Der neue Roman von Anke Stelling beschreibt das Leben der Berufstänzerin Nadja, die nach dem Ende ihrer Bühnenkarriere als Dozentin an einer Ballettschule arbeitet und dort ihre "Schäfchen" schindet. Nadja weiß nicht recht, wohin mit sich – trotz ihrer Beziehung und den aufwändigen Abendessen, die ihr Partner veranstaltet. Sie beschließt, erstmals nach vielen Jahren ihre Mutter zu besuchen, die sich seit seiner Geburt um Nadjas sechzehnjährigen Sohn Mario kümmert. Dieser definiert sich und kommuniziert wie seine Mutter ausschließlich über seinen Körper. Zwischen Mutter und Sohn entwickelt sich – zum Entsetzen der beobachtenden, nicht unmittelbar in die Geschichte involvierten Erzählerin – ein heftiges amouröses Verhältnis. Ein Verhältnis, das niemand sonst zur Kenntnis nehmen will. Mit "Fürsorge" hat Anke Stelling einen Roman verfasst, der die verstörende Einsamkeit in unserer Gesellschaft thematisiert und insbesondere auf das Verhältnis zwischen Müttern und Kindern eingeht, das uns nur aus Gewohnheit ganz einfach erscheint.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2017Atemholen vor der nächsten Katastrophe
Späte Mutterliebe: Anke Stelling blickt distanziert auf das Verhängnis zweier Muskelarbeiter
Zwei Bücher sind gerade von Anke Stelling erschienen, das Kinderbuch "Erna und die drei Wahrheiten" und der Roman "Fürsorge". Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Erna ist ein Mädchen aus einem Gemeinschaftswohnprojekt, das ein wenig an das hauptstadtbiedere Milieu erinnert, das Stelling in ihrem vorherigen Roman "Bodentiefe Fenster" porträtiert hat. Die Frage, was die Wahrheit ist, und warum es so viele Versionen davon gibt, treibt sie um. Und warum Erwachsene so oft an ihrer Wahrheit festhalten, obwohl doch jeder sieht, dass sie sich und anderen etwas vormachen, in Sachen Gemeinschaftswohnen etwa. Das ist schlau und lustig und liest sich munter.
"Fürsorge" ist ein ganz anderes Kaliber, denn dieses Buch ist auf vielen Ebenen unangenehm. Es handelt von Nadja, einer Tänzerin, die mit Mitte dreißig ihre Ballettkarriere aufgibt und seitdem an der Hochschule unterrichtet. Doch Nadja weiß nicht, wohin mit sich und ihrem Körper, der jahrzehntelang ihr Ausdrucksmittel war, dem applaudiert wurde und den sie strengen Diäten und Trainingsplänen unterzog. Nadjas Körper braucht neue Betätigung, denn für sie ist es nicht genug, dass er einfach nur ihren Kopf herumträgt, der Körper muss gefordert werden, auch wenn er schmerzt und Verschleißerscheinungen zeigt. Sie hat die Hüfte einer Siebzig- und den Hormonhaushalt einer Fünfzigjährigen, und sie erhält die Hauptfunktionen mit Tabletten aufrecht.
Ihr Freund Daniel, hauptberuflich eigentlich Komponist, ist mit seinem eigenen Körper beschäftigt, dem er regelmäßige Heroingaben zuführen muss. Ab und zu kommen Freunde zum Essen in die große Altbauwohnung mit den ausgesuchten Designobjekten, doch weder Nadja noch Daniel sind fähig zu Wärme und Freundschaft, sie sind über die Jahre hinweg abgestumpft, vielleicht waren sie es schon immer. In dieser Ausgangslage besinnt sich Nadja plötzlich auf ihre Familie. Und auf ihren Sohn Mario, den sie bei ihrer Mutter zurückließ, damit er ihrer Laufbahn nicht in die Quere kam. Bislang war sie nur als Telefonstimme in seinem Leben präsent, nun steht sie mit ihrem unterbeschäftigten Tänzerinnenkörper in der Plattenbauwohnung.
Auch Mario ist ein Muskelarbeiter, aufstrebender Fitnesstrainer, sechzehn Jahre alt und ausnehmend schön. Wie seine Mutter ernährt er sich längst nicht mehr normal, sondern von synthetischen Eiweißprodukten. Und wie sie ordnet er alles den Bedürfnissen seines Körpers unter. Diese beiden völlig dysfunktionalen Charaktere verstehen sich, und zwar auf der einzigen Ebene, die ihnen zur Verfügung steht - auf der körperlichen. Sie bewundern sich gegenseitig und beginnen, sich als Trainingspartner zu sehen in einer Disziplin, die bei beiden zu kurz kommt.
Man liest nicht gern, was da an Intimitäten im Jugendzimmer passiert, zwischen Hausaufgabenheft und Sporttasche. Es lässt einen nicht kalt, wie Nadja damit durchkommt, weil sie so aussieht, wie sie aussieht: groß, schön, blass, mit gepflegter Bluse, kupferrotem Haar und kerzengerader Haltung. "Wer Geld und Geschmack hat", so die Erzählerin des Buches, "kann sich alles erlauben." Niemand verdächtigt Nadja, ein inzestuöses Doppelleben zu führen, nicht die Mutter und nicht die Menschen auf der Straße.
Das alles hätte erzählerisch furchtbar schiefgehen können. Geht es aber nicht, weil Stelling sich stets in Ton und Blick zurückhält. Die Geschichte der Mutter-Sohn-Affäre ist aus der Perspektive von Gesche erzählt, einer entfernten Freundin von Nadja und Daniel, die eigentlich nicht all das wissen kann, von dem sie da berichtet, das stört aber überhaupt nicht. Im Gegenteil, es schafft eine Distanz, die einem die Angelegenheit erleichtert und der Schilderung Raum gibt.
Die Erzählerin muss häufig innehalten, bevor sie die nächste Ungeheuerlichkeit zu Protokoll gibt, erlaubt sich Atempausen und macht sich ihre Gedanken zum Thema Muttersein, denn damit kennt sie sich aus. Ein untrainierter, "schlaffer Haufen" in festen Verhältnissen mit treuem Ehegatten und dem dritten Kind im Bauch. Eine Frau aus Stellings "Bodentiefe Fenster"-Milieu, die akribisch aufzeichnet, dass andere Lebensmodelle noch unbefriedigender sind als ihres. Sie könnte sich auch rechtschaffen empören, dennoch bemüht sie sich um einen neutralen Blick. Man muss den Protagonisten nicht immer in die Köpfe schauen, manchmal reicht es, sie zu beobachten. Das, was man sieht, ist verstörend genug.
ANDREA DIENER
Anke Stelling: "Erna und die drei Wahrheiten".
cbt, München 2017. 240 S., geb., 12,99 [Euro].
Anke Stelling: "Fürsorge". Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2017. 176 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Späte Mutterliebe: Anke Stelling blickt distanziert auf das Verhängnis zweier Muskelarbeiter
Zwei Bücher sind gerade von Anke Stelling erschienen, das Kinderbuch "Erna und die drei Wahrheiten" und der Roman "Fürsorge". Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Erna ist ein Mädchen aus einem Gemeinschaftswohnprojekt, das ein wenig an das hauptstadtbiedere Milieu erinnert, das Stelling in ihrem vorherigen Roman "Bodentiefe Fenster" porträtiert hat. Die Frage, was die Wahrheit ist, und warum es so viele Versionen davon gibt, treibt sie um. Und warum Erwachsene so oft an ihrer Wahrheit festhalten, obwohl doch jeder sieht, dass sie sich und anderen etwas vormachen, in Sachen Gemeinschaftswohnen etwa. Das ist schlau und lustig und liest sich munter.
"Fürsorge" ist ein ganz anderes Kaliber, denn dieses Buch ist auf vielen Ebenen unangenehm. Es handelt von Nadja, einer Tänzerin, die mit Mitte dreißig ihre Ballettkarriere aufgibt und seitdem an der Hochschule unterrichtet. Doch Nadja weiß nicht, wohin mit sich und ihrem Körper, der jahrzehntelang ihr Ausdrucksmittel war, dem applaudiert wurde und den sie strengen Diäten und Trainingsplänen unterzog. Nadjas Körper braucht neue Betätigung, denn für sie ist es nicht genug, dass er einfach nur ihren Kopf herumträgt, der Körper muss gefordert werden, auch wenn er schmerzt und Verschleißerscheinungen zeigt. Sie hat die Hüfte einer Siebzig- und den Hormonhaushalt einer Fünfzigjährigen, und sie erhält die Hauptfunktionen mit Tabletten aufrecht.
Ihr Freund Daniel, hauptberuflich eigentlich Komponist, ist mit seinem eigenen Körper beschäftigt, dem er regelmäßige Heroingaben zuführen muss. Ab und zu kommen Freunde zum Essen in die große Altbauwohnung mit den ausgesuchten Designobjekten, doch weder Nadja noch Daniel sind fähig zu Wärme und Freundschaft, sie sind über die Jahre hinweg abgestumpft, vielleicht waren sie es schon immer. In dieser Ausgangslage besinnt sich Nadja plötzlich auf ihre Familie. Und auf ihren Sohn Mario, den sie bei ihrer Mutter zurückließ, damit er ihrer Laufbahn nicht in die Quere kam. Bislang war sie nur als Telefonstimme in seinem Leben präsent, nun steht sie mit ihrem unterbeschäftigten Tänzerinnenkörper in der Plattenbauwohnung.
Auch Mario ist ein Muskelarbeiter, aufstrebender Fitnesstrainer, sechzehn Jahre alt und ausnehmend schön. Wie seine Mutter ernährt er sich längst nicht mehr normal, sondern von synthetischen Eiweißprodukten. Und wie sie ordnet er alles den Bedürfnissen seines Körpers unter. Diese beiden völlig dysfunktionalen Charaktere verstehen sich, und zwar auf der einzigen Ebene, die ihnen zur Verfügung steht - auf der körperlichen. Sie bewundern sich gegenseitig und beginnen, sich als Trainingspartner zu sehen in einer Disziplin, die bei beiden zu kurz kommt.
Man liest nicht gern, was da an Intimitäten im Jugendzimmer passiert, zwischen Hausaufgabenheft und Sporttasche. Es lässt einen nicht kalt, wie Nadja damit durchkommt, weil sie so aussieht, wie sie aussieht: groß, schön, blass, mit gepflegter Bluse, kupferrotem Haar und kerzengerader Haltung. "Wer Geld und Geschmack hat", so die Erzählerin des Buches, "kann sich alles erlauben." Niemand verdächtigt Nadja, ein inzestuöses Doppelleben zu führen, nicht die Mutter und nicht die Menschen auf der Straße.
Das alles hätte erzählerisch furchtbar schiefgehen können. Geht es aber nicht, weil Stelling sich stets in Ton und Blick zurückhält. Die Geschichte der Mutter-Sohn-Affäre ist aus der Perspektive von Gesche erzählt, einer entfernten Freundin von Nadja und Daniel, die eigentlich nicht all das wissen kann, von dem sie da berichtet, das stört aber überhaupt nicht. Im Gegenteil, es schafft eine Distanz, die einem die Angelegenheit erleichtert und der Schilderung Raum gibt.
Die Erzählerin muss häufig innehalten, bevor sie die nächste Ungeheuerlichkeit zu Protokoll gibt, erlaubt sich Atempausen und macht sich ihre Gedanken zum Thema Muttersein, denn damit kennt sie sich aus. Ein untrainierter, "schlaffer Haufen" in festen Verhältnissen mit treuem Ehegatten und dem dritten Kind im Bauch. Eine Frau aus Stellings "Bodentiefe Fenster"-Milieu, die akribisch aufzeichnet, dass andere Lebensmodelle noch unbefriedigender sind als ihres. Sie könnte sich auch rechtschaffen empören, dennoch bemüht sie sich um einen neutralen Blick. Man muss den Protagonisten nicht immer in die Köpfe schauen, manchmal reicht es, sie zu beobachten. Das, was man sieht, ist verstörend genug.
ANDREA DIENER
Anke Stelling: "Erna und die drei Wahrheiten".
cbt, München 2017. 240 S., geb., 12,99 [Euro].
Anke Stelling: "Fürsorge". Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2017. 176 S., geb., 19,- [Euro].
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