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Manchmal sind Pfeile besser als Worte: In seinem Roman "Fundbüro" zeigt sich Siegfried Lenz auf der Höhe seiner Kunst - und verliert sich in Augenblicken forcierter Besinnlichkeit
Seit vielen Jahren erfreut und ermahnt Siegfried Lenz die Republik, die politische wie die literarische. Er vereinigt Fabulierkunst und strategische Arrangements. Einfallsreich schickt er seine Figuren in die Gegenwart, läßt sie leiden und erkunden. Das Ergebnis kann nicht immer erfreulich sein, aber Lenz verwandelt ihre traurigsten Bilanzen in spannende Erzählung, und so findet dieser Autor, der sich mit "Deutschstunde" (1968) und "Heimatmuseum" (1978) in die vorderste Reihe der deutschen Schriftsteller geschrieben hat, immer sein dankbares Publikum. Er schreibt politisch-moralistische Parabeln mit realistischem Dekor, fernab aller formalistischen Experimente. Er weiß, wie man ein schwer belehrbares Volk erzieht. Streng und genau blickt er in unsere Gegenwart.
In seinem neuen Buch, dem in dieser Zeitung vorabgedruckten Roman "Fundbüro", kommen fast alle Probleme vor, die wir haben: die Ost-Erweiterung der EU und die Zweifel am ständigen Wachstum, die Vernachlässigung der Alten und der Personalabbau bei der Bundesbahn, die Rolle der Museen und die Kriminalität von Motorradbanden. Der junge Henry betritt distanziert die Bühne des Lebens, und weil wir es selbst nicht merken würden, sagt uns der Autor gleich am Anfang, daß es riskant wäre, Henrys Wort zu vertrauen, "weil er fast alles in Frage stellte und kaum etwas wichtig nahm". Also eine Art Felix Krull, nur etwas weniger glücklich und gar nicht optimistisch - "es läuft ja doch auf eine allgemeine Katastrophe zu" -, aber genauso quicklebendig, locker nehmend und interessiert; ein junger Mann, der aus dem Staunen nicht herauskommt. Kurz, der richtige Kundschafter in den Irrsalen der deutschen Großstadtwirrnis. Der junge Herr will nicht Karriere machen; er ist im moderatesten Sinne des Wortes ein Aussteiger oder doch einer, der sich nicht festlegen und nicht aufsteigen will.
Er liebt die Verlierer, und da es sein Urheber mit dem Wort nicht gar zu genau nimmt, läßt der Autor ihn eine Stelle annehmen beim Fundbüro der Bundesbahn. Dorthin kommen, heißt es, die Verlierer von selbst. Nun nennt sich zwar niemand, der den Verlust seiner Blockflöte oder auch seiner Brieftasche zu bedauern hat, deswegen im heutigen Deutsch einen "Verlierer", aber der Dichter schickt seinen Henry auf dem schmalen Pfad dieser erfundenen Mehrdeutigkeit ins Fundbüro. Dort tritt er in freundschaftliche Beziehung zu seinen von der Rationalisierung bedrohten Kollegen; dort lernt er Paula kennen, der er den Hof macht, ohne rechten Erfolg, aber das ist keine Tragödie für ihn, schließlich rühmt er sich, kein Ziel zu haben. Er schließt Freundschaft mit Fedor, einem russischen, genaugenommen: einem baschkirischen Nachwuchswissenschaftler, der in Hamburg an einem Forschungsprogramm der Technischen Universität mitarbeitet, der auf dem Bahngelände seine asiatische Felltasche verloren hatte. Fedor kommt aus einer älteren, fernen und ländlichen Welt; er spricht gut Deutsch, aber sein Deutschlehrer hatte über Schiller gearbeitet und ihm das Deutsch Schillers und Hölderlins beigebracht. Es klingt "so entlegen und außer Kurs", daß Henry daran seine Freude hat. Fedor nun ist der sensible, intelligente Beobachter deutscher Lebensverhältnisse vor der Einführung des Euro; er spricht etwas erhaben-altmodisch, beobachtet aber genau - und reist, beleidigt von einer fremdenfeindlichen Bemerkung beim Universitätsfest, wortlos vorzeitig ab, obwohl ihn die Arbeit der deutschen Forschungsgruppe interessiert. Henry, der teilnimmt an Fedors Erfahrungen, beschließt, im Fundbüro weiterzuarbeiten, er verzichtet auf eine Beförderung, die man ihm anbietet.
Dies ist die Fabel des Buches, das mit raschen Handlungsumschwüngen und realistischen Einlagen fesselt; es ist ein dramatisches, ein gut erzähltes Buch, so richtig geschaffen für den Normalfall, daß man auf dem Bahnsteig, oder für den seltenen Fall, daß man vorm Fundbüro warten muß. Niemand wird gering sprechen von dieser deutschen Gewissenserforschung. Im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts ließen Schriftsteller die Reisenden aus Persien kommen, damit sie sich über das Exotische in Frankreich mokierten, heute wundern sich die Baschkiren. Sie bezeugen: Die Welt Hölderlins ist nicht mehr da.
Dagegen kann man schwerlich etwas vorbringen, höchstens, daß Hölderlin geklagt hat, die Deutschen seien engstirnig und verbissen-egoistisch: "Handwerker siehst du, aber keine Menschen." Nein, das war es nicht, was mir das Lesen trotz der hervorragenden Dramaturgie zunehmend erschwert hat. Es war das Papierene, das Lehrhafte dieser Figuren. Ich sage nicht einmal, ihnen fehle die psychologische Vertiefung; ihnen fehlt das Leben. Henry und Fedor insbesondere sind Demonstrationsfiguren, Statisten von Sprechblasen mit tieferer Bedeutung. Henry macht zwar eine Entwicklung durch - vom neugierigen Zuschauer zum entschiedenen Helfer. Aber auch das kommt mit parabelhafter Überdeutlichkeit heraus. In jeweils raffiniert kalkulierten Situationen halten die Personen dieses Romans ein Plakat hoch und geben eine Sentenz von sich, gerne die abstrakte Charakteristik einer anderen Person oder noch lieber eine politisch-moralische Maxime. Nehmen wir ein Beispiel: Fedor verläßt die Stadt wortlos. Aber er hinterläßt einen Brief mit wenigen erklärenden Worten, und damit wir wissen, worauf es ankommt, nennt Henrys Schwester Barbara ihrem Bruder den Satz, auf den es ankommt: "Der sagt alles." Henry liest dann: "Den Pfeil, der dich trifft, kannst du herausreißen, Worte aber bleiben stecken für immer." Jetzt wissen wir, wie tief fremdenfeindliche Stichwörter verletzen können, und Fedor, der uns das exemplifiziert hat, kann in seinen asiatischen Zelten verschwinden. Die Pfeile, die dort eventuell verschossen werden, kann man ja herausziehen. Für die Handlung hat er seine Schuldigkeit getan; er kann gehen.
Daß Lenz seinen Fedor in der Sprache der Herder-Zeit reden läßt, war ein glänzender Regieeinfall. Aus dem Osten, den viele mit offener oder heimlicher Überheblichkeit sehen, bringt Fedor eine humane Form in den deutschen Westen, die dort einmal, wenn nicht heimisch, so doch möglich und geschätzt war. Sein zart-melancholischer Ton macht die laufende Barbarisierung nur um so fühlbarer. Das Ruhige, Besonnene dieser Diktion ist verloren; Kommandoton und technisch verkürzte Signalsprache ersticken die altmodische Sorgfalt der Begründung, die Nuancierung der Beschreibung und Feinheiten des Empfindens. Dieser Kontrast legt einen Hauch poetischen Zaubers über diesen Roman und hebt ihn über bloß spannende Gebrauchsliteratur hinaus. Aber der Autor selbst mindert den Wert seiner Erfindung, indem er als Erzähler selbst in diese Diktion fällt. Dann tritt er selbst im antiquierten Kostüm auf. Statt vieler Beispiele nur ein einziges: Der Institutsdirektor, bei dem Fedor die Arbeit aufnimmt, erklärt ihm, warum er vor ihm keine Forschungsergebnisse geheimhält. Aber wie sagt er das? Im altertümelnden Geheimratsstil, nämlich so: "Was der menschliche Geist erkennt, verlangt nach Veröffentlichung, denn es kommt allen zugute." Ich argumentiere nicht, daß kein Mathematiker heute so rede. Schiller und Herder aber haben gewiß nicht so geredet. Vielleicht liegt es am Humanitätspathos und an seinem Kontrast zur heutigen Welt, daß es so hohl klingt. Vielleicht sprechen asiatische Deutschlehrer so, nachdem sie Schiller gelesen haben. Jedenfalls schreibt Siegfried Lenz manchmal so, in Augenblicken forcierter Besinnlichkeit. Damit man sie nicht übersieht, engagiert er vor solchen Höhepunkten einen nützlichen Ausrufer, der für Schwerhörige und Schwerlesende Ausrufezeichen setzt: "Das sagt alles."
Siegfried Lenz: "Fundbüro". Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2003. 336 S., geb., 21,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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