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Küssen kann helfen, Huskykraulen auch: Nikola Huppertz' kluger Roman "Fürs Leben zu lang" ist so stilsicher und amüsant wie anrührend und tröstlich.
Von Oliver Jungen
Von Oliver Jungen
Nicht nur die Shell Jugendstudie hat es belegt: Religion und Glaube werden für die junge Generation immer unwichtiger. Religiöse Feste mutieren im besten Falle zu familiären Ritualen. Weihnachten etwa hat Glück, Besinnlichkeit geht immer. Ostern ist schon schlechter dran. Auch in Nikola Huppertz' fabelhaftem Jugendroman "Fürs Leben zu lang" weiß die Heldin und Ich-Erzählerin, die dreizehnjährige Magali Weill, mit diesem "Kleinkind"-Fest wenig anzufangen. Missmutig bemalt sie mit ihren Eltern Ostereier und sucht in der Wohnung nach versteckten Geschenken, hält in ihrem Tagebuch aber fest: "Bereits letztes Jahr war das Ganze unfassbar peinlich, aber damals war wenigstens Malve da und hat zumindest so getan, als würde sie mitsuchen. Ein einzelnes Kind dazu zu nötigen, während das andere sich vollverweigert, sollte dagegen nicht mal meinen Eltern einfallen." Malve ist die achtzehnjährige, in den Augen der notorisch "ungeküssten" Heldin körperlich perfekte Schwester, die sich, statt für das Abitur zu lernen, lieber mit männlichen Bewunderern umgibt.
Magali wiederum ist eine ziemlich normale, hellwache, aber weitgehend unbemerkte Teenagerin, die in erster libidinöser Aufwallung den coolen Joël aus dem Hinterhaus anhimmelt und sich zu Recht von ihren vorgeblichen Schulfreundinnen übergangen fühlt. Weil sie ihr eigenes Leben für unbedeutend hält und sich selbst mit 1,82 Meter für viel zu "lang", um ansehnlich zu sein, widmet sie ihr Tagebuch dem Leben aller anderen in ihrem Umfeld. Das tut sie mit eleganter Eloquenz. Dass Nikola Huppertz dabei immer den richtigen, leicht schnodderigen, nie altklug wirkenden Ton trifft, selbst da, wo mit leichter Hand Bildungswissen in die Erzählung eingespeist wird (Rimbaud, Strawinsky, der Tiermaler Karl Uchermann), ist eine der großen Stärken dieses Buchs.
Magali hat sich einen neuen besten Freund gesucht: den vernachlässigten Husky einer kinderreichen Nachbarsfamilie: "Er ist nun mal kein anderer Mensch, der doofe Sachen über mich denken könnte." Vage angefreundet hat sie sich auch mit dem 98 Jahre alten, lebensfrohen Albert Krekeler, der sogar noch Zeitlupenjogging betreibt. Manchmal übt sie Klavier. Religion spielt für sie keine Rolle. Dass ihr damit ein probates Instrument zur Bewältigung der existenziellen Urangst vor dem Nichtsein fehlt, merkt sie erst, als der Tod an das Mietshaus anklopft. Er klopft allerdings freundlich und leise an. Dass Herr Krekeler angekündigt habe, "sein Tod stehe unmittelbar bevor", erfährt Magali wie nebenbei von dessen Enkel Kieran. Der ist auf Osterbesuch da, lebt aber eigentlich mit seinen Eltern in einer Wendland-Kommune, von wo er eine aufregende Distanzlosigkeit mitgebracht hat.
Magali zweifelt nicht an den Worten des weisen Alten. Er glaube eben, dass 98 Jahre "fürs Leben zu lang" seien. Doch wie geht man mit einem erwarteten Tod um, wenn Himmel und Auferstehung nicht mehr zur Verfügung stehen? Das Buch weiß Rat: Weil die Sache mit der Ewigkeit schon seit Ewigkeiten ein Problem ist, kann man einfach noch weiter zurückgehen, zu dem Stoiker Seneca etwa, der den Tod für die letzte Stufe eines lebenslangen Sterbens hielt, die Erfüllung eines guten Lebens, und der hier immer wieder lustig in den Text hineinlugt. Magalis Mutter, eine Lehrerin, übersetzt mit ihrem Oberstufenkurs nämlich wieder einmal "Vom glücklichen Leben" und kommt der Tochter allenthalben mit Seneca-Zitaten: "Wer immer aber klagt und jammert und seufzt ..." Die denkt freilich nicht dran, sich zu fügen: "Fuck you, Seneca! Irgendwann ist mal Schluss mit Klappehalten."
Sie und Kieran kommen dann von ganz alleine drauf, dass die wichtigste Frage gar nicht die nach dem Sterben ist. Das mache ihnen ja gerade jemand vor: "Es ist nicht so schlimm, wie man denkt. Es wird alles weniger, jeden Tag ein bisschen. Bis zuletzt nichts mehr übrig bleibt." Kindgerechter lässt sich Senecas Auffassung vom Tod nicht zusammenfassen. Doch bei der eigentlichen Frage - "Wir kennen aber niemanden, der uns zeigt, wie Leben geht" - ist der alte Tugendethiker, "seit fast 2000 Jahren tot", nicht mehr der richtige Ansprechpartner. Die Kinder wenden sich stattdessen per Mail an einen lebenden Philosophen, in diesem Fall an den realen Achim Engstler (Nikola Huppertz hat bereits für ein anderes Projekt mit ihm zusammengearbeitet), der auch tatsächlich antwortet, allerdings eine Philosophenantwort: Wer sterben könne, könne auch leben. Eine Sache des Wissens sei das gar nicht, sondern eine des Gefühls: "Tut man das, was für einen richtig ist, stimmt der ganze Körper zu."
Dass der Körper dem Geist zustimmen soll, ist das Gegenteil der christlichen Leibfeindlichkeit, in der es das schwache Fleisch zu überwinden galt; ein lange versperrter Weg zur Glückseligkeit, der wieder offen ist. Sie tun also das, was sich richtig anfühlt - in Bezug auf ihren Alltag, auf ihre Trauer, aber auch auf die Ehre, die sie Albert Krekeler erweisen möchten. Und tatsächlich: Das Vertiefen in das geradezu schöne Sterben des alten Herrn - auch wenn Magalis Mutter mit dem Morbiden daran hadert: "Irgendwann ist es genug!" - führt dazu, dass das Leben hier große Schritte nach vorn macht, die Gemeinschaft ebenso wächst wie das Selbstwertgefühl der Erzählerin. Und ungeküsst ist sie am Ende dieser zauberhaften und lebensklugen Geschichte auch nicht mehr.
Nikola Huppertz: "Fürs Leben zu lang."
Tulipan Verlag, München 2023. 200 S., geb., 16,- Euro. Ab 12 J.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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