Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.
Das waren progressive Sprüche. Seit 1945 gab es keinen Krieg mehr in Europa. Krieg gibt es in Hollywoodfilmen und in Romanen. Die letzten Balkankriege? Am Rande des Kontinents, fast tatarisch fremd. Und die in Ruanda, im Kongo, im Irak, im Yemen,
was gehen sie uns an? Da konnten wir den menschenrechten Zeigefinger mahnend erheben und Worthülsen…mehrStell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.
Das waren progressive Sprüche. Seit 1945 gab es keinen Krieg mehr in Europa. Krieg gibt es in Hollywoodfilmen und in Romanen. Die letzten Balkankriege? Am Rande des Kontinents, fast tatarisch fremd. Und die in Ruanda, im Kongo, im Irak, im Yemen, was gehen sie uns an? Da konnten wir den menschenrechten Zeigefinger mahnend erheben und Worthülsen von Frieden in den Medien platzieren. Und im syrischen Krieg, da gab es sogar eine Zeitlang offene Grenzen und Loyalität. Aber ein Krieg in Gaza? Der ging uns nun wirklich nichts an. Hatten die nicht selbst Schuld mit ihrer bösen Hamas, die das gute Israel angriffen? Und ist israelische Politik nicht die des rohen Eies? Bloß nichts sagen, nichts tun, was dieses Ei beschädigen könnte.
Atef Abu Saif, Schriftsteller und Politologe, in Gaza geboren und lebend und seit April 2019 Kultusminister des palästinensischen Staates, beschreibt in seinem Buch nicht die üblichen Kriegserlebnisse aus Zeiten, als Heere einander bekämpften, sondern er schreibt in Tagebuchform seine Erlebnisse nieder, seine Ängste und Hoffnungen. Er schreibt von seiner Familie, von Freunden und Nachbarn, von zerbombten Häusern, von brennenden Äckern, Olivenbäumen und Orangenhainen, von zerfetzten Leichen, von der Auslöschung ganzer Familien, von der psychischen Zersetzung der Menschen. Deren Traumata die Sockel einer künftigen Gesellschaft sein werden. Eine zusätzliche Zermürbungstaktik zu der Angst um das eigene Leben, um die Familie und um die Freunde: die Kalamitäten des Alltags – wann gibt es wieder Wasser? Wann Strom? Wann können wir Essen einkaufen? Und immer wieder die Frage: warum lebe ich noch? Wann sterbe ich? Wann trifft der Tod mich? Da fällt mir die arabische Anekdote ein: Ein Mann sieht auf dem Marktplatz von Bagdad den Tod. Der Tod winkt ihm zu und der Mann flieht nach Samarra. Dort treffen sie sich wieder. Fazit: Es gibt kein Entkommen.
Die Notizen von Atef Abu Saif sind wie ein Mosaik des Krieges und des Todes, der Angst und der Verzweiflung, aber auch der kleinen Freuden: einen Kaffee trinken, eine Shisha rauchen, eine Melone essen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch wenn die Zeilen eher wie eine Reportage zu lesen sind, klingt in ihnen tiefe Menschlichkeit und Empathie mit: die Toten bleiben nicht namenlos. Atef Abu Saif gibt ihnen ein Stück Leben zurück durch die Nennung ihrer Namen und ihres Alters.
Das Sirren der Drohne, wie ein Perpetuum mobile, wie eine mutierte Riesenmücke, ist ständige Begleitung, gesteuert von einem Menschen, der „nur seine Pflicht tut“, der womöglich vor Langeweile gähnt, Kaugummi kaut, Spaß an der Jagd hat oder Frust, weil seine Frau gestern Nacht nicht mit ihm ficken wollte oder weil die Bank ihm den Kredit verweigert hat.
Die Drohne ist das Symbol dieses Krieges und aller künftigen: ein Big Brother-Szenario, gegen das der Einzelne machtlos und dem er ausgeliefert ist. Ich habe dieses Buch wie eine Hymne an das Leben und die Hoffnung gelesen. Jenseits aller politischen Verflechtungen.