"Sie sind und bleiben ein Junge, der Geschichten erzählen will" - so ist Henry, die Hauptfigur in Siegfried Lenz' lang erwartetem neuen Roman. Und in einem Fundbüro lauern Geschichten schließlich überall. Henry Neff verspürt trotz seiner jugendlichen vierundzwanzig Jahre keine Lust, auf der Karriereleiter nach oben zu kommen. Attraktive Angebote schlägt er aus und sucht stattdessen Unterschlupf im Fundbüro eines Hauptbahnhofs. "Mir genügt's, da zu bleiben, wo ich bin", ist sein Motto, und schon bald gewinnt er Gefallen an seinem neuen Arbeitsplatz, der reich an Kuriositäten und absonderlichen Vorkommnissen ist. Jeder Tag beschert ihm Begegnungen mit Menschen, die die unglaublichsten Dinge verlieren und liegen lassen. Mal vermisst ein Messerwerfer sein Handwerkszeug, mal tauchen im Zug zurückgelassene Liegestühle auf, und ein andermal wendet sich eine Schauspielerin hilfesuchend an Henry, weil sie ihr Textbuch nicht mehr findet. Um den "Besitznachweis" zu führen, fordert Henry sie mit dem ihm eigenen Charme auf, Passagen aus dem Theaterstück im Fundbüro zu rezitieren. Siegfried Lenz' warmherziger Humor lässt die farbige Szenerie eines unvergleichlichen Schauplatzes vor die Leser treten - grundiert von einer zarten Symbolik des Verlierens und (Wieder-) Findens. Als Henrys Freund, der baschkirische Mathematiker Fedor Lagutin, dann aber von skrupellosen Gewalttätern bedroht wird und die Reformen der Bundesbahn den Arbeitsplatz eines Kollegen gefährden, muss Henry einsehen, dass sein Fundbüro keine Oase der Seligen ist. Er ergreift Partei und erkennt, dass das Leben mitunter dazu zwingt, sich einzumischen. "Fundbüro" ist ein einnehmender, wunderbar erzählter Roman voll menschlicher Anteilnahme und liebenswertem Witz.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2003Bienenstich in mondbeglänzter Steppe
Dies ist der Aufstand der Anständigen: Der hochmoralische Roman „Fundbüro” von Siegfried Lenz
Rührend. „Fundbüro”, der neue Roman von Siegfried Lenz, führt uns in ein irgendwie heutiges, eher aber neben als in der Gegenwart liegendes Deutschland. „Farbe hatte das Haus nötig”, heißt es einmal, „in dem doppelstöckigen, nebelgrauen Gebäude war ein Lokal, dessen Aushang für Sauerfleisch und Bratkartoffeln warb; als sie das Fenster passierten, wurde die Gardine zur Seite geworfen, und eine Hand klopfte gegen die Scheibe und winkte...” Wenn es auf dieser Bühne etwas zu feiern gibt, wird Bienenstich aufgetragen; Polizeifahrzeuge heißen „Peterwagen”, und telefoniert wird nicht mit dem Mobiltelefon, sondern in der nächsten Zelle. Noch zahlt man mit der deutschen Mark, aber lang kann die Geschichte nicht her sein, die Lenz erzählt, denn ein Radiosprecher vermeldet: „Die Lenker europäischer Staaten hatten sich in Genf versammelt, um über eine Osterweiterung der EU zu beraten.”
Poetisch wie ein Dachboden
Große Bahnhöfe haben Fundbüros, als Stätten von Schicksalsverkettungen ideale Schauplätze für altmodisch-solides Erzählhandwerk. Im „Fundbüro” von Lenz erwartet den Leser eine gegenwärtige Vergangenheit, handgeschriebene Formulare statt Computer, in langen Dienstjahren ergraute, freundlich-gelassene Beamte, die über ein Zauberreich von Verlustobjekten aller Art – vom Schlüsselbund bis zum Riesenliegestuhl – gebieten, und die längst aufgehört haben, sich über irgend etwas zu wundern. Poetisch wie ein alter Dachboden ist dieser Kosmos des in Zügen und auf Bahnsteigen Liegengebliebenen.
Der rechte Ort also für Henry Neff, den Helden des Buches, eine der seit neuestem in der deutschen Literatur wieder so populären Taugenichtsgestalten. Dem Vierundzwanzigjährigen ist wichtig, „dass ich mich wohl fühle bei der Arbeit und dass man mich zufrieden lässt, verschont von allem Gerenne und Getöse.” Sorge und Eile verderben das Dasein, sagte vor über hundert Jahren Jacob Burckhardt – Henry Neff will wieder nach dieser Devise leben. Das Fundbüro hat er sich als Arbeitsplatz ausgesucht, weil es seine Fantasie anregt – wer hier alles auftaucht! –, und weil es seinem natürlichen Drang zur Freundlichkeit und zum Schalk entgegenkommt.
Eine Schauspielerin hat ihr Textbuch verloren? Dann soll sie sich als legitime Besitzerin beweisen, indem sie eine Szene vorspielt. Ein Artist vergaß sein Messerset – also muss er nach Henry werfen, der sich starr vor eine Türe stellt. Ein kleines Mädchen spielt sehr überzeugend auf ihrer liegengebliebenen Flöte. Die Bearbeitungsgebühr von 30 Mark wird gern erlassen, überhaupt ist das Fundbüro auch eine Stätte der Seelsorge: Wer seinen Verlobungsring verlegt hat, braucht nicht nur Hilfe beim Ausfüllen des Suchantrags, sondern vor allem Trost. Wäre die Sprache von Lenz nicht so wasserklar und unaufdringlich, man könnte glauben, man sei in ein Buch von Wilhelm Raabe gestolpert.
Dass die Bundesbahn längst eine Horrorwelt von „Service-Points” und „Snackerias” geworden ist, bleibt schonend verborgen; kein einziges quietschgelbes Wort verunziert diese Prosa, bloß die „Umstrukturierung” lagert wie fernes Donnergrollen am Horizont. Die Bahn muss Stellen abbauen, und der Leser ahnt rasch, dass der Zwang zur Einsparung auch nicht vor dem Schiebefenster des Fundbüroschalters halt machen wird. Vorerst lernen wir andere Probleme der Jetztzeit kennen: Im Bauch einer Spielzeugpuppe findet sich verstecktes Geld – Drogenhandel? Ein sarmatischer Mathematiker – Universität Sarátow – hat seine Felltasche liegengelassen, gottseidank bekommt Henry schnell heraus, dass der Fremde in einem nahegelegenen Hotel abgestiegen ist.
Doktor Fedor Lagutin spricht ein noch altmodischeres Deutsch, als es der Roman ohnehin schon kultiviert. Denn bei ihm zu Hause gibt es einen deutschen Club, „und wenn einige eurer Schriftsteller – solche, die in unserem Herzen wohnen – Geburtstag haben, denken wir an sie und feiern sie mit Lesungen und mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen”. „Sagenhaft”, sagt Henry dazu, „das finde ich einfach sagenhaft.” Kein Wunder, dass Fedor und Henry Herzenfreunde werden und dass Henrys Schwester bald in stummer Liebe zu dem edlen und hochkultivierten Steppenmenschen entbrennt.
Böse wie ein Märchenwald
Mit ihm bekommt die Geschichte historische und menschliche Tiefe. Fedor stammt aus einer Kultur uralter Gastfreundschaft. In der norddeutschen Stadt aber, in der Henry lebt und deren Universität den Doktor eingeladen hat, treibt eine ausländerfeindliche Motorradbande ihr Unwesen. Auf den öden Asphaltflächen der Hochhaussiedlung, in der Henry wohnt, jagen sie einen farbigen Briefträger und verletzen auch den sarmatischen Gast. Keine Gewalt!, ist eigentlich Henrys Lebensdevise, aber im Lauf der Erzählung muss er lernen, dass sie nicht ausreicht.
Siegfried Lenz schafft es, seinen halbrealistischen Märchenton bis zum Schluss durchzuhalten; gleichzeitig gelingt ihm ein Traumbild vom Aufstand der Anständigen, das den guten Schluss doch vermeidet. Der gutmütige Henry will seinen Arbeitsplatz für einen älteren Kollegen, der in den Vorruhestand gedrängt wird, räumen – vergebens, ein Schlaganfall kommt ihm zuvor. Und gegen die Motorradbande wehrt er sich, indem er den schwarzen Briefträger heldenmütig verteidigt. Doch Fedors überstürzte Abreise zurück nach Sarmatien kann er nicht verhindern. Der freundliche Mathematiker wurde auf einer Universitätsfete beleidigt – das ist schlimmer als die Wunden, die ihm die Motorradfahrer beigebracht haben. „Den Pfeil, der dich trifft, kannst du herausreißen, Worte aber bleiben stecken für immer”, weiß ein sarmatischer Sinnspruch.
Der Roman „Fundbüro” spielt auf die Gegenwart nur an. Das hier entworfene Deutschland ist farbloser, freundlicher und altmodischer als das wirkliche: viel schöner, weil grauer und wärmer. Zugleich ist es böse und gefahrvoll wie ein Märchenwald. Immer wird es böse Menschen geben, sagt uns dieses milde Buch, deshalb muss man sich entscheiden. Trotzdem dürfen wir unser Land liebhaben so wie der Sarmate seine mondbeglänzte Steppe – wenn wir darüber nur die Nächstenliebe nicht vergessen.
GUSTAV SEIBT
SIEGFRIED LENZ: Fundbüro. Roman. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003. 336 Seiten, 21,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Dies ist der Aufstand der Anständigen: Der hochmoralische Roman „Fundbüro” von Siegfried Lenz
Rührend. „Fundbüro”, der neue Roman von Siegfried Lenz, führt uns in ein irgendwie heutiges, eher aber neben als in der Gegenwart liegendes Deutschland. „Farbe hatte das Haus nötig”, heißt es einmal, „in dem doppelstöckigen, nebelgrauen Gebäude war ein Lokal, dessen Aushang für Sauerfleisch und Bratkartoffeln warb; als sie das Fenster passierten, wurde die Gardine zur Seite geworfen, und eine Hand klopfte gegen die Scheibe und winkte...” Wenn es auf dieser Bühne etwas zu feiern gibt, wird Bienenstich aufgetragen; Polizeifahrzeuge heißen „Peterwagen”, und telefoniert wird nicht mit dem Mobiltelefon, sondern in der nächsten Zelle. Noch zahlt man mit der deutschen Mark, aber lang kann die Geschichte nicht her sein, die Lenz erzählt, denn ein Radiosprecher vermeldet: „Die Lenker europäischer Staaten hatten sich in Genf versammelt, um über eine Osterweiterung der EU zu beraten.”
Poetisch wie ein Dachboden
Große Bahnhöfe haben Fundbüros, als Stätten von Schicksalsverkettungen ideale Schauplätze für altmodisch-solides Erzählhandwerk. Im „Fundbüro” von Lenz erwartet den Leser eine gegenwärtige Vergangenheit, handgeschriebene Formulare statt Computer, in langen Dienstjahren ergraute, freundlich-gelassene Beamte, die über ein Zauberreich von Verlustobjekten aller Art – vom Schlüsselbund bis zum Riesenliegestuhl – gebieten, und die längst aufgehört haben, sich über irgend etwas zu wundern. Poetisch wie ein alter Dachboden ist dieser Kosmos des in Zügen und auf Bahnsteigen Liegengebliebenen.
Der rechte Ort also für Henry Neff, den Helden des Buches, eine der seit neuestem in der deutschen Literatur wieder so populären Taugenichtsgestalten. Dem Vierundzwanzigjährigen ist wichtig, „dass ich mich wohl fühle bei der Arbeit und dass man mich zufrieden lässt, verschont von allem Gerenne und Getöse.” Sorge und Eile verderben das Dasein, sagte vor über hundert Jahren Jacob Burckhardt – Henry Neff will wieder nach dieser Devise leben. Das Fundbüro hat er sich als Arbeitsplatz ausgesucht, weil es seine Fantasie anregt – wer hier alles auftaucht! –, und weil es seinem natürlichen Drang zur Freundlichkeit und zum Schalk entgegenkommt.
Eine Schauspielerin hat ihr Textbuch verloren? Dann soll sie sich als legitime Besitzerin beweisen, indem sie eine Szene vorspielt. Ein Artist vergaß sein Messerset – also muss er nach Henry werfen, der sich starr vor eine Türe stellt. Ein kleines Mädchen spielt sehr überzeugend auf ihrer liegengebliebenen Flöte. Die Bearbeitungsgebühr von 30 Mark wird gern erlassen, überhaupt ist das Fundbüro auch eine Stätte der Seelsorge: Wer seinen Verlobungsring verlegt hat, braucht nicht nur Hilfe beim Ausfüllen des Suchantrags, sondern vor allem Trost. Wäre die Sprache von Lenz nicht so wasserklar und unaufdringlich, man könnte glauben, man sei in ein Buch von Wilhelm Raabe gestolpert.
Dass die Bundesbahn längst eine Horrorwelt von „Service-Points” und „Snackerias” geworden ist, bleibt schonend verborgen; kein einziges quietschgelbes Wort verunziert diese Prosa, bloß die „Umstrukturierung” lagert wie fernes Donnergrollen am Horizont. Die Bahn muss Stellen abbauen, und der Leser ahnt rasch, dass der Zwang zur Einsparung auch nicht vor dem Schiebefenster des Fundbüroschalters halt machen wird. Vorerst lernen wir andere Probleme der Jetztzeit kennen: Im Bauch einer Spielzeugpuppe findet sich verstecktes Geld – Drogenhandel? Ein sarmatischer Mathematiker – Universität Sarátow – hat seine Felltasche liegengelassen, gottseidank bekommt Henry schnell heraus, dass der Fremde in einem nahegelegenen Hotel abgestiegen ist.
Doktor Fedor Lagutin spricht ein noch altmodischeres Deutsch, als es der Roman ohnehin schon kultiviert. Denn bei ihm zu Hause gibt es einen deutschen Club, „und wenn einige eurer Schriftsteller – solche, die in unserem Herzen wohnen – Geburtstag haben, denken wir an sie und feiern sie mit Lesungen und mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen”. „Sagenhaft”, sagt Henry dazu, „das finde ich einfach sagenhaft.” Kein Wunder, dass Fedor und Henry Herzenfreunde werden und dass Henrys Schwester bald in stummer Liebe zu dem edlen und hochkultivierten Steppenmenschen entbrennt.
Böse wie ein Märchenwald
Mit ihm bekommt die Geschichte historische und menschliche Tiefe. Fedor stammt aus einer Kultur uralter Gastfreundschaft. In der norddeutschen Stadt aber, in der Henry lebt und deren Universität den Doktor eingeladen hat, treibt eine ausländerfeindliche Motorradbande ihr Unwesen. Auf den öden Asphaltflächen der Hochhaussiedlung, in der Henry wohnt, jagen sie einen farbigen Briefträger und verletzen auch den sarmatischen Gast. Keine Gewalt!, ist eigentlich Henrys Lebensdevise, aber im Lauf der Erzählung muss er lernen, dass sie nicht ausreicht.
Siegfried Lenz schafft es, seinen halbrealistischen Märchenton bis zum Schluss durchzuhalten; gleichzeitig gelingt ihm ein Traumbild vom Aufstand der Anständigen, das den guten Schluss doch vermeidet. Der gutmütige Henry will seinen Arbeitsplatz für einen älteren Kollegen, der in den Vorruhestand gedrängt wird, räumen – vergebens, ein Schlaganfall kommt ihm zuvor. Und gegen die Motorradbande wehrt er sich, indem er den schwarzen Briefträger heldenmütig verteidigt. Doch Fedors überstürzte Abreise zurück nach Sarmatien kann er nicht verhindern. Der freundliche Mathematiker wurde auf einer Universitätsfete beleidigt – das ist schlimmer als die Wunden, die ihm die Motorradfahrer beigebracht haben. „Den Pfeil, der dich trifft, kannst du herausreißen, Worte aber bleiben stecken für immer”, weiß ein sarmatischer Sinnspruch.
Der Roman „Fundbüro” spielt auf die Gegenwart nur an. Das hier entworfene Deutschland ist farbloser, freundlicher und altmodischer als das wirkliche: viel schöner, weil grauer und wärmer. Zugleich ist es böse und gefahrvoll wie ein Märchenwald. Immer wird es böse Menschen geben, sagt uns dieses milde Buch, deshalb muss man sich entscheiden. Trotzdem dürfen wir unser Land liebhaben so wie der Sarmate seine mondbeglänzte Steppe – wenn wir darüber nur die Nächstenliebe nicht vergessen.
GUSTAV SEIBT
SIEGFRIED LENZ: Fundbüro. Roman. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003. 336 Seiten, 21,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2003Es läuft ja doch immer alles auf eine allgemeine Katastrophe zu
Manchmal sind Pfeile besser als Worte: In seinem Roman "Fundbüro" zeigt sich Siegfried Lenz auf der Höhe seiner Kunst - und verliert sich in Augenblicken forcierter Besinnlichkeit
Seit vielen Jahren erfreut und ermahnt Siegfried Lenz die Republik, die politische wie die literarische. Er vereinigt Fabulierkunst und strategische Arrangements. Einfallsreich schickt er seine Figuren in die Gegenwart, läßt sie leiden und erkunden. Das Ergebnis kann nicht immer erfreulich sein, aber Lenz verwandelt ihre traurigsten Bilanzen in spannende Erzählung, und so findet dieser Autor, der sich mit "Deutschstunde" (1968) und "Heimatmuseum" (1978) in die vorderste Reihe der deutschen Schriftsteller geschrieben hat, immer sein dankbares Publikum. Er schreibt politisch-moralistische Parabeln mit realistischem Dekor, fernab aller formalistischen Experimente. Er weiß, wie man ein schwer belehrbares Volk erzieht. Streng und genau blickt er in unsere Gegenwart.
In seinem neuen Buch, dem in dieser Zeitung vorabgedruckten Roman "Fundbüro", kommen fast alle Probleme vor, die wir haben: die Ost-Erweiterung der EU und die Zweifel am ständigen Wachstum, die Vernachlässigung der Alten und der Personalabbau bei der Bundesbahn, die Rolle der Museen und die Kriminalität von Motorradbanden. Der junge Henry betritt distanziert die Bühne des Lebens, und weil wir es selbst nicht merken würden, sagt uns der Autor gleich am Anfang, daß es riskant wäre, Henrys Wort zu vertrauen, "weil er fast alles in Frage stellte und kaum etwas wichtig nahm". Also eine Art Felix Krull, nur etwas weniger glücklich und gar nicht optimistisch - "es läuft ja doch auf eine allgemeine Katastrophe zu" -, aber genauso quicklebendig, locker nehmend und interessiert; ein junger Mann, der aus dem Staunen nicht herauskommt. Kurz, der richtige Kundschafter in den Irrsalen der deutschen Großstadtwirrnis. Der junge Herr will nicht Karriere machen; er ist im moderatesten Sinne des Wortes ein Aussteiger oder doch einer, der sich nicht festlegen und nicht aufsteigen will.
Er liebt die Verlierer, und da es sein Urheber mit dem Wort nicht gar zu genau nimmt, läßt der Autor ihn eine Stelle annehmen beim Fundbüro der Bundesbahn. Dorthin kommen, heißt es, die Verlierer von selbst. Nun nennt sich zwar niemand, der den Verlust seiner Blockflöte oder auch seiner Brieftasche zu bedauern hat, deswegen im heutigen Deutsch einen "Verlierer", aber der Dichter schickt seinen Henry auf dem schmalen Pfad dieser erfundenen Mehrdeutigkeit ins Fundbüro. Dort tritt er in freundschaftliche Beziehung zu seinen von der Rationalisierung bedrohten Kollegen; dort lernt er Paula kennen, der er den Hof macht, ohne rechten Erfolg, aber das ist keine Tragödie für ihn, schließlich rühmt er sich, kein Ziel zu haben. Er schließt Freundschaft mit Fedor, einem russischen, genaugenommen: einem baschkirischen Nachwuchswissenschaftler, der in Hamburg an einem Forschungsprogramm der Technischen Universität mitarbeitet, der auf dem Bahngelände seine asiatische Felltasche verloren hatte. Fedor kommt aus einer älteren, fernen und ländlichen Welt; er spricht gut Deutsch, aber sein Deutschlehrer hatte über Schiller gearbeitet und ihm das Deutsch Schillers und Hölderlins beigebracht. Es klingt "so entlegen und außer Kurs", daß Henry daran seine Freude hat. Fedor nun ist der sensible, intelligente Beobachter deutscher Lebensverhältnisse vor der Einführung des Euro; er spricht etwas erhaben-altmodisch, beobachtet aber genau - und reist, beleidigt von einer fremdenfeindlichen Bemerkung beim Universitätsfest, wortlos vorzeitig ab, obwohl ihn die Arbeit der deutschen Forschungsgruppe interessiert. Henry, der teilnimmt an Fedors Erfahrungen, beschließt, im Fundbüro weiterzuarbeiten, er verzichtet auf eine Beförderung, die man ihm anbietet.
Dies ist die Fabel des Buches, das mit raschen Handlungsumschwüngen und realistischen Einlagen fesselt; es ist ein dramatisches, ein gut erzähltes Buch, so richtig geschaffen für den Normalfall, daß man auf dem Bahnsteig, oder für den seltenen Fall, daß man vorm Fundbüro warten muß. Niemand wird gering sprechen von dieser deutschen Gewissenserforschung. Im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts ließen Schriftsteller die Reisenden aus Persien kommen, damit sie sich über das Exotische in Frankreich mokierten, heute wundern sich die Baschkiren. Sie bezeugen: Die Welt Hölderlins ist nicht mehr da.
Dagegen kann man schwerlich etwas vorbringen, höchstens, daß Hölderlin geklagt hat, die Deutschen seien engstirnig und verbissen-egoistisch: "Handwerker siehst du, aber keine Menschen." Nein, das war es nicht, was mir das Lesen trotz der hervorragenden Dramaturgie zunehmend erschwert hat. Es war das Papierene, das Lehrhafte dieser Figuren. Ich sage nicht einmal, ihnen fehle die psychologische Vertiefung; ihnen fehlt das Leben. Henry und Fedor insbesondere sind Demonstrationsfiguren, Statisten von Sprechblasen mit tieferer Bedeutung. Henry macht zwar eine Entwicklung durch - vom neugierigen Zuschauer zum entschiedenen Helfer. Aber auch das kommt mit parabelhafter Überdeutlichkeit heraus. In jeweils raffiniert kalkulierten Situationen halten die Personen dieses Romans ein Plakat hoch und geben eine Sentenz von sich, gerne die abstrakte Charakteristik einer anderen Person oder noch lieber eine politisch-moralische Maxime. Nehmen wir ein Beispiel: Fedor verläßt die Stadt wortlos. Aber er hinterläßt einen Brief mit wenigen erklärenden Worten, und damit wir wissen, worauf es ankommt, nennt Henrys Schwester Barbara ihrem Bruder den Satz, auf den es ankommt: "Der sagt alles." Henry liest dann: "Den Pfeil, der dich trifft, kannst du herausreißen, Worte aber bleiben stecken für immer." Jetzt wissen wir, wie tief fremdenfeindliche Stichwörter verletzen können, und Fedor, der uns das exemplifiziert hat, kann in seinen asiatischen Zelten verschwinden. Die Pfeile, die dort eventuell verschossen werden, kann man ja herausziehen. Für die Handlung hat er seine Schuldigkeit getan; er kann gehen.
Daß Lenz seinen Fedor in der Sprache der Herder-Zeit reden läßt, war ein glänzender Regieeinfall. Aus dem Osten, den viele mit offener oder heimlicher Überheblichkeit sehen, bringt Fedor eine humane Form in den deutschen Westen, die dort einmal, wenn nicht heimisch, so doch möglich und geschätzt war. Sein zart-melancholischer Ton macht die laufende Barbarisierung nur um so fühlbarer. Das Ruhige, Besonnene dieser Diktion ist verloren; Kommandoton und technisch verkürzte Signalsprache ersticken die altmodische Sorgfalt der Begründung, die Nuancierung der Beschreibung und Feinheiten des Empfindens. Dieser Kontrast legt einen Hauch poetischen Zaubers über diesen Roman und hebt ihn über bloß spannende Gebrauchsliteratur hinaus. Aber der Autor selbst mindert den Wert seiner Erfindung, indem er als Erzähler selbst in diese Diktion fällt. Dann tritt er selbst im antiquierten Kostüm auf. Statt vieler Beispiele nur ein einziges: Der Institutsdirektor, bei dem Fedor die Arbeit aufnimmt, erklärt ihm, warum er vor ihm keine Forschungsergebnisse geheimhält. Aber wie sagt er das? Im altertümelnden Geheimratsstil, nämlich so: "Was der menschliche Geist erkennt, verlangt nach Veröffentlichung, denn es kommt allen zugute." Ich argumentiere nicht, daß kein Mathematiker heute so rede. Schiller und Herder aber haben gewiß nicht so geredet. Vielleicht liegt es am Humanitätspathos und an seinem Kontrast zur heutigen Welt, daß es so hohl klingt. Vielleicht sprechen asiatische Deutschlehrer so, nachdem sie Schiller gelesen haben. Jedenfalls schreibt Siegfried Lenz manchmal so, in Augenblicken forcierter Besinnlichkeit. Damit man sie nicht übersieht, engagiert er vor solchen Höhepunkten einen nützlichen Ausrufer, der für Schwerhörige und Schwerlesende Ausrufezeichen setzt: "Das sagt alles."
Siegfried Lenz: "Fundbüro". Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2003. 336 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Manchmal sind Pfeile besser als Worte: In seinem Roman "Fundbüro" zeigt sich Siegfried Lenz auf der Höhe seiner Kunst - und verliert sich in Augenblicken forcierter Besinnlichkeit
Seit vielen Jahren erfreut und ermahnt Siegfried Lenz die Republik, die politische wie die literarische. Er vereinigt Fabulierkunst und strategische Arrangements. Einfallsreich schickt er seine Figuren in die Gegenwart, läßt sie leiden und erkunden. Das Ergebnis kann nicht immer erfreulich sein, aber Lenz verwandelt ihre traurigsten Bilanzen in spannende Erzählung, und so findet dieser Autor, der sich mit "Deutschstunde" (1968) und "Heimatmuseum" (1978) in die vorderste Reihe der deutschen Schriftsteller geschrieben hat, immer sein dankbares Publikum. Er schreibt politisch-moralistische Parabeln mit realistischem Dekor, fernab aller formalistischen Experimente. Er weiß, wie man ein schwer belehrbares Volk erzieht. Streng und genau blickt er in unsere Gegenwart.
In seinem neuen Buch, dem in dieser Zeitung vorabgedruckten Roman "Fundbüro", kommen fast alle Probleme vor, die wir haben: die Ost-Erweiterung der EU und die Zweifel am ständigen Wachstum, die Vernachlässigung der Alten und der Personalabbau bei der Bundesbahn, die Rolle der Museen und die Kriminalität von Motorradbanden. Der junge Henry betritt distanziert die Bühne des Lebens, und weil wir es selbst nicht merken würden, sagt uns der Autor gleich am Anfang, daß es riskant wäre, Henrys Wort zu vertrauen, "weil er fast alles in Frage stellte und kaum etwas wichtig nahm". Also eine Art Felix Krull, nur etwas weniger glücklich und gar nicht optimistisch - "es läuft ja doch auf eine allgemeine Katastrophe zu" -, aber genauso quicklebendig, locker nehmend und interessiert; ein junger Mann, der aus dem Staunen nicht herauskommt. Kurz, der richtige Kundschafter in den Irrsalen der deutschen Großstadtwirrnis. Der junge Herr will nicht Karriere machen; er ist im moderatesten Sinne des Wortes ein Aussteiger oder doch einer, der sich nicht festlegen und nicht aufsteigen will.
Er liebt die Verlierer, und da es sein Urheber mit dem Wort nicht gar zu genau nimmt, läßt der Autor ihn eine Stelle annehmen beim Fundbüro der Bundesbahn. Dorthin kommen, heißt es, die Verlierer von selbst. Nun nennt sich zwar niemand, der den Verlust seiner Blockflöte oder auch seiner Brieftasche zu bedauern hat, deswegen im heutigen Deutsch einen "Verlierer", aber der Dichter schickt seinen Henry auf dem schmalen Pfad dieser erfundenen Mehrdeutigkeit ins Fundbüro. Dort tritt er in freundschaftliche Beziehung zu seinen von der Rationalisierung bedrohten Kollegen; dort lernt er Paula kennen, der er den Hof macht, ohne rechten Erfolg, aber das ist keine Tragödie für ihn, schließlich rühmt er sich, kein Ziel zu haben. Er schließt Freundschaft mit Fedor, einem russischen, genaugenommen: einem baschkirischen Nachwuchswissenschaftler, der in Hamburg an einem Forschungsprogramm der Technischen Universität mitarbeitet, der auf dem Bahngelände seine asiatische Felltasche verloren hatte. Fedor kommt aus einer älteren, fernen und ländlichen Welt; er spricht gut Deutsch, aber sein Deutschlehrer hatte über Schiller gearbeitet und ihm das Deutsch Schillers und Hölderlins beigebracht. Es klingt "so entlegen und außer Kurs", daß Henry daran seine Freude hat. Fedor nun ist der sensible, intelligente Beobachter deutscher Lebensverhältnisse vor der Einführung des Euro; er spricht etwas erhaben-altmodisch, beobachtet aber genau - und reist, beleidigt von einer fremdenfeindlichen Bemerkung beim Universitätsfest, wortlos vorzeitig ab, obwohl ihn die Arbeit der deutschen Forschungsgruppe interessiert. Henry, der teilnimmt an Fedors Erfahrungen, beschließt, im Fundbüro weiterzuarbeiten, er verzichtet auf eine Beförderung, die man ihm anbietet.
Dies ist die Fabel des Buches, das mit raschen Handlungsumschwüngen und realistischen Einlagen fesselt; es ist ein dramatisches, ein gut erzähltes Buch, so richtig geschaffen für den Normalfall, daß man auf dem Bahnsteig, oder für den seltenen Fall, daß man vorm Fundbüro warten muß. Niemand wird gering sprechen von dieser deutschen Gewissenserforschung. Im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts ließen Schriftsteller die Reisenden aus Persien kommen, damit sie sich über das Exotische in Frankreich mokierten, heute wundern sich die Baschkiren. Sie bezeugen: Die Welt Hölderlins ist nicht mehr da.
Dagegen kann man schwerlich etwas vorbringen, höchstens, daß Hölderlin geklagt hat, die Deutschen seien engstirnig und verbissen-egoistisch: "Handwerker siehst du, aber keine Menschen." Nein, das war es nicht, was mir das Lesen trotz der hervorragenden Dramaturgie zunehmend erschwert hat. Es war das Papierene, das Lehrhafte dieser Figuren. Ich sage nicht einmal, ihnen fehle die psychologische Vertiefung; ihnen fehlt das Leben. Henry und Fedor insbesondere sind Demonstrationsfiguren, Statisten von Sprechblasen mit tieferer Bedeutung. Henry macht zwar eine Entwicklung durch - vom neugierigen Zuschauer zum entschiedenen Helfer. Aber auch das kommt mit parabelhafter Überdeutlichkeit heraus. In jeweils raffiniert kalkulierten Situationen halten die Personen dieses Romans ein Plakat hoch und geben eine Sentenz von sich, gerne die abstrakte Charakteristik einer anderen Person oder noch lieber eine politisch-moralische Maxime. Nehmen wir ein Beispiel: Fedor verläßt die Stadt wortlos. Aber er hinterläßt einen Brief mit wenigen erklärenden Worten, und damit wir wissen, worauf es ankommt, nennt Henrys Schwester Barbara ihrem Bruder den Satz, auf den es ankommt: "Der sagt alles." Henry liest dann: "Den Pfeil, der dich trifft, kannst du herausreißen, Worte aber bleiben stecken für immer." Jetzt wissen wir, wie tief fremdenfeindliche Stichwörter verletzen können, und Fedor, der uns das exemplifiziert hat, kann in seinen asiatischen Zelten verschwinden. Die Pfeile, die dort eventuell verschossen werden, kann man ja herausziehen. Für die Handlung hat er seine Schuldigkeit getan; er kann gehen.
Daß Lenz seinen Fedor in der Sprache der Herder-Zeit reden läßt, war ein glänzender Regieeinfall. Aus dem Osten, den viele mit offener oder heimlicher Überheblichkeit sehen, bringt Fedor eine humane Form in den deutschen Westen, die dort einmal, wenn nicht heimisch, so doch möglich und geschätzt war. Sein zart-melancholischer Ton macht die laufende Barbarisierung nur um so fühlbarer. Das Ruhige, Besonnene dieser Diktion ist verloren; Kommandoton und technisch verkürzte Signalsprache ersticken die altmodische Sorgfalt der Begründung, die Nuancierung der Beschreibung und Feinheiten des Empfindens. Dieser Kontrast legt einen Hauch poetischen Zaubers über diesen Roman und hebt ihn über bloß spannende Gebrauchsliteratur hinaus. Aber der Autor selbst mindert den Wert seiner Erfindung, indem er als Erzähler selbst in diese Diktion fällt. Dann tritt er selbst im antiquierten Kostüm auf. Statt vieler Beispiele nur ein einziges: Der Institutsdirektor, bei dem Fedor die Arbeit aufnimmt, erklärt ihm, warum er vor ihm keine Forschungsergebnisse geheimhält. Aber wie sagt er das? Im altertümelnden Geheimratsstil, nämlich so: "Was der menschliche Geist erkennt, verlangt nach Veröffentlichung, denn es kommt allen zugute." Ich argumentiere nicht, daß kein Mathematiker heute so rede. Schiller und Herder aber haben gewiß nicht so geredet. Vielleicht liegt es am Humanitätspathos und an seinem Kontrast zur heutigen Welt, daß es so hohl klingt. Vielleicht sprechen asiatische Deutschlehrer so, nachdem sie Schiller gelesen haben. Jedenfalls schreibt Siegfried Lenz manchmal so, in Augenblicken forcierter Besinnlichkeit. Damit man sie nicht übersieht, engagiert er vor solchen Höhepunkten einen nützlichen Ausrufer, der für Schwerhörige und Schwerlesende Ausrufezeichen setzt: "Das sagt alles."
Siegfried Lenz: "Fundbüro". Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2003. 336 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der neue Lenz-Roman ist ein dramatisches, gut erzähltes Buch, findet Rezensent Kurt Flasch, der eigenem Bekunden zufolge außerdem durch rasche Handlungsumschwünge und realistische Einlagen gefesselt wurde. Doch dies Lob ist schnell relativiert: denn zusehends hat das "Papierene, das Lehrhafte" der Romanfiguren dem Rezensenten das Lesen erschwert, bis er schließlich zu dem Ergebnis kommt, dass ihnen nicht nur "psychologische Vertiefung", sondern das Leben fehlt. Besonders Protagonist Henry sei eine "Demonstrationsfigur", klagt Flasch. Aber auch andere Figuren des Romans halten dem Rezensenten zufolge ein Plakat hoch und geben eine Sentenz von sich, am liebsten eine "politische Maxime". Einen "Hauch poetischen Zaubers" freilich legt Lenz nach Ansicht des Rezensenten über den Roman, weil er einen der Protagonisten in der Sprache der Herder-Zeit reden lasse. Doch dann mindere Lenz den Wert dieser Erfindung, indem er als Erzähler selbst in diese Diktion falle. Das Humanitätspathos, das eben noch die fortlaufende Barbarisierung unserer Zeit für den Rezensenten hörbar machte, erscheint ihm in diesen Momenten als "forcierte Besinnlichkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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