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Leistungssport
Sven Hillenkamp hält fälschlich
Kürze als solche für eine Tugend
Fünfzehn Jahre hatte Otto Hermansson seinen Toaster so stehen gehabt, dass er, um zu toasten, jedesmal aufstehen und sich vornüberbeugen musste. „Es hatte ihm die Kraft gefehlt, den Toaster umzudrehen.“ Aber eigentlich hatte es gar nicht an der Kraft gelegen, sondern am Nachdenken über das eigene Unglück, das Hermansson so sehr in Anspruch nahm, dass er nicht auch noch an den Toaster denken konnte. Doch an diesem Tag denkt Hermansson plötzlich: „Ich drehe den Toaster um.“ Und indem er es denkt, hat er es auch schon getan. Anschließend räumt er drei Stunden lang seine Wohnung um, und zwar so, dass er nicht länger der Kübelpflanze im Flur ausweichen muss, sich nicht mehr den Kopf an der Lampe stößt und nicht mehr auf den Knien zu rutschen braucht, wenn er frische Unterwäsche benötigt. „Hermansson sah ein, dass die gesamte Einrichtung der Wohnung in den vergangenen fünfzehn Jahren eine Einrichtung zu seiner Behinderung und Erniedrigung gewesen war“, und er räsoniert: „Hätte ich in den fünfzehn unglücklichen Jahren nur geahnt, dass ich den Toaster umdrehen kann, wären es keine fünfzehn unglücklichen Jahre gewesen. Ich habe es aber nicht geahnt, das ist eben das Eigentümliche dieser Jahre gewesen.“
Ist das eine gute Geschichte? Sie macht ein Gesicht, als wäre sie es. Der Toaster und die fünfzehn Jahre Unglück stehen einander gegenüber, das winzige Symptom und das riesige Syndrom; und dann kommt es, mit der Plötzlichkeit des Witzes, doch ohne eigentliche Pointe, zu einer unerwarteten Hebelwirkung, das Winzige hebt das Riesige aus den Angeln. Das Ganze schließt, indem ein Kommentar, wie die Moral in der Fabel, dem Vorgefallenen hinterhersinnt. Und doch stimmt etwas nicht mit diesem Text, der mit knapp zwei Seiten schon zu den längeren in Sven Hillenkamps Buch „Fußabdrücke eines Fliegenden“ gehört. Allzu sehr genießt er seinen bloßen Einfall, den er dann absehbar fortentwickelt. Es mag ja sein, dass ein Mensch mit Antriebsschwäche fünfzehn Jahre an der unpraktischen Einrichtung seiner Wohnung leidet, weil er sich nicht aufraffen kann, sie zweckmäßig umzugestalten. Aber dass seine Erlösung dann nur einer einzigen Sekunde der Erleuchtung bedarf, eines Nadelstichs, eines Gags zuletzt – das sollte man dem Erzähler nicht ohne weiteres abnehmen. Hier steckt ein Trick, hier wird dem Leser etwas untergeschoben: als ob durch die Figur der Aussparung aller übliche Erdenballast abgestreift wäre; als ob man aus der Kürze allein schon auf die Würze rückschließen müsste.
Der Lakonismus bringt seine eigenen Versuchungen mit sich. Das Wenige, das sichtbar auf der Fläche des Blatts zutage tritt, scheint selbstverständlich auf ein Vielfaches an Mitzudenkendem hinzuweisen, die sichtbare Spitz, den untergetauchten Eisberg der Bedeutsamkeit zu verkünden. Der Leser, der stutzt, hat es sich selbst zuzuschreiben. Hillenkamp setzt über sein Buch ein Motto von Kierkegaard: „Ich esse zwar Salat, aber ich esse immer nur das Herz.“ Das glaubt sich der Autor selber aufs Wort und kommt gar nicht auf die Idee, dass es sich bei dem Bisschen, was da auf seinem Teller liegt, auch um ein welkes Außenblatt handeln könnte.
Wie sehr Hillenkamp den Lakonismus als Leistungssport betreibt, lässt der Aufbau des Buchs erkennen: Jeder der hier vereinten Texte ist immer noch um ein Quäntchen knapper als der vorangegangene. Es beginnt mit rund dreieinhalb Seiten und steigert sich bis zu einer einzigen Zeile. In eine solche passt naturgemäß nicht mehr viel hinein, nur noch Dinge wie: „Nils Nycander sagte: ‚Zursprachefinden ist ein langsames Verstummen.‘“ Oder: „,Meine einzige Stärke: die Lautstärke‘, sagte Billy.“ Den Leser verdrießt bei diesem faulen Zen besonders, dass die Urheber aller dieser Sprüche, diese ganzen von der Welt befremdeten, einsamen, doch ansonsten reichlich undeutlichen Mannsfiguren auch noch sämtlich heißen müssen, als wären sie Regale oder Handtuchhalter bei Ikea. Dabei unterscheidet sich Lennart Limlas nicht im Ernst vom Melker Järnestad gleich daneben, der von sich behauptet, er sei in der Ekstase zu Hause. Auch Kasper Falkenstam – er wächst in einem Restaurant auf, in das nie Gäste kommen – und Thorsten Malmsted – der Auschwitz wieder in Betrieb nimmt, weil dies die einzige Art sei, es nicht zu verharmlosen – vermögen sich in den elf Zeilen, die ihnen jeweils zur Verfügung stehen, nicht wirklich einzuprägen.
Erwartungsgemäß endet der Band, auf Seite 221, mit – nichts. Halt, doch etwas! Was da links oben steht, könnte glatt ein Komma sein. Und hatte es nicht von Nils Nycander geheißen, er habe jahrelang im Komma gelegen? Der dürftige Kalauer (über den zu grinsen uns der Autor freilich durch sein feierliches Gebaren untersagt) soll hier offenbar in die Sphäre des Ereignisses übertreten. Der Rest ist, wie man es von schwachen Lyrikern kennt, Schweigen. „Literatur ohne ein Gramm Fett“, lobt Feridun Zaimoglu auf der Rückseite des Umschlags. Da hat er jedenfalls nicht gelogen. Literatur leider auch ohne ein Gramm Fleisch, Haut oder Knochen.
BURKHARD MÜLLER
SVEN HILLENKAMP: Fußabdrücke eines Fliegenden. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 224 Seiten, 19,95 Euro.
Der Witz ohne Pointe
– erinnert das Prinzip nicht fatal
an schwache Lyrik?
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Dichtung des Fading: Sven Hillenkamps beeindruckendes Prosaexperiment "Fußabdrücke eines Fliegenden"
"Wenn man nur imstande wäre, zu erzählen, was in einer Sekunde geschieht", klagt Nils Nycander einmal. Nycander ist eine wiederkehrende Figur in Sven Hillenkamps Prosaband "Fußabdrücke eines Fliegenden". Der fiktive Autor, vielleicht das Alter Ego seines Erfinders, kann nur beim Spazierengehen denken, muss dann aber immer ganz von vorne anfangen. Nils misstraut den Metaphern, weil sie noch dem Ungeheuerlichsten "sein Plätzchen im heimatlichen Sprachzoo" schaffen, und leidet unter Romanallergie: "Bereits ein Satz aus einem Roman führe zu Atemnot, seine Augen liefen über, es jucke ihn am ganzen Körper."
Von einem Roman sind die knapp zweihundert teils sehr kurzen Texte von Sven Hillenkamp weit entfernt. Sie sind Produkte einer Ästhetik der grassierenden Schwindsucht: In einem beeindruckenden Prosaexperiment testet Hillenkamp aus, wie viele Worte nötig sind, um einen noch literaturfähigen Text zu erschaffen. Wo weniger mehr sein soll, gerät das Erzählen in Verdacht und mit ihm Konzepte wie Gedächtnis, Psychologie oder Entwicklung. Das macht Hillenkamps Texte zu Abkömmlingen der Literarischen Moderne, worauf auch Anspielungen auf Hofmannsthal, Kafka oder Rilke verweisen.
Zugleich führt Hillenkamp hier Einsichten aus seiner Gegenwartskritik "Das Ende der Liebe" (2009) fort. Was jedoch seinerzeit nervte - Hillenkamps Endlosschleifen apodiktischer Sentenzen über die spätmoderne Unmöglichkeit, tiefere zwischenmenschliche Bindungen einzugehen - erwacht im Medium der Kurzprosa zu neuem Leben. Billy, neben Nils Nycander die zweite Hauptfigur dieser Stücke, ist ein Spezialist für die aus "Das Ende der Liebe" bekannten Paradoxien des modernen Lebens. Er erlebt jede gesellschaftliche Entwicklung am eigenen Leib, weiß von seinem Innenleben nur in Gegenwart anderer und ist schon mit Mitte zwanzig reif fürs Altenheim. Das Jetzt ist für ihn so überwältigend, dass ihn schon das Schreiben des Datums ohnmächtig werden lässt.
Hillenkamps Prosa lebt von Paradoxien, Pointen und Inversionen, die zwar nicht alle überzeugen. Dass Billy neue Situationen verabscheut, weil er in ihnen nur das Alte erfährt, dagegen nur im Vertrauten das Neue, ist weniger luzide als banal. Einige Texte allerdings sind atemraubend: Das gilt für die titelgebenden Fußabdrücke eines Fliegenden - die Spuren eines Schwans am Strand, von denen niemand sagen kann, ob sie beim Start oder bei der Landung entstanden sind. Das gilt ebenso von jenem Geisteswissenschaftler namens Enquist, der den Zwang zum Zitieren leid ist und endlich selbst Quelle sein will: "Enquist sagte wörtlich: ,Zitat: ... Ich will selber Quelle werden. Quelle unbekannt.'" Das gilt aber vor allem für jene Elias Canetti würdige Geschichte von einem namenlosen Künstler, der Auschwitz wieder in Betrieb nimmt, weil alle Kunst über das Vernichtungslager verharmlosend wäre. Die letzten Überlebenden erinnern den Künstler aber daran, dass auch ein wieder in Betrieb genommenes KZ verharmlosend sei, da ja heute jeder Neuankömmling wisse, was ihn dort erwarte.
Geordnet sind die Texte streng nach ihrer Länge. Mit jeder Seite schrumpft Hillenkamps Prosa um ein weiteres Wort der Stille entgegen, ein faszinierender Prozess, der sich auch umgekehrt lesen lässt: Es ist das Weiß des Papiers, das diesen Geschichten Stück für Stück das Fleisch von den narrativen Knochen frisst. Der erste Text beginnt mit etwas über drei Seiten, der vorletzte ist mit "Blauer Himmel dichter Schnellfall" keine Zeile mehr lang. Und der letzte besteht aus einem einsamen, tapferen Komma auf einer leeren Seite, das man glatt für einen Druckfehler halten könnte. "Zursprachefinden ist ein langsames Verstummen", sagt Nils Nycander, und in diesem Sinne ist Hillenkamps Prosa eine Dichtung des Fading: Wer diesen Band in Händen hält, erlebt beim raschen Abblättern das Verstummen der Dichtung als Daumenkino.
OLIVER PFOHLMANN
Sven Hillenkamp: "Fußabdrücke eines Fliegenden".
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012. 225 S., geb., 19,95 [Euro].
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