 22. Juni 1941 zur Welt, dem Tag, an dem die deutsche Luftwaffe die ersten Bomben auf Kiew abwarf. Eine der Bomben traf die Geburtsklinik, als einziges Bett blieb das der Großmutter unversehrt. Zu Hause, auf dem Flanierboulevard Kreschtschatik, fand die Großmutter später ihren ältesten Sohn, ebenfalls unversehrt. Er war dabei, wie früher Wasserbomben aus Papier zu basteln. „Nur dass es diesmal niemanden mehr gab, den er hätte bewerfen können – die Passanten waren alle tot.“
Es gibt Sätze in diesem Buch, die nur ein Mensch formulieren kann, der die eigene Kindheit sehr ernst nimmt. Kissina erinnert sich etwa an ihre damalige Vorstellung von Sibirien, wo sie nie war und wo Schamanen leben mit Hörnern auf dem Kopf. „Sie kreisen um ein Lagerfeuer und schlagen afrikanische Trommeln. Aus ihren Kehlen bricht das Polarlicht hervor, und ihre Leber sondert Leere ab.“ Natürlich formuliert kein Kind solche Sätze, sie formulieren nur Erwachsene, die Jahrzehnte später auf das Kind in sich hören.
Die titelgebenden Worte „Frühling auf dem Mond“ sind eine Zeile aus einem fröhlich-mystischen Gedicht, das Julia Kissina ihrer ersten Liebe widmete. Diese Liebe beschreibt sie mit derselben ergreifenden Nostalgie, mit der sie fast alles in diesem Buch beschreibt. Diese Nostalgie entsteht nicht dadurch, dass die Erinnerung Ereignisse in der Vergangenheit in ein milderes Licht taucht. Kissina geht es vielmehr um die Fähigkeit, in manchen Abschnitten des Lebens mehr wahrzunehmen als die alltägliche Realität. Als Kind habe sie im Zustand des „Lunatismus“ gelebt, einem „Zustand, in dem du das jenseitige Licht siehst, ein Zustand, in dem es keine Grenze zwischen dieser und jener Welt gibt, ein Zustand, in dem es unmöglich ist zu sterben.“
Mit der Zeit habe sie dieses Gefühl verloren, und es werde wohl nie zurückkehren. Aber in anderen Menschen überdauere dieses Gefühl. Man könnte vermuten, Kissina empfinde ein wenig Neid auf diese anderen Menschen. Aber man spürt nichts davon. Dafür fühlt sie sich zu wohl in ihren eigenen Erinnerungen.
Julia Kissina: Frühling auf dem Mond. Roman. Aus dem Russischen von Valerie Engler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 252 Seiten, 18,95 Euro.
Nostalgie nicht als Verklärung,
sondern als geschärfter Blick
Über in Stein gemeißelte Heldenlegenden setzt sich Kissina hinweg wie ein hüpfendes Kind.
FOTO: MARTIN ROEMERS/LAIF
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
So lustig wie Wladimir Kaminer und so ernsthaft wie Nabokov: Die in Berlin lebende Ukrainerin Julia Kissina
hat einen tragikomischen Roman über ihre Kindheit in Kiew geschrieben – einer Stadt am Rande der sowjetischen Demenz
VON TIM NESHITOV
Julia Kissina, geboren 1966 in Kiew, hat in ihrem autobiografischen Roman „Frühling auf dem Mond“ ihre Kindheit und Jugend aufgeschrieben. Da Kissina in Berlin lebt und amüsant schreiben kann, neigt man zunächst dazu, ihr Buch im Regal neben die Werke von Wladimir Kaminer zu stellen, dem wohl lustigsten Vermarkter sowjetischer Vergangenheit. Man kann Kissina aber durchaus neben einen anderen Wladimir stellen: Nabokov. Dessen Memoirenklassiker „Erinnerung, sprich“ von 1966 beginnt mit den Sätzen: „Die Wiege schaukelt über dem Abgrund. Der Menschenverstand übertönt das Geflüster des begeisterten Aberglaubens und sagt uns, dass unser Leben nur ein schwacher Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.“
Kissinas Buch beginnt mit den Sätzen: „Wir alle sitzen im Empfangssaal des Herrn und warten auf unsere Stunde. Sein Empfangssaal ist riesig, dort stehen für die Wartenden Bänke.“ Damit setzt die Autorin einen spielerisch-nachdenklichen Ton, der die zahlreichen tragikomischen Anekdoten in ihrem Buch zusammenhält. „Frühling auf dem Mond“ ist oft bemüht lustig, das Bestreben aber, aus den eigenen Erinnerungen mehr herauszuholen als Unterhaltungsliteratur, verleiht Kissinas Buch eine Nabokovsche Dimension.
Kissina wuchs im Kiew der Siebzigerjahre auf, einer kosmopolitischen Stadt, in der Ukrainer, Russen, Juden, Polen, Armenier und Georgier nebeneinander lebten. Die ideologische Demenz des Systems, die auch an der Peripherie des Sowjetreichs den Alltag prägte, bekam Kissina als Kind nur begrenzt zu spüren. Einmal wurde ihr Vater, der dem Literatenkomitee vorstand, von einem Spitzel beim KGB denunziert. Das Komitee sei eine Einrichtung gewesen, schreibt Kissina, die „die Schreiberlinge und Dissidenten mehr oder weniger erfolgreich vor der Zwangsarbeit bewahrte. (. . .) Gedämpften Gesprächen der Erwachsenen entnahm ich, dass man das Literatenkomitee auflösen würde. Mama weinte wie gewöhnlich, färbte sich mehrmals die Haare neu und erging sich in düsteren Prognosen über unsere Zukunft in der Gosse, und ich stellte mir die schmutzige Gosse schon als unser neues Zuhause vor“.
Dieses triste Stück Realität schmückt Kissina mit schnuckligen Kinderphantasien aus, die dem Leser eindeutig ein Schmunzeln entlocken sollen: „Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, das Leben in der Gosse? Schließlich hatten die Urmenschen nicht mal eine Gosse und haben Jagd auf Mammuts gemacht. Auch wir werden Mammuts jagen, um nicht Hungers zu sterben. Ein würgendes Mitleid mit den armen Mammuts stieg in mir auf.“ Die Sache mit dem KGB geht dann überraschend gut aus, der Vater wird von einem Offizier verhört, der sich selbst als Dichter entpuppt („Mit der Poesie kommt auch die lichte Zukunft“). Er lässt die Anzeige fallen.
Ihre Mutter beschreibt Kissina als eine Schönheit, die sich neben der Arbeit als Lehrerin immer neue Aufgaben sucht und nie entspannen kann. Sie kümmert sich zum Beispiel um Alte im Irrenhaus, umsorgt eine Tante Vera und vernachlässigt dabei ihre eigene Familie. „Für Vera wurde zarte Kalbsleber gebraten, für sie wurden glasig schimmernde Kohlwickel mit schwarzen Pfefferkörnern bereitet.“
Zu Kissinas Alltag hinter dem Eisernen Vorhang gehören Menschen, die heimlich an geschmuggeltem Salz aus England lecken, als wäre es eine Droge, und dann für die Wanzen sagen, das Sowjetsalz sei noch besser. Man liest von Asthmatikern, die in Pferdeställe gehen, weil der Geruch von Pferdemist bei Lungenleiden helfe. Und von Lehrerinnen, die bis in alle Ewigkeit in den Kosmonauten Jurij Gagarin verliebt sind. Kissina erzählt auch von den Spuren des Krieges. Ihre Mutter kam am 22. Juni 1941 zur Welt, dem Tag, an dem die deutsche Luftwaffe die ersten Bomben auf Kiew abwarf. Eine der Bomben traf die Geburtsklinik, als einziges Bett blieb das der Großmutter unversehrt. Zu Hause, auf dem Flanierboulevard Kreschtschatik, fand die Großmutter später ihren ältesten Sohn, ebenfalls unversehrt. Er war dabei, wie früher Wasserbomben aus Papier zu basteln. „Nur dass es diesmal niemanden mehr gab, den er hätte bewerfen können – die Passanten waren alle tot.“
Es gibt Sätze in diesem Buch, die nur ein Mensch formulieren kann, der die eigene Kindheit sehr ernst nimmt. Kissina erinnert sich etwa an ihre damalige Vorstellung von Sibirien, wo sie nie war und wo Schamanen leben mit Hörnern auf dem Kopf. „Sie kreisen um ein Lagerfeuer und schlagen afrikanische Trommeln. Aus ihren Kehlen bricht das Polarlicht hervor, und ihre Leber sondert Leere ab.“ Natürlich formuliert kein Kind solche Sätze, sie formulieren nur Erwachsene, die Jahrzehnte später auf das Kind in sich hören.
Die titelgebenden Worte „Frühling auf dem Mond“ sind eine Zeile aus einem fröhlich-mystischen Gedicht, das Julia Kissina ihrer ersten Liebe widmete. Diese Liebe beschreibt sie mit derselben ergreifenden Nostalgie, mit der sie fast alles in diesem Buch beschreibt. Diese Nostalgie entsteht nicht dadurch, dass die Erinnerung Ereignisse in der Vergangenheit in ein milderes Licht taucht. Kissina geht es vielmehr um die Fähigkeit, in manchen Abschnitten des Lebens mehr wahrzunehmen als die alltägliche Realität. Als Kind habe sie im Zustand des „Lunatismus“ gelebt, einem „Zustand, in dem du das jenseitige Licht siehst, ein Zustand, in dem es keine Grenze zwischen dieser und jener Welt gibt, ein Zustand, in dem es unmöglich ist zu sterben.“
Mit der Zeit habe sie dieses Gefühl verloren, und es werde wohl nie zurückkehren. Aber in anderen Menschen überdauere dieses Gefühl. Man könnte vermuten, Kissina empfinde ein wenig Neid auf diese anderen Menschen. Aber man spürt nichts davon. Dafür fühlt sie sich zu wohl in ihren eigenen Erinnerungen.
Julia Kissina: Frühling auf dem Mond. Roman. Aus dem Russischen von Valerie Engler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 252 Seiten, 18,95 Euro.
Nostalgie nicht als Verklärung,
sondern als geschärfter Blick
Über in Stein gemeißelte Heldenlegenden setzt sich Kissina hinweg wie ein hüpfendes Kind.
FOTO: MARTIN ROEMERS/LAIF
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»Was den versammelten Witz in seinen geballten Widersprüchen angeht, gründet Julia Kissinas so wunderbarer wie wunderlicher Roman in einer Lachkultur ...« Christian Thomas Frankfurter Rundschau 20221113