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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Dichtung des Fading: Sven Hillenkamps beeindruckendes Prosaexperiment "Fußabdrücke eines Fliegenden"
"Wenn man nur imstande wäre, zu erzählen, was in einer Sekunde geschieht", klagt Nils Nycander einmal. Nycander ist eine wiederkehrende Figur in Sven Hillenkamps Prosaband "Fußabdrücke eines Fliegenden". Der fiktive Autor, vielleicht das Alter Ego seines Erfinders, kann nur beim Spazierengehen denken, muss dann aber immer ganz von vorne anfangen. Nils misstraut den Metaphern, weil sie noch dem Ungeheuerlichsten "sein Plätzchen im heimatlichen Sprachzoo" schaffen, und leidet unter Romanallergie: "Bereits ein Satz aus einem Roman führe zu Atemnot, seine Augen liefen über, es jucke ihn am ganzen Körper."
Von einem Roman sind die knapp zweihundert teils sehr kurzen Texte von Sven Hillenkamp weit entfernt. Sie sind Produkte einer Ästhetik der grassierenden Schwindsucht: In einem beeindruckenden Prosaexperiment testet Hillenkamp aus, wie viele Worte nötig sind, um einen noch literaturfähigen Text zu erschaffen. Wo weniger mehr sein soll, gerät das Erzählen in Verdacht und mit ihm Konzepte wie Gedächtnis, Psychologie oder Entwicklung. Das macht Hillenkamps Texte zu Abkömmlingen der Literarischen Moderne, worauf auch Anspielungen auf Hofmannsthal, Kafka oder Rilke verweisen.
Zugleich führt Hillenkamp hier Einsichten aus seiner Gegenwartskritik "Das Ende der Liebe" (2009) fort. Was jedoch seinerzeit nervte - Hillenkamps Endlosschleifen apodiktischer Sentenzen über die spätmoderne Unmöglichkeit, tiefere zwischenmenschliche Bindungen einzugehen - erwacht im Medium der Kurzprosa zu neuem Leben. Billy, neben Nils Nycander die zweite Hauptfigur dieser Stücke, ist ein Spezialist für die aus "Das Ende der Liebe" bekannten Paradoxien des modernen Lebens. Er erlebt jede gesellschaftliche Entwicklung am eigenen Leib, weiß von seinem Innenleben nur in Gegenwart anderer und ist schon mit Mitte zwanzig reif fürs Altenheim. Das Jetzt ist für ihn so überwältigend, dass ihn schon das Schreiben des Datums ohnmächtig werden lässt.
Hillenkamps Prosa lebt von Paradoxien, Pointen und Inversionen, die zwar nicht alle überzeugen. Dass Billy neue Situationen verabscheut, weil er in ihnen nur das Alte erfährt, dagegen nur im Vertrauten das Neue, ist weniger luzide als banal. Einige Texte allerdings sind atemraubend: Das gilt für die titelgebenden Fußabdrücke eines Fliegenden - die Spuren eines Schwans am Strand, von denen niemand sagen kann, ob sie beim Start oder bei der Landung entstanden sind. Das gilt ebenso von jenem Geisteswissenschaftler namens Enquist, der den Zwang zum Zitieren leid ist und endlich selbst Quelle sein will: "Enquist sagte wörtlich: ,Zitat: ... Ich will selber Quelle werden. Quelle unbekannt.'" Das gilt aber vor allem für jene Elias Canetti würdige Geschichte von einem namenlosen Künstler, der Auschwitz wieder in Betrieb nimmt, weil alle Kunst über das Vernichtungslager verharmlosend wäre. Die letzten Überlebenden erinnern den Künstler aber daran, dass auch ein wieder in Betrieb genommenes KZ verharmlosend sei, da ja heute jeder Neuankömmling wisse, was ihn dort erwarte.
Geordnet sind die Texte streng nach ihrer Länge. Mit jeder Seite schrumpft Hillenkamps Prosa um ein weiteres Wort der Stille entgegen, ein faszinierender Prozess, der sich auch umgekehrt lesen lässt: Es ist das Weiß des Papiers, das diesen Geschichten Stück für Stück das Fleisch von den narrativen Knochen frisst. Der erste Text beginnt mit etwas über drei Seiten, der vorletzte ist mit "Blauer Himmel dichter Schnellfall" keine Zeile mehr lang. Und der letzte besteht aus einem einsamen, tapferen Komma auf einer leeren Seite, das man glatt für einen Druckfehler halten könnte. "Zursprachefinden ist ein langsames Verstummen", sagt Nils Nycander, und in diesem Sinne ist Hillenkamps Prosa eine Dichtung des Fading: Wer diesen Band in Händen hält, erlebt beim raschen Abblättern das Verstummen der Dichtung als Daumenkino.
OLIVER PFOHLMANN
Sven Hillenkamp: "Fußabdrücke eines Fliegenden".
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012. 225 S., geb., 19,95 [Euro].
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