Magali Weill ist groß. Viel zu groß für eine Dreizehnjährige und erst recht zu groß, um von irgendjemandem geküsst zu werden. Wenn sie wie ihre Schwester Malve wäre, würde sie ihr Elend in einem Tagebuch lang und breit beweinen. Aber so ist Magali nicht. Lieber schreibt sie ein 'Tagebuch von allen anderen'. Zum Beispiel über den sehr bemerkenswerten und uralten Herrn Krekeler, ihren Nachbarn. Doch als ebenjener Herr Krekeler beschließt, demnächst zu sterben, wird Magali plötzlich aus ihrer Beobachterposition herausgerissen. Gemeinsam mit Kieran, Herrn Krekelers Enkel, stellt sich für Magali auf einmal die Frage: Wie geht das überhaupt, ein richtiges Leben? Ein literarischer Coming-of-Age-Roman, der die großen Fragen des Lebens aufwirft
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023Die Sache mit der Ewigkeit
Küssen kann helfen, Huskykraulen auch: Nikola Huppertz' kluger Roman "Fürs Leben zu lang" ist so stilsicher und amüsant wie anrührend und tröstlich.
Von Oliver Jungen
Von Oliver Jungen
Nicht nur die Shell Jugendstudie hat es belegt: Religion und Glaube werden für die junge Generation immer unwichtiger. Religiöse Feste mutieren im besten Falle zu familiären Ritualen. Weihnachten etwa hat Glück, Besinnlichkeit geht immer. Ostern ist schon schlechter dran. Auch in Nikola Huppertz' fabelhaftem Jugendroman "Fürs Leben zu lang" weiß die Heldin und Ich-Erzählerin, die dreizehnjährige Magali Weill, mit diesem "Kleinkind"-Fest wenig anzufangen. Missmutig bemalt sie mit ihren Eltern Ostereier und sucht in der Wohnung nach versteckten Geschenken, hält in ihrem Tagebuch aber fest: "Bereits letztes Jahr war das Ganze unfassbar peinlich, aber damals war wenigstens Malve da und hat zumindest so getan, als würde sie mitsuchen. Ein einzelnes Kind dazu zu nötigen, während das andere sich vollverweigert, sollte dagegen nicht mal meinen Eltern einfallen." Malve ist die achtzehnjährige, in den Augen der notorisch "ungeküssten" Heldin körperlich perfekte Schwester, die sich, statt für das Abitur zu lernen, lieber mit männlichen Bewunderern umgibt.
Magali wiederum ist eine ziemlich normale, hellwache, aber weitgehend unbemerkte Teenagerin, die in erster libidinöser Aufwallung den coolen Joël aus dem Hinterhaus anhimmelt und sich zu Recht von ihren vorgeblichen Schulfreundinnen übergangen fühlt. Weil sie ihr eigenes Leben für unbedeutend hält und sich selbst mit 1,82 Meter für viel zu "lang", um ansehnlich zu sein, widmet sie ihr Tagebuch dem Leben aller anderen in ihrem Umfeld. Das tut sie mit eleganter Eloquenz. Dass Nikola Huppertz dabei immer den richtigen, leicht schnodderigen, nie altklug wirkenden Ton trifft, selbst da, wo mit leichter Hand Bildungswissen in die Erzählung eingespeist wird (Rimbaud, Strawinsky, der Tiermaler Karl Uchermann), ist eine der großen Stärken dieses Buchs.
Magali hat sich einen neuen besten Freund gesucht: den vernachlässigten Husky einer kinderreichen Nachbarsfamilie: "Er ist nun mal kein anderer Mensch, der doofe Sachen über mich denken könnte." Vage angefreundet hat sie sich auch mit dem 98 Jahre alten, lebensfrohen Albert Krekeler, der sogar noch Zeitlupenjogging betreibt. Manchmal übt sie Klavier. Religion spielt für sie keine Rolle. Dass ihr damit ein probates Instrument zur Bewältigung der existenziellen Urangst vor dem Nichtsein fehlt, merkt sie erst, als der Tod an das Mietshaus anklopft. Er klopft allerdings freundlich und leise an. Dass Herr Krekeler angekündigt habe, "sein Tod stehe unmittelbar bevor", erfährt Magali wie nebenbei von dessen Enkel Kieran. Der ist auf Osterbesuch da, lebt aber eigentlich mit seinen Eltern in einer Wendland-Kommune, von wo er eine aufregende Distanzlosigkeit mitgebracht hat.
Magali zweifelt nicht an den Worten des weisen Alten. Er glaube eben, dass 98 Jahre "fürs Leben zu lang" seien. Doch wie geht man mit einem erwarteten Tod um, wenn Himmel und Auferstehung nicht mehr zur Verfügung stehen? Das Buch weiß Rat: Weil die Sache mit der Ewigkeit schon seit Ewigkeiten ein Problem ist, kann man einfach noch weiter zurückgehen, zu dem Stoiker Seneca etwa, der den Tod für die letzte Stufe eines lebenslangen Sterbens hielt, die Erfüllung eines guten Lebens, und der hier immer wieder lustig in den Text hineinlugt. Magalis Mutter, eine Lehrerin, übersetzt mit ihrem Oberstufenkurs nämlich wieder einmal "Vom glücklichen Leben" und kommt der Tochter allenthalben mit Seneca-Zitaten: "Wer immer aber klagt und jammert und seufzt ..." Die denkt freilich nicht dran, sich zu fügen: "Fuck you, Seneca! Irgendwann ist mal Schluss mit Klappehalten."
Sie und Kieran kommen dann von ganz alleine drauf, dass die wichtigste Frage gar nicht die nach dem Sterben ist. Das mache ihnen ja gerade jemand vor: "Es ist nicht so schlimm, wie man denkt. Es wird alles weniger, jeden Tag ein bisschen. Bis zuletzt nichts mehr übrig bleibt." Kindgerechter lässt sich Senecas Auffassung vom Tod nicht zusammenfassen. Doch bei der eigentlichen Frage - "Wir kennen aber niemanden, der uns zeigt, wie Leben geht" - ist der alte Tugendethiker, "seit fast 2000 Jahren tot", nicht mehr der richtige Ansprechpartner. Die Kinder wenden sich stattdessen per Mail an einen lebenden Philosophen, in diesem Fall an den realen Achim Engstler (Nikola Huppertz hat bereits für ein anderes Projekt mit ihm zusammengearbeitet), der auch tatsächlich antwortet, allerdings eine Philosophenantwort: Wer sterben könne, könne auch leben. Eine Sache des Wissens sei das gar nicht, sondern eine des Gefühls: "Tut man das, was für einen richtig ist, stimmt der ganze Körper zu."
Dass der Körper dem Geist zustimmen soll, ist das Gegenteil der christlichen Leibfeindlichkeit, in der es das schwache Fleisch zu überwinden galt; ein lange versperrter Weg zur Glückseligkeit, der wieder offen ist. Sie tun also das, was sich richtig anfühlt - in Bezug auf ihren Alltag, auf ihre Trauer, aber auch auf die Ehre, die sie Albert Krekeler erweisen möchten. Und tatsächlich: Das Vertiefen in das geradezu schöne Sterben des alten Herrn - auch wenn Magalis Mutter mit dem Morbiden daran hadert: "Irgendwann ist es genug!" - führt dazu, dass das Leben hier große Schritte nach vorn macht, die Gemeinschaft ebenso wächst wie das Selbstwertgefühl der Erzählerin. Und ungeküsst ist sie am Ende dieser zauberhaften und lebensklugen Geschichte auch nicht mehr.
Nikola Huppertz: "Fürs Leben zu lang."
Tulipan Verlag, München 2023. 200 S., geb., 16,- Euro. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Küssen kann helfen, Huskykraulen auch: Nikola Huppertz' kluger Roman "Fürs Leben zu lang" ist so stilsicher und amüsant wie anrührend und tröstlich.
Von Oliver Jungen
Von Oliver Jungen
Nicht nur die Shell Jugendstudie hat es belegt: Religion und Glaube werden für die junge Generation immer unwichtiger. Religiöse Feste mutieren im besten Falle zu familiären Ritualen. Weihnachten etwa hat Glück, Besinnlichkeit geht immer. Ostern ist schon schlechter dran. Auch in Nikola Huppertz' fabelhaftem Jugendroman "Fürs Leben zu lang" weiß die Heldin und Ich-Erzählerin, die dreizehnjährige Magali Weill, mit diesem "Kleinkind"-Fest wenig anzufangen. Missmutig bemalt sie mit ihren Eltern Ostereier und sucht in der Wohnung nach versteckten Geschenken, hält in ihrem Tagebuch aber fest: "Bereits letztes Jahr war das Ganze unfassbar peinlich, aber damals war wenigstens Malve da und hat zumindest so getan, als würde sie mitsuchen. Ein einzelnes Kind dazu zu nötigen, während das andere sich vollverweigert, sollte dagegen nicht mal meinen Eltern einfallen." Malve ist die achtzehnjährige, in den Augen der notorisch "ungeküssten" Heldin körperlich perfekte Schwester, die sich, statt für das Abitur zu lernen, lieber mit männlichen Bewunderern umgibt.
Magali wiederum ist eine ziemlich normale, hellwache, aber weitgehend unbemerkte Teenagerin, die in erster libidinöser Aufwallung den coolen Joël aus dem Hinterhaus anhimmelt und sich zu Recht von ihren vorgeblichen Schulfreundinnen übergangen fühlt. Weil sie ihr eigenes Leben für unbedeutend hält und sich selbst mit 1,82 Meter für viel zu "lang", um ansehnlich zu sein, widmet sie ihr Tagebuch dem Leben aller anderen in ihrem Umfeld. Das tut sie mit eleganter Eloquenz. Dass Nikola Huppertz dabei immer den richtigen, leicht schnodderigen, nie altklug wirkenden Ton trifft, selbst da, wo mit leichter Hand Bildungswissen in die Erzählung eingespeist wird (Rimbaud, Strawinsky, der Tiermaler Karl Uchermann), ist eine der großen Stärken dieses Buchs.
Magali hat sich einen neuen besten Freund gesucht: den vernachlässigten Husky einer kinderreichen Nachbarsfamilie: "Er ist nun mal kein anderer Mensch, der doofe Sachen über mich denken könnte." Vage angefreundet hat sie sich auch mit dem 98 Jahre alten, lebensfrohen Albert Krekeler, der sogar noch Zeitlupenjogging betreibt. Manchmal übt sie Klavier. Religion spielt für sie keine Rolle. Dass ihr damit ein probates Instrument zur Bewältigung der existenziellen Urangst vor dem Nichtsein fehlt, merkt sie erst, als der Tod an das Mietshaus anklopft. Er klopft allerdings freundlich und leise an. Dass Herr Krekeler angekündigt habe, "sein Tod stehe unmittelbar bevor", erfährt Magali wie nebenbei von dessen Enkel Kieran. Der ist auf Osterbesuch da, lebt aber eigentlich mit seinen Eltern in einer Wendland-Kommune, von wo er eine aufregende Distanzlosigkeit mitgebracht hat.
Magali zweifelt nicht an den Worten des weisen Alten. Er glaube eben, dass 98 Jahre "fürs Leben zu lang" seien. Doch wie geht man mit einem erwarteten Tod um, wenn Himmel und Auferstehung nicht mehr zur Verfügung stehen? Das Buch weiß Rat: Weil die Sache mit der Ewigkeit schon seit Ewigkeiten ein Problem ist, kann man einfach noch weiter zurückgehen, zu dem Stoiker Seneca etwa, der den Tod für die letzte Stufe eines lebenslangen Sterbens hielt, die Erfüllung eines guten Lebens, und der hier immer wieder lustig in den Text hineinlugt. Magalis Mutter, eine Lehrerin, übersetzt mit ihrem Oberstufenkurs nämlich wieder einmal "Vom glücklichen Leben" und kommt der Tochter allenthalben mit Seneca-Zitaten: "Wer immer aber klagt und jammert und seufzt ..." Die denkt freilich nicht dran, sich zu fügen: "Fuck you, Seneca! Irgendwann ist mal Schluss mit Klappehalten."
Sie und Kieran kommen dann von ganz alleine drauf, dass die wichtigste Frage gar nicht die nach dem Sterben ist. Das mache ihnen ja gerade jemand vor: "Es ist nicht so schlimm, wie man denkt. Es wird alles weniger, jeden Tag ein bisschen. Bis zuletzt nichts mehr übrig bleibt." Kindgerechter lässt sich Senecas Auffassung vom Tod nicht zusammenfassen. Doch bei der eigentlichen Frage - "Wir kennen aber niemanden, der uns zeigt, wie Leben geht" - ist der alte Tugendethiker, "seit fast 2000 Jahren tot", nicht mehr der richtige Ansprechpartner. Die Kinder wenden sich stattdessen per Mail an einen lebenden Philosophen, in diesem Fall an den realen Achim Engstler (Nikola Huppertz hat bereits für ein anderes Projekt mit ihm zusammengearbeitet), der auch tatsächlich antwortet, allerdings eine Philosophenantwort: Wer sterben könne, könne auch leben. Eine Sache des Wissens sei das gar nicht, sondern eine des Gefühls: "Tut man das, was für einen richtig ist, stimmt der ganze Körper zu."
Dass der Körper dem Geist zustimmen soll, ist das Gegenteil der christlichen Leibfeindlichkeit, in der es das schwache Fleisch zu überwinden galt; ein lange versperrter Weg zur Glückseligkeit, der wieder offen ist. Sie tun also das, was sich richtig anfühlt - in Bezug auf ihren Alltag, auf ihre Trauer, aber auch auf die Ehre, die sie Albert Krekeler erweisen möchten. Und tatsächlich: Das Vertiefen in das geradezu schöne Sterben des alten Herrn - auch wenn Magalis Mutter mit dem Morbiden daran hadert: "Irgendwann ist es genug!" - führt dazu, dass das Leben hier große Schritte nach vorn macht, die Gemeinschaft ebenso wächst wie das Selbstwertgefühl der Erzählerin. Und ungeküsst ist sie am Ende dieser zauberhaften und lebensklugen Geschichte auch nicht mehr.
Nikola Huppertz: "Fürs Leben zu lang."
Tulipan Verlag, München 2023. 200 S., geb., 16,- Euro. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Christine Knödler liest den Jugendroman von Nikola Huppertz mit Freude. Wie die Autorin über einen alten Mann erzählt, der sterben möchte, und über zwei Jugendliche, die dagegen sind, findet sie gelungen. Für sie ist das "erzählte Philosophie", weil Huppertz nicht nur die Beobachtungen der Teenager überzeugend darstellt, sondern auch philosophische, literarische und musikalische Perspektiven und allerhand Lebens- und Liebeskonzepte in die Geschichte aufnimmt, um Antworten auf den Tod zu geben und zu erklären: Kein Leben ohne Tod und umgekehrt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2024Peng, du bist tot
Zupackend, unerschrocken und ja, auch witzig: Zwei Bücher für junge Leser wagen sich an das schwere Thema Sterben.
Wenn eine Gesellschaft über etwas nicht offen sprechen will, entwickelt sie Euphemismen. Im Fall von Sterben und Tod ist das so. Da danken die Menschen ab und gehen von uns. Dass jeder irgendwann sterben muss, wird hinter hübschen Worthülsen versteckt. Das Verb „abkratzen“ hingegen ist keine Beschönigung und dass es in „Radieschen von unten“ trotzdem vorkommt, zeigt schon, dass dieses Kindersachbuch etwas Besonderes ist. Die bildliche Ebene ist explizit: Den Auftakt macht ein tänzelndes Skelett-Ballett, auf der Buchrückseite ist der Sensenmann zu sehen, er mäht das Leben ab. Umschreibungen wie diese nutzen die Autorin Katharina von der Gathen und die Illustratorin Anke Kuhl als Türöffner in ihr Thema. Von Anfang bis Ende wird hier ein besonderer Ton angeschlagen: unverblümt, angstfrei und durch und durch lebendig.
Zum Sachbuch-Konzept des bewährten Duos gehört, jedes noch so unangenehme Thema lustvoll anzupacken und Fragen zu stellen. Das hat sich hinsichtlich Sexualität und Körperbewusstsein bewährt („Klär mich auf“, 2014) – beim Tabuthema Tod wird es bahnbrechend: Warum muss man überhaupt sterben? Kann Sterben auch schön sein? Was passiert danach? Drum herumgeredet wird nicht. Auch die Struktur des Buchs schafft Klarheit: Die fünf Teile heißen „Wenn das Leben aufhört“, „Wie geht sterben?“ „Beerdigen“, „Trauern“, „Mit den Toten leben“.
Zu allen Themen eröffnet „Radieschen von unten“ ein Gespräch. In Interviews kommen Menschen zu Wort, für die der Tod zum Alltag gehört. Mutter und Tochter, beide Bestatterinnen, berichten von ihrer Arbeit. Auch Pfleger, Arzt, Friedhofsgärtner, Pfarrerin, Sterbe- und Trauerbegleiter geben Antwort. Eine Witze-Seite beschließt den jeweiligen Teil: „Was ist grün und liegt im Sarg? Eine Sterbse.“ Das hilft Trauerklößen wieder auf die Sprünge, als Bewältigungsstrategie hat der Humor selbst Tradition. Auch andere Bräuche und Rituale sind versammelt. Bei manchen wird ein Fenster geöffnet, damit die Seele aus dem Körper und aus dem Zimmer des oder der Toten fliegen kann. In alten Bauernhäusern gibt es noch eigene „Seelenfenster“ dafür. Das ist eine schöne Vorstellung, die bis heute nichts von ihrer Tröstlichkeit verloren hat.
Denn „Radieschen von unten“ vermittelt nicht nur Fakten – es holt das Sterben und den Tod ins Leben hinein. Dass Kulturen, Religionen, Gesellschaften unterschiedlich damit umgehen, zeigen verschiedene Bestattungsrituale, Urnen- und Sarg-Galerien bilden die Bandbreite der Geschmäcker und Vorstellungen ab, und „Eine typische Beerdigung“ macht vor, wie das Abschiednehmen hierzulande abläuft. Das klärt auf und wappnet. Es ermöglicht den eigenen bewussten Umgang mit dem Lebensende. Am Ende des Buchs steht eine Bastelanleitung für eine Schädelmaske und ein Papier-Särglein, und im allerletzten Bild spielen zwei Geschwister Beerdigung. „Nicht lachen!“, schnauzt die große Schwester, während die kleine, rotgesichtig, fast platzt vor unterdrücktem Kichern.
Das ist eine Reminiszenz an eines der berühmtesten Kinderbücher zum Thema Tod und Sterben: „Die besten Beerdigungen der Welt“ des schwedischen Autors Ulf Nilsson, illustriert von Eva Eriksson hat 2006 die Kinderliteratur aufgemischt. Die drückt sich zwar ohnehin nicht vor dem Thema – im Gegenteil: Bilder- und Kinderbücher über den Tod gibt es zuhauf. In „Ente, Tod und Tulpe“ zeigte Wolf Erlbruch den Tod 2007 als freundlichen Gesellen in Kittelschürze. Von Anfang an ist er dabei, begleitet durchs Leben und durchs Sterben. Bei Nilsson gründen drei Kinder an einem langweiligen Tag ein Beerdigungsinstitut. Sie beerdigen tote Tiere, mit Trauerzug, kleiner Grabrede, Tränen. Einmal beobachten sie, wie eine Amsel stirbt. Der Tod rückt näher, aber weil sie ja Kinder sind, spielen sie am nächsten Tag einfach wieder etwas anderes. Zwischen Geschäftsidee, Kinderspiel und Lebensweisheit überzeugen das Poetische, Kindgemäße, das Zupackende, Unerschrockene, Witzige. Im Sachbuch für Kinder haben Katharina von der Gathen und Anke Kuhl nun nachgezogen.
Auch in der Jugendliteratur sind Sterben und Tod kein Tabu. Fast scheint es manchmal, als sähen Schriftsteller und Schriftstellerinnen das Thema Lebensende als Garant für literarische Wucht. Aus der sogenannten „Sick Lit“, die Krankheit zum Ausgangspunkt ihres Erzählens macht, kommen seit Langem jedes Jahr unzählige Titel auf den Markt. Wenn Jugendliche an Krebs sterben, wenn eine Mutter plötzlich nicht mehr da ist, steigt, so die Annahme, die Relevanz einer Geschichte, wird sie der Beliebigkeit enthoben. Aber natürlich stimmt das längst nicht immer. Der Schritt zu Sensationslust und Voyeurismus ist oft nur klein.
Der Jugendroman „Fürs Leben zu lang“ von Nikola Huppertz ist ganz klar nicht nur nach dem Motto „Endlichkeit sells“ geschrieben. Die Doppeldeutigkeit des Titels ist Programm: Mit ihren 1,83 überragt die Hauptfigur Magali Weill schon mit 13 Jahren alle, Tendenz: wachsend. Auch deshalb, glaubt Magali, ist sie noch immer ungeküsst. Ihr eigenes Lebens findet Magali fad, darum führt sie Tagebuch über andere. Über ihre ältere Schwester, die nur tut, was sie will und mit der Mutter im Dauerclinch liegt, während der Vater lautstark schweigt. Über ihre Nachbarn, deren Husky Magalis bester Freund ist. Über Joel Hummel, von dem sie so gern geküsst würde.
Einer wird in diesen Beobachtungen immer wichtiger: Der elegante Herr Krekeler will mit seinen 98 Jahren sterben. Er findet, dass er lang genug gelebt und genug erlebt hat. Magali will das nicht. Sie ersinnt Strategien, Herrn Krekeler im Leben zu halten: Spaziergänge mit Hund, zusammen Musik machen, reden, zuhören, sich erinnern. Mit dem Enkel von Herrn Krekeler freundet Magali sich an, mit dem Tod nicht. Der Abschied fällt schwer. Als die Jugendlichen nicht mehr weiterwissen, schicken sie eine Mail an einen Philosophen. „So schwer ist das gar nicht“, schreibt der zurück. „Ich glaube, das will euch der alte Herr eigentlich zeigen. Sterben ist ja ein Teil des Lebens. Und wenn er euch zeigt, wie Sterben geht, zeigt er euch auch, wie Leben geht. (…) Hört einfach in euch hinein. Dann wird das schon.“
Und das wird es. Auch wenn die Seite nach Herrn Krekelers Tod erst einmal komplett schwarz bleibt. Das gilt es auszuhalten: kein Leben ohne Tod, kein Tod ohne Leben. Nikola Huppertz’ Roman ist nicht reißerisch, sondern aufrichtig, betrachtet das Lebensende aus vielen Perspektiven. Er ist erzählte Philosophie. Weil die Autorin einflicht, was ihr wichtig ist, kommen Gedichte von Rimbaud und Reden von Seneca vor, Magali und Herr Krekeler spielen vierhändig Strawinsky. Wer war das noch mal? Das wird en passant erklärt: Musik, Literatur, Kunst, Lebensentwürfe, Liebeskonzepte, Freundschaft – sie alle sind Antworten auf den Tod. Die wichtigste ist: Lebe.
CHRISTINE KNÖDLER
Katharina von der Gathen: Radieschen von unten. Das bunte Buch über den Tod für neugierige Kinder. Mit Illustrationen von Anke Kuhl.
Klett Kinderbuch, Leipzig 2023. 160 S., 22 Euro. Ab acht Jahren.
In „Radieschen von unten“ berichtet der
Krankenpfleger Karl
(oben rechts) von seiner Arbeit mit Sterbenden.
Jedes Kapitel des
Kindersachbuchs endet mit einer Seite voller Witze.
Illustrationen: Anke Kuhl/
Klett Kinderbuch
Nikola Huppertz:
Fürs Leben zu lang.
Tulipan Verlag,
München 2023.
200 S., 16 Euro.
Ab zwölf Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zupackend, unerschrocken und ja, auch witzig: Zwei Bücher für junge Leser wagen sich an das schwere Thema Sterben.
Wenn eine Gesellschaft über etwas nicht offen sprechen will, entwickelt sie Euphemismen. Im Fall von Sterben und Tod ist das so. Da danken die Menschen ab und gehen von uns. Dass jeder irgendwann sterben muss, wird hinter hübschen Worthülsen versteckt. Das Verb „abkratzen“ hingegen ist keine Beschönigung und dass es in „Radieschen von unten“ trotzdem vorkommt, zeigt schon, dass dieses Kindersachbuch etwas Besonderes ist. Die bildliche Ebene ist explizit: Den Auftakt macht ein tänzelndes Skelett-Ballett, auf der Buchrückseite ist der Sensenmann zu sehen, er mäht das Leben ab. Umschreibungen wie diese nutzen die Autorin Katharina von der Gathen und die Illustratorin Anke Kuhl als Türöffner in ihr Thema. Von Anfang bis Ende wird hier ein besonderer Ton angeschlagen: unverblümt, angstfrei und durch und durch lebendig.
Zum Sachbuch-Konzept des bewährten Duos gehört, jedes noch so unangenehme Thema lustvoll anzupacken und Fragen zu stellen. Das hat sich hinsichtlich Sexualität und Körperbewusstsein bewährt („Klär mich auf“, 2014) – beim Tabuthema Tod wird es bahnbrechend: Warum muss man überhaupt sterben? Kann Sterben auch schön sein? Was passiert danach? Drum herumgeredet wird nicht. Auch die Struktur des Buchs schafft Klarheit: Die fünf Teile heißen „Wenn das Leben aufhört“, „Wie geht sterben?“ „Beerdigen“, „Trauern“, „Mit den Toten leben“.
Zu allen Themen eröffnet „Radieschen von unten“ ein Gespräch. In Interviews kommen Menschen zu Wort, für die der Tod zum Alltag gehört. Mutter und Tochter, beide Bestatterinnen, berichten von ihrer Arbeit. Auch Pfleger, Arzt, Friedhofsgärtner, Pfarrerin, Sterbe- und Trauerbegleiter geben Antwort. Eine Witze-Seite beschließt den jeweiligen Teil: „Was ist grün und liegt im Sarg? Eine Sterbse.“ Das hilft Trauerklößen wieder auf die Sprünge, als Bewältigungsstrategie hat der Humor selbst Tradition. Auch andere Bräuche und Rituale sind versammelt. Bei manchen wird ein Fenster geöffnet, damit die Seele aus dem Körper und aus dem Zimmer des oder der Toten fliegen kann. In alten Bauernhäusern gibt es noch eigene „Seelenfenster“ dafür. Das ist eine schöne Vorstellung, die bis heute nichts von ihrer Tröstlichkeit verloren hat.
Denn „Radieschen von unten“ vermittelt nicht nur Fakten – es holt das Sterben und den Tod ins Leben hinein. Dass Kulturen, Religionen, Gesellschaften unterschiedlich damit umgehen, zeigen verschiedene Bestattungsrituale, Urnen- und Sarg-Galerien bilden die Bandbreite der Geschmäcker und Vorstellungen ab, und „Eine typische Beerdigung“ macht vor, wie das Abschiednehmen hierzulande abläuft. Das klärt auf und wappnet. Es ermöglicht den eigenen bewussten Umgang mit dem Lebensende. Am Ende des Buchs steht eine Bastelanleitung für eine Schädelmaske und ein Papier-Särglein, und im allerletzten Bild spielen zwei Geschwister Beerdigung. „Nicht lachen!“, schnauzt die große Schwester, während die kleine, rotgesichtig, fast platzt vor unterdrücktem Kichern.
Das ist eine Reminiszenz an eines der berühmtesten Kinderbücher zum Thema Tod und Sterben: „Die besten Beerdigungen der Welt“ des schwedischen Autors Ulf Nilsson, illustriert von Eva Eriksson hat 2006 die Kinderliteratur aufgemischt. Die drückt sich zwar ohnehin nicht vor dem Thema – im Gegenteil: Bilder- und Kinderbücher über den Tod gibt es zuhauf. In „Ente, Tod und Tulpe“ zeigte Wolf Erlbruch den Tod 2007 als freundlichen Gesellen in Kittelschürze. Von Anfang an ist er dabei, begleitet durchs Leben und durchs Sterben. Bei Nilsson gründen drei Kinder an einem langweiligen Tag ein Beerdigungsinstitut. Sie beerdigen tote Tiere, mit Trauerzug, kleiner Grabrede, Tränen. Einmal beobachten sie, wie eine Amsel stirbt. Der Tod rückt näher, aber weil sie ja Kinder sind, spielen sie am nächsten Tag einfach wieder etwas anderes. Zwischen Geschäftsidee, Kinderspiel und Lebensweisheit überzeugen das Poetische, Kindgemäße, das Zupackende, Unerschrockene, Witzige. Im Sachbuch für Kinder haben Katharina von der Gathen und Anke Kuhl nun nachgezogen.
Auch in der Jugendliteratur sind Sterben und Tod kein Tabu. Fast scheint es manchmal, als sähen Schriftsteller und Schriftstellerinnen das Thema Lebensende als Garant für literarische Wucht. Aus der sogenannten „Sick Lit“, die Krankheit zum Ausgangspunkt ihres Erzählens macht, kommen seit Langem jedes Jahr unzählige Titel auf den Markt. Wenn Jugendliche an Krebs sterben, wenn eine Mutter plötzlich nicht mehr da ist, steigt, so die Annahme, die Relevanz einer Geschichte, wird sie der Beliebigkeit enthoben. Aber natürlich stimmt das längst nicht immer. Der Schritt zu Sensationslust und Voyeurismus ist oft nur klein.
Der Jugendroman „Fürs Leben zu lang“ von Nikola Huppertz ist ganz klar nicht nur nach dem Motto „Endlichkeit sells“ geschrieben. Die Doppeldeutigkeit des Titels ist Programm: Mit ihren 1,83 überragt die Hauptfigur Magali Weill schon mit 13 Jahren alle, Tendenz: wachsend. Auch deshalb, glaubt Magali, ist sie noch immer ungeküsst. Ihr eigenes Lebens findet Magali fad, darum führt sie Tagebuch über andere. Über ihre ältere Schwester, die nur tut, was sie will und mit der Mutter im Dauerclinch liegt, während der Vater lautstark schweigt. Über ihre Nachbarn, deren Husky Magalis bester Freund ist. Über Joel Hummel, von dem sie so gern geküsst würde.
Einer wird in diesen Beobachtungen immer wichtiger: Der elegante Herr Krekeler will mit seinen 98 Jahren sterben. Er findet, dass er lang genug gelebt und genug erlebt hat. Magali will das nicht. Sie ersinnt Strategien, Herrn Krekeler im Leben zu halten: Spaziergänge mit Hund, zusammen Musik machen, reden, zuhören, sich erinnern. Mit dem Enkel von Herrn Krekeler freundet Magali sich an, mit dem Tod nicht. Der Abschied fällt schwer. Als die Jugendlichen nicht mehr weiterwissen, schicken sie eine Mail an einen Philosophen. „So schwer ist das gar nicht“, schreibt der zurück. „Ich glaube, das will euch der alte Herr eigentlich zeigen. Sterben ist ja ein Teil des Lebens. Und wenn er euch zeigt, wie Sterben geht, zeigt er euch auch, wie Leben geht. (…) Hört einfach in euch hinein. Dann wird das schon.“
Und das wird es. Auch wenn die Seite nach Herrn Krekelers Tod erst einmal komplett schwarz bleibt. Das gilt es auszuhalten: kein Leben ohne Tod, kein Tod ohne Leben. Nikola Huppertz’ Roman ist nicht reißerisch, sondern aufrichtig, betrachtet das Lebensende aus vielen Perspektiven. Er ist erzählte Philosophie. Weil die Autorin einflicht, was ihr wichtig ist, kommen Gedichte von Rimbaud und Reden von Seneca vor, Magali und Herr Krekeler spielen vierhändig Strawinsky. Wer war das noch mal? Das wird en passant erklärt: Musik, Literatur, Kunst, Lebensentwürfe, Liebeskonzepte, Freundschaft – sie alle sind Antworten auf den Tod. Die wichtigste ist: Lebe.
CHRISTINE KNÖDLER
Katharina von der Gathen: Radieschen von unten. Das bunte Buch über den Tod für neugierige Kinder. Mit Illustrationen von Anke Kuhl.
Klett Kinderbuch, Leipzig 2023. 160 S., 22 Euro. Ab acht Jahren.
In „Radieschen von unten“ berichtet der
Krankenpfleger Karl
(oben rechts) von seiner Arbeit mit Sterbenden.
Jedes Kapitel des
Kindersachbuchs endet mit einer Seite voller Witze.
Illustrationen: Anke Kuhl/
Klett Kinderbuch
Nikola Huppertz:
Fürs Leben zu lang.
Tulipan Verlag,
München 2023.
200 S., 16 Euro.
Ab zwölf Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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