Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer ist es an der Zeit, die Texte Heiner Müllers neu zu lesen. Der Begriffsflitter der verflossenen Postmoderne konnte ihnen ebenso wenig etwas anhaben wie die ideologische Zensur der Open Society. Zu entdecken sind prophetische Analysen, die Elend und Schrecken des triumphierenden Kapitalismus im Voraus zur Sprache bringen.
Der Band legt eine Auswahl bekannter und weniger bekannter Texte Heiner Müllers zum Kapitalismus vor. Die Gliederung orientiert sich an fünf grundlegenden Aspekten der Kritik, die das Gesamtwerk durchziehen: die Dialektik des Kapitals, der Affekt des Ekels, die Kritik der Sprache, die Frage der Religion, die Permanenz des Krieges. Eingeleitet werden die einzelnen Kapitel jeweils durch ein kurzes Vorwort, das einen möglichen Zugriff auf die Texte eröffnen soll. Es geht darum, der Chance, die Heiner Müller als Dialektiker noch in der völligen »Ratlosigkeit des Denkens« erkannt hat, einen Denkraum zu geben.
Der Band legt eine Auswahl bekannter und weniger bekannter Texte Heiner Müllers zum Kapitalismus vor. Die Gliederung orientiert sich an fünf grundlegenden Aspekten der Kritik, die das Gesamtwerk durchziehen: die Dialektik des Kapitals, der Affekt des Ekels, die Kritik der Sprache, die Frage der Religion, die Permanenz des Krieges. Eingeleitet werden die einzelnen Kapitel jeweils durch ein kurzes Vorwort, das einen möglichen Zugriff auf die Texte eröffnen soll. Es geht darum, der Chance, die Heiner Müller als Dialektiker noch in der völligen »Ratlosigkeit des Denkens« erkannt hat, einen Denkraum zu geben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2017Vom weggemogelten Leben
Sprich, Erinnerung, sprich: Heiner Müller inspiriert im Loft seiner Witwe zum Denken
Dostojewskijs "Spieler" liegt in Fischers Taschenbuchausgabe auf dem Klo einer Fabriketage in Berlin-Kreuzberg. Raskolnikow rumpelt in der Hamletmaschine, und Corinna Harfouch hat einen Kloß im Hals, als sie an diesem denkwürdigen Abend aus Texten Heiner Müllers zum Kapitalismus liest. Nein, das war kein Stolpern, das war ein Schlucken, ein kurzer Blickwechsel zwischen der großen Müller-Schauspielerin Harfouch, der Müller-Witwe Brigitte Maria Mayer und der Müller-Mayer-Tochter Anna, die im Familien-Loft ein Grußwort an die Gäste richtete.
"Für alle reicht es nicht" ist der Titel der jetzt erscheinenden Anthologie. Sie enthält neu abgemischte Texte zu den geistigen und ästhetischen Emanationen des Kapitalismus. Das Zitat auf dem Cover wirkt packend und berührend zugleich. Ein Slogan der Indignation, direkt anschließbar an Stéphane Hessels weltweit umjubelten Aufruf zur Empörung aus dem Jahr 2010. Vor allem, wenn man sich den Beil schwingenden Raskolnikow dazudenkt und dann gleich noch ein paar symbolpolitische Enthauptungen aus dem Mittleren Osten. "Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße. Irgendwo werden Leiber geöffnet, damit ich allein sein kann mit meinem Blut. Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen Beine zu gehen kein Schmerz kein Gedanke!" Es war bedrückend, im Kreis der Kritiker und Freunde diese Sätze aushalten zu müssen. Es sei, sagte Corinna Harfouch, das beste Buch, das sie seit Jahren kennenlernen durfte.
Heiner Müller ist 1995 nicht einmal siebzigjährig gestorben. Seine Tochter Anna war damals drei, jetzt wünscht sie sich ein Revival der politischen Essays und Interviews ihres inzwischen zum Brecht-Schüler-Klassiker angelisierten Vaters. Die Auseinandersetzung mit den beiden deutschen Systemen, in denen Müller in absoluter Ausnahmestellung seltsam virtuos existierte, ist seinem Werk inhärent. Die neue Zusammenstellung seiner Texte zur Gegenwart zeigt den Dramatiker als luziden und vor allem differenzierten Interpreten der Lebenszusammenhänge nach 1989. Wer wohlfeile Kapitalismuskritik erwartet, bekommt hier Saures. Denn Heiner Müller dekonstruiert nicht nur politische Paradigmen, sondern auch intellektuelle Attitüden, was wiederum nur Zyniker für zynisch halten dürften.
Als Präsident der Ost-Berliner Akademie der Künste verweigerte er zum Beispiel die Unterzeichnung einer Resolution zur Beendigung des Golfkriegs mit dem Argument, die Rolle des friedensbewegten Schriftstellers sei lächerlich. Genets Satz über den Algerien-Krieg, der lang dauern müsse, damit die Algerier überhaupt eine Chance hätten, ihn zu gewinnen, wird nicht unwahrer durch seine Hässlichkeit. Und Müller schließt sich Genet in seiner Interpretation des langsamen Krieges als letztem Mittel der Revolte an. Frieden, wenn man den Krieg so wie Müller als Kommunikationsform des Klassenkampfes begreift, ist zwar als Momentaufnahme wünschenswert, aber er bedeutet mitunter die Festschreibung der Verhältnisse im Juste Milieu, ein Verstummen der Unterlegenen, zeitgenössischst ausgedrückt: ihr Deponieren im Darknet der globalen Zusammenhänge. Und der Fundamentalismus? Ein Resultat des existentiellen Alleinseins.
"In jeder Gesellschaft gibt es ein Leben in der Tiefe, wie immer das auch verdrängt oder weggemogelt wird." Der Fundamentalismus sei, so Müller bereits Anfang der neunziger Jahre, durchaus auch ein Produkt des Friedens. Es ist nicht sehr schön, so zu denken, und doch seltsam trostreich. Denn das Pamphlet für ein "bisschen Frieden" ist in seiner selbstvergewissernden Folgenlosigkeit noch viel deprimierender.
Heiner Müller hatte seine politischen Verstiegenheiten. Seine blitzgescheiten, oft berührenden, durchaus pathetischen Texte zur kapitalistischen Realität haben in den Privaträumen der Familie einen Sog zum Weiterdenken entwickelt, der dem Abend gegen die Gefahr der Betriebsnudeligkeit einerseits und der eifernden Aktualisierung andererseits eine stille Würde verlieh.
KATHARINA TEUTSCH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprich, Erinnerung, sprich: Heiner Müller inspiriert im Loft seiner Witwe zum Denken
Dostojewskijs "Spieler" liegt in Fischers Taschenbuchausgabe auf dem Klo einer Fabriketage in Berlin-Kreuzberg. Raskolnikow rumpelt in der Hamletmaschine, und Corinna Harfouch hat einen Kloß im Hals, als sie an diesem denkwürdigen Abend aus Texten Heiner Müllers zum Kapitalismus liest. Nein, das war kein Stolpern, das war ein Schlucken, ein kurzer Blickwechsel zwischen der großen Müller-Schauspielerin Harfouch, der Müller-Witwe Brigitte Maria Mayer und der Müller-Mayer-Tochter Anna, die im Familien-Loft ein Grußwort an die Gäste richtete.
"Für alle reicht es nicht" ist der Titel der jetzt erscheinenden Anthologie. Sie enthält neu abgemischte Texte zu den geistigen und ästhetischen Emanationen des Kapitalismus. Das Zitat auf dem Cover wirkt packend und berührend zugleich. Ein Slogan der Indignation, direkt anschließbar an Stéphane Hessels weltweit umjubelten Aufruf zur Empörung aus dem Jahr 2010. Vor allem, wenn man sich den Beil schwingenden Raskolnikow dazudenkt und dann gleich noch ein paar symbolpolitische Enthauptungen aus dem Mittleren Osten. "Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße. Irgendwo werden Leiber geöffnet, damit ich allein sein kann mit meinem Blut. Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen Beine zu gehen kein Schmerz kein Gedanke!" Es war bedrückend, im Kreis der Kritiker und Freunde diese Sätze aushalten zu müssen. Es sei, sagte Corinna Harfouch, das beste Buch, das sie seit Jahren kennenlernen durfte.
Heiner Müller ist 1995 nicht einmal siebzigjährig gestorben. Seine Tochter Anna war damals drei, jetzt wünscht sie sich ein Revival der politischen Essays und Interviews ihres inzwischen zum Brecht-Schüler-Klassiker angelisierten Vaters. Die Auseinandersetzung mit den beiden deutschen Systemen, in denen Müller in absoluter Ausnahmestellung seltsam virtuos existierte, ist seinem Werk inhärent. Die neue Zusammenstellung seiner Texte zur Gegenwart zeigt den Dramatiker als luziden und vor allem differenzierten Interpreten der Lebenszusammenhänge nach 1989. Wer wohlfeile Kapitalismuskritik erwartet, bekommt hier Saures. Denn Heiner Müller dekonstruiert nicht nur politische Paradigmen, sondern auch intellektuelle Attitüden, was wiederum nur Zyniker für zynisch halten dürften.
Als Präsident der Ost-Berliner Akademie der Künste verweigerte er zum Beispiel die Unterzeichnung einer Resolution zur Beendigung des Golfkriegs mit dem Argument, die Rolle des friedensbewegten Schriftstellers sei lächerlich. Genets Satz über den Algerien-Krieg, der lang dauern müsse, damit die Algerier überhaupt eine Chance hätten, ihn zu gewinnen, wird nicht unwahrer durch seine Hässlichkeit. Und Müller schließt sich Genet in seiner Interpretation des langsamen Krieges als letztem Mittel der Revolte an. Frieden, wenn man den Krieg so wie Müller als Kommunikationsform des Klassenkampfes begreift, ist zwar als Momentaufnahme wünschenswert, aber er bedeutet mitunter die Festschreibung der Verhältnisse im Juste Milieu, ein Verstummen der Unterlegenen, zeitgenössischst ausgedrückt: ihr Deponieren im Darknet der globalen Zusammenhänge. Und der Fundamentalismus? Ein Resultat des existentiellen Alleinseins.
"In jeder Gesellschaft gibt es ein Leben in der Tiefe, wie immer das auch verdrängt oder weggemogelt wird." Der Fundamentalismus sei, so Müller bereits Anfang der neunziger Jahre, durchaus auch ein Produkt des Friedens. Es ist nicht sehr schön, so zu denken, und doch seltsam trostreich. Denn das Pamphlet für ein "bisschen Frieden" ist in seiner selbstvergewissernden Folgenlosigkeit noch viel deprimierender.
Heiner Müller hatte seine politischen Verstiegenheiten. Seine blitzgescheiten, oft berührenden, durchaus pathetischen Texte zur kapitalistischen Realität haben in den Privaträumen der Familie einen Sog zum Weiterdenken entwickelt, der dem Abend gegen die Gefahr der Betriebsnudeligkeit einerseits und der eifernden Aktualisierung andererseits eine stille Würde verlieh.
KATHARINA TEUTSCH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die neue Zusammenstellung seiner Texte zur Gegenwart zeigt den Dramatiker als luziden und vor allem differenzierten Interpreten der Lebenszusammenhänge nach 1989.« Katharina Teutsch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20170408