Während seiner großen Nordamerikareise, die eigentlich den Beobachtungen des amerikanischen Rechtssystems gewidmet war und der wir letztendlich auch sein Hauptwerk »Die Demokratie in Amerika« verdanken, begab sich Alexis de Tocqueville für zwei Wochen auf Abwege. Auf der Suche nach der Wildnis und den Ureinwohnern des Kontinents durchreist er den Bundesstaat New York, überquert den Eriesee und findet schließlich fast unberührte Täler im Distrikt Michigan. Der Bericht seiner Eindrücke und Begegnungen zeichnet ein unmittelbares Bild von der Verheerung und Erschließung, der Zerstörung und Zivilisierung des Kontinents und seiner Bevölkerung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2013Durch die Wildnis
Ein skeptischer Franzose im Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Alexis de Tocquevilles Essay über eine Reise in den wilden Westen.
Von Thorsten Gräbe
Die Indianer sind immer schon fort. Alexis de Tocqueville hat zwar in Romanen von ihnen gelesen, bei Chateaubriand und James Fenimore Cooper, aber als er durch die Vereinigten Staaten reist, kann der französische Adlige anfangs nur ihre Spuren finden. Sein Gastgeber vermutet, "irgendwo hinter den großen Seen" würden die Indianer sein, und ergänzt: "Sie sind eine Rasse, mit der es zu Ende geht; sie sind für die Zivilisation nicht geschaffen, sie tötet sie."
Tocqueville, fünfundzwanzig Jahre alt, war am 11. Mai 1831 mit dem etwas älteren Gustave de Beaumont in New York angekommen. Für das französische Innenministerium sollten sie eine Studie zum amerikanischen Gefängniswesen erstellen. Die Studie entstand tatsächlich; als wichtiger erwies sich aber ein anderes Werk, das dem neunmonatigen Aufenthalt folgte: Mit den zwei Bänden von "Über die Demokratie in Amerika" (1835/40) gelang Tocqueville ein Klassiker des politischen Denkens. Für das Bild des Landes wurde Tocquevilles Analyse so prägend wie die Selbstbeschreibung in den "Federalist"-Artikeln der Gründerväter James Madison, Alexander Hamilton und John Jay.
Die Reise führte auch an die "Frontier", also die westwärts wandernde Siedlungsgrenze. Über den Abstecher verfasste Tocqueville noch in Amerika einen facettenreichen Essay, der jedoch erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde und nun in neuer Übersetzung erscheint. Der Band ist nüchtern aufgemacht, ohne Bilder - Beaumonts Zeichnungen hätten sich angeboten - oder eine Karte der Route. Ergänzt wird der Essay durch Tocquevilles kürzeren Bericht über einen Besuch des Oneida-Sees und durch Beaumonts Rückblick auf die gemeinsame Amerikareise.
Wie die Indianer ist die Wildnis, die Tocqueville sucht, nicht mehr so leicht zu finden, zumal die Amerikaner gar nicht verstehen, "dass man großen Bäumen und schöner Einsamkeit Wert beimessen kann". Um Auskünfte einzuholen, geben sich die beiden Franzosen als Landkäufer aus - und reisen dann genau in die Gegend, von der geschäftstüchtige Menschen abraten.
Die ersten Indianer, denen Tocqueville begegnet, sind für ihn eine Enttäuschung. In Buffalo, New York, sieht er sie, betrunken und brutal, wie gefangen in den Falten ihrer europäischen Kleidung. Noch mehr erschreckt ihn allerdings die Gleichgültigkeit der Weißen, die denken, dass wahre Eigentümer des Landes die sind, "die sich seine Reichtümer zunutze zu machen wissen". Spöttisch fügt er hier an: "Von solchen Vorstellungen erfüllt, geht der Amerikaner zufrieden in die Kirche, wo er einem Prediger des Evangeliums lauscht, der ihm einschärft, dass die Menschen Brüder sind und dass das ewige Wesen, das sie alle nach demselben Bild gemacht hat, sie zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet." In seinem Hauptwerk wird Tocqueville freilich selbst argumentieren, dass die Indianer das Land bewohnt, aber nicht besessen hätten.
Von Buffalo geht es per Dampfschiff nach Detroit im damaligen Territorium Michigan, das 1837 zum sechsundzwanzigsten Bundesstaat wurde. Tocqueville und Beaumont leihen sich Pferde und reiten mit Kompass, Gewehr und Munition nach Pontiac und schließlich, geführt von zwei jungen Indianern, nach Saginaw. Die Blockhütte des Pioniers zeigt Tocqueville als Idealbild, weil sie überall ähnlich aussehe. Vom Zug ins Allgemeine wechselt er zum Blick aufs Detail: Ein Siedler hält sich einen Bären als Wachhund; ein indianisch gekleideter Fährmann im Einbaum redet plötzlich Französisch mit normannischem Akzent.
In der Wildnis spricht man viel besser von den Indianern, stellt Tocqueville fest. Auch sein Eindruck von ihnen fällt nun günstiger aus. In der kleinen "Frontier"-Siedlung Saginaw mit ihren dreißig Einwohnern - Amerikanern, Kanadiern, Indianern und Mischlingen - zieht er gleichwohl ein düsteres Fazit zur Frage des zukünftigen Zusammenlebens, weil bereits die Abgrenzung nach Hautfarbe, Herkunft, Glaube, Besitz und Bildung beginnt. Die Natur betrachtet Tocqueville mit "melancholischem Vergnügen". Die Zerstörung ihrer Schönheit hält er für unvermeidlich. "In gewisser Weise beeilt man sich, sie zu bewundern."
Alexis de Tocqueville: "Fünfzehn Tage in der Wildnis".
Aus dem Französischen von Heinz Jatho. diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2013. 112 S., br., 12,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein skeptischer Franzose im Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Alexis de Tocquevilles Essay über eine Reise in den wilden Westen.
Von Thorsten Gräbe
Die Indianer sind immer schon fort. Alexis de Tocqueville hat zwar in Romanen von ihnen gelesen, bei Chateaubriand und James Fenimore Cooper, aber als er durch die Vereinigten Staaten reist, kann der französische Adlige anfangs nur ihre Spuren finden. Sein Gastgeber vermutet, "irgendwo hinter den großen Seen" würden die Indianer sein, und ergänzt: "Sie sind eine Rasse, mit der es zu Ende geht; sie sind für die Zivilisation nicht geschaffen, sie tötet sie."
Tocqueville, fünfundzwanzig Jahre alt, war am 11. Mai 1831 mit dem etwas älteren Gustave de Beaumont in New York angekommen. Für das französische Innenministerium sollten sie eine Studie zum amerikanischen Gefängniswesen erstellen. Die Studie entstand tatsächlich; als wichtiger erwies sich aber ein anderes Werk, das dem neunmonatigen Aufenthalt folgte: Mit den zwei Bänden von "Über die Demokratie in Amerika" (1835/40) gelang Tocqueville ein Klassiker des politischen Denkens. Für das Bild des Landes wurde Tocquevilles Analyse so prägend wie die Selbstbeschreibung in den "Federalist"-Artikeln der Gründerväter James Madison, Alexander Hamilton und John Jay.
Die Reise führte auch an die "Frontier", also die westwärts wandernde Siedlungsgrenze. Über den Abstecher verfasste Tocqueville noch in Amerika einen facettenreichen Essay, der jedoch erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde und nun in neuer Übersetzung erscheint. Der Band ist nüchtern aufgemacht, ohne Bilder - Beaumonts Zeichnungen hätten sich angeboten - oder eine Karte der Route. Ergänzt wird der Essay durch Tocquevilles kürzeren Bericht über einen Besuch des Oneida-Sees und durch Beaumonts Rückblick auf die gemeinsame Amerikareise.
Wie die Indianer ist die Wildnis, die Tocqueville sucht, nicht mehr so leicht zu finden, zumal die Amerikaner gar nicht verstehen, "dass man großen Bäumen und schöner Einsamkeit Wert beimessen kann". Um Auskünfte einzuholen, geben sich die beiden Franzosen als Landkäufer aus - und reisen dann genau in die Gegend, von der geschäftstüchtige Menschen abraten.
Die ersten Indianer, denen Tocqueville begegnet, sind für ihn eine Enttäuschung. In Buffalo, New York, sieht er sie, betrunken und brutal, wie gefangen in den Falten ihrer europäischen Kleidung. Noch mehr erschreckt ihn allerdings die Gleichgültigkeit der Weißen, die denken, dass wahre Eigentümer des Landes die sind, "die sich seine Reichtümer zunutze zu machen wissen". Spöttisch fügt er hier an: "Von solchen Vorstellungen erfüllt, geht der Amerikaner zufrieden in die Kirche, wo er einem Prediger des Evangeliums lauscht, der ihm einschärft, dass die Menschen Brüder sind und dass das ewige Wesen, das sie alle nach demselben Bild gemacht hat, sie zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet." In seinem Hauptwerk wird Tocqueville freilich selbst argumentieren, dass die Indianer das Land bewohnt, aber nicht besessen hätten.
Von Buffalo geht es per Dampfschiff nach Detroit im damaligen Territorium Michigan, das 1837 zum sechsundzwanzigsten Bundesstaat wurde. Tocqueville und Beaumont leihen sich Pferde und reiten mit Kompass, Gewehr und Munition nach Pontiac und schließlich, geführt von zwei jungen Indianern, nach Saginaw. Die Blockhütte des Pioniers zeigt Tocqueville als Idealbild, weil sie überall ähnlich aussehe. Vom Zug ins Allgemeine wechselt er zum Blick aufs Detail: Ein Siedler hält sich einen Bären als Wachhund; ein indianisch gekleideter Fährmann im Einbaum redet plötzlich Französisch mit normannischem Akzent.
In der Wildnis spricht man viel besser von den Indianern, stellt Tocqueville fest. Auch sein Eindruck von ihnen fällt nun günstiger aus. In der kleinen "Frontier"-Siedlung Saginaw mit ihren dreißig Einwohnern - Amerikanern, Kanadiern, Indianern und Mischlingen - zieht er gleichwohl ein düsteres Fazit zur Frage des zukünftigen Zusammenlebens, weil bereits die Abgrenzung nach Hautfarbe, Herkunft, Glaube, Besitz und Bildung beginnt. Die Natur betrachtet Tocqueville mit "melancholischem Vergnügen". Die Zerstörung ihrer Schönheit hält er für unvermeidlich. "In gewisser Weise beeilt man sich, sie zu bewundern."
Alexis de Tocqueville: "Fünfzehn Tage in der Wildnis".
Aus dem Französischen von Heinz Jatho. diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2013. 112 S., br., 12,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Mit einigem Interesse liest Rezensentin Tania Martini die erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Notizen Alexis de Tocquevilles zu seiner zweiwöchigen Reise in die Welt jenseits der Frontier, die er am Rande seiner großen Amerikareise im Jahr 1831 unternommen hatte. Der Autor "brilliert durch seine genaue Beobachtungsgabe" und vermag dadurch, wie Martini unterstreicht, das Ausmaß der Zivilisierung der "Neuen Welt" noch anschaulicher zu vermitteln als in seinen beiden großen, in diesem Tagebuch bereits vorskizziert wirkenden Klassikern über die noch frische amerikanische Nation. Interessant ist diese Reise in die "Wildnis" vor dem Hintergrund der seinerzeit noch nicht vollends historisierten Debatten über die Natur des Menschen, wie sie Hobbes, Locke und Robespierre geführt haben, so die Kritikerin. Wobei sich Tocqueville durchaus in Widersprüche verstrickt, hält Martini fest: Ureinwohner und Siedler faszinieren und verstören ihn zu gleichen Teilen, Misstrauen und Voreingenommenheiten geißelt er genauso wie die seiner Ansicht nach "freiheitsgefährdende" Demokratie, auch wenn Martini sich beeilt hinzuzufügen, dass Tocqueville darunter vor allem "Wettbewerbsindividualismus" und das Primat der Ökonomie verstand.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Tocqueville hat ein unglaubliches Gespür für Ambivalenzen - insofern ist dieser knapp zweihundert Jahre alte Text auch heute noch mit Gewinn zu lesen.« Carsten Hueck, Deutschlandradio Kultur