BRD, um 1968. Wie überall in der westlichen Welt drängt die junge Generation auf radikale Veränderungen. Viele strömen aus den Hörsälen auf die Straße. Manche in den Underground. Und manche in die Übungskeller, auf der Suche nach dem Soundtrack der Bewegung. Die unerhörten Klänge, die deutsche Bands wie Can, Neu!, Amon Düül, Popul Vuh, Tangerine Dream, Faust, Cluster oder Kraftwerk damals produzierten, gelten heute als Blaupause für die moderne Rockmusik. Und der Strom ihrer kreativen Bewunderer und Fortsetzer hat sich seit den ersten Fans wie David Bowie stets verbreitert: Ob Blur, Aphex Twin, Sonic Youth, Radiohead oder die Red Hot Chilli Peppers – sie alle beziehen sich auf den sogenannten »Krautrock«. Christoph Dallach hat dessen Pioniere befragt, darunter Irmin Schmidt, Jaki Liebezeit, Holger Czukay (alle Can), Michael Rother (Neu!), Dieter Moebius (Cluster), Klaus Schulze (Tangerine Dream), Achim Reichel (AR Machines), Lüül (Agitation Free), Karl Bartos (Kraftwerk), Brian Eno u. v. a. Ihre Antworten fügen sich zu einer Oral History, die über die einzelnen Bandgeschichten weit hinausweist: einerseits in die Vergangenheit, zu Nazilehrern, Nachkriegselternhäusern, Freejazz, Terrorismus, LSD und äußerst langen Haaren; genauso aber in die Zukunft, zu globaler Anerkennung, Mythenbildung, Techno oder Postrock.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Laut Rezensent Philipp Krohn ist nun endlich das Buch erschienen, das den Krautrock gebührend würdigt, seine Wurzeln und seine Wirkung aufzeigt. Christoph Dallachs Oral History, die Krautrocker wie Holger Czukay von Can, Renate Knaup von Amon Düül II, Joachim Roedelius von Cluster, Michael Rother oder Produzenten wie Conny Plank und Labelbetreiber extensiv zu Wort kommen lässt, scheint Krohn ein Unikat zu sein. Weil die alten Recken und ihre zeitgenössischen Fans, die gleichfalls von ihren Erlebnissen mit dem Krautrock berichten dürfen, nicht jünger werden, ist das Buch für Krohn auch ein Vermächtnis. Die Gefahr der Glorifizierung, die so ein Ansatz mit sich bringt, nimmt Krohn gern in Kauf.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2021Wegrennen, verdrängen, verarbeiten
Christoph Dallach hat eine große Oral History des Krautrock zusammengestellt. Endlich wird auch
klar, wie unwichtig visionäres Zukunftsdenken war – und wie wichtig die deutsche Geschichte
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN
Am Ende wünscht man sich, all diese alten Männer, die hier reiches biografisches Material ausbreiten, erschütternde Anekdoten und immer wieder unerwartete Einsichten zum Besten geben, würden genau das tun, was sie einst zusammengebracht hat: Musik machen. Wenn das Entstehen relevanter, faszinierender, wegbereitender Musik an Erinnerungen geknüpft wird, an Seelenzustände und intellektuelle Stadien, die man lange hinter sich gelassen hat, will man doch hören, wie sie heute das heiße Material von damals anfassen würde: von dieser, über die Jahre gewonnenen reflexiven Distanz aus, die man zwischen sich und LSD, endlose Jams und komische Heilige mit ernsten Musikdoktrinen in den vergangenen 50 Jahren gelegt hat.
Stattdessen haben die meisten dieser Männer diese Jahre den Rezipienten und Rezipientinnen geschenkt, die in immer neuen Generationen immer mehr an Krautrock entdeckt, gewürdigt, wiederveröffentlicht und weitergeführt haben. Auch wenn für meine Generation in der alten BRD Punk genau gegen diese Musik erfunden wurde, haben unsere britischen und amerikanischen Idole schon damals für Krautrock geschwärmt: John Lydon von den Sex Pistols oder Pete Shelley von den Buzzcocks waren nicht die einzigen bekennenden Krautfans – allerdings mochten die noch Bands, die man als Punk gut mögen konnte wie die wilden Amon Düül II oder Can, die eben einfach gut waren. Die Besten. Von Generation zu Generation wurden immer esoterischere und unerträglichere schwäbische Tabla-Mönche und schwelgende Orgelromantiker in den Kanon aufgenommen. Amerikanische Experimentalhipster wie Oneohtrix Point Never sind notorisch stolz darauf, die hässlichsten und abgelegensten Krautelektroniker zu kennen, zu zitieren und zu verwursten.
Der Musikjournalist Christoph Dallach hat für sein Buch zwei vorderhand langweilige Entscheidungen getroffen, die aber ausgesprochen unterhaltsame Resultate hervorgebracht haben. Zum einen hat er sich das Thema Krautrock vorgeknöpft, über das es eigentlich mehr als genug zu lesen gibt. Dringend notwendig wäre stattdessen mal eine Darstellung von italienischem und französischem, osteuropäischem oder lateinamerikanischem Prog- und Experimentalrock der Siebziger. Oder eine Befreiung der Siebzigerjahre-Diagnostik vom nationalkulturellen Blickwinkel. Zum anderen hat er das 1982 durch die Edie-Sedgwick-Biografie von Jean Stein und George Plimpton aufgekommene und von Legs McNeil und Gillian McCain für ihre Geschichte des New Yorker Punkrock erfolgreich adaptierte Genre der Oral History oder O-Ton-Dokumentation wiederbelebt, das schon Jürgen Teipel („Verschwende Deine Jugend“) und nach ihm diverse Nachahmer für die deutschsprachige Musik- und Generationengeschichtsschreibung eingesetzt hatten.
Dass die Wahrheit über historische Momente in den O-Tönen der Zeitgenossen bewahrt werde, ist ein Irrtum, der auch 90 Prozent aller zeitgenössischen Dokumentarfilme ruiniert. Aber in Dallachs „Future Sounds“ werden gerade nicht irgendwelche Fakten in überflüssig authentische O-Töne übersetzt. Vielmehr kommen Leute zu Wort, und auch viel ausführlicher als sonst in solchen Werken, von denen man sich gerne etwas erzählen lässt. Dabei gelingt zwar selbst den eloquentesten unter ihnen selten, zu den einschlägigen Siebziger-Themen wie LSD, die sagenhafte Provinzialität der restlichen BRD und einer insgesamt viel improvisierteren und unprofessionelleren Zeit noch Neues zu sagen. Aber fast alle beherrschen sowohl das biografische wie das historische Genre: Sie wissen, dass über all das schon sehr oft geredet wurde und suchen nicht nach dem unbekannten Faktum oder Album, sondern nach interessanten Deutungen, die sie an ihre Lebensgeschichte andocken.
Dabei hilft es, dass Dallach bei der Wahl seiner Gesprächspartner über den Tellerrand des Genres hinausgeschaut hat: Zu Wort kommen Free Jazzer wie der eigentlich immer richtig liegende Peter Brötzmann und der große Alexander von Schlippenbach, der mit Jaki Liebezeit in einem Kölner Jazz-Ensemble gespielt hat, das sogar in Bernd-Alois-Zimmermann-Opern auftrat. Er respektierte Liebezeits Wechsel zur Rockmusik, hat sich aber nie eine Can-Platte angehört. Und mit Agitation-Free-Gründungsmitglied Lutz Ludwig Kramer kann auch mal eine andere und erfrischende Stimme der Westberliner Avantgarde um das legendäre „Zodiak“ auspacken. Renate Knaup wirft ein neues Licht auf die Amon-Düül-Geschichte: Die meisten Mitglieder kamen aus betuchteren Familien.
Mit Gabi Delgado-López, Jaki Liebezeit, Holger Czukay und Christian Burchard sind leider auch schon vier der Interviewten während der Produktion des Buches verstorben. Mit Gerd Augustin, Siegfried E. Loch und Bernd Dopp sind Plattenfirmen und Veranstalter vertreten, mit Siegfried Schmidt-Joos, Manfred Gillig und Winfried Trenkler Journalisten, die der Szene freundlich gegenüberstanden. Jemand, der wie der Autor dieser Zeilen während der Jahre 1971 bis 73 nahezu wöchentlich eine andere deutsche Progrock-Band live sah, vermisst ein wenig den trüben Alltag dieser Musik: Nur selten spielten Can und Faust, meist waren es Jane, Karthargo und Wind – und die waren alle sehr beliebte Headliner. Der Eindruck, dass man in Deutschland während der Siebziger, als Bands Wallenstein und Novalis hießen, flächendeckend interessante experimentelle Musik machte, konnte sich nur Briten aufdrängen, die ein Jahrzehnt später das Material am Schreibtisch sortierten. Und auch Faust sollten eigentlich unter dem Namen Götterdämmerung auftreten.
Der von denselben Briten viel verbreitete Mythos, die Radikalität der Musik habe mit einer politischen korrespondiert und in den Siebzigern habe der durchschnittliche deutsche Langhaarige die Zeit zwischen einer Fassbinder-Matinee und einem Popol-Vuh-Konzert damit verbracht, RAF-Leute zu verstecken und die Rote Hilfe aufzubauen, wird dankenswerterweise auch korrigiert: Von jener Nacht abgesehen, die Baader, Ensslin und Gefolge in den Betten der Münchner Düül-Kommune verbracht haben, erfahren wir, dass die meisten Protagonisten Willy Brandt nähergestanden haben als den maoistischen K-Gruppen. Den „gläubigen Kalbsblick“ bei der SDAJ und dem Moskau-treuen Flügel des Siebziger-Kommunismus beschreibt Irmin Schmidt sehr treffend.
Überhaupt Irmin Schmidt. Es gibt drei Kristallisationsfiguren in diesem Buch, auf die die Narration immer wieder zurückkommt: der bekannte Intellektuelle und Faust-Produzent Uwe Nettelbeck, der leider nicht mehr lebt, der umtriebige Deuter, Autor und später Organisator von Labels und LSD-Nachschubwegen Rolf-Ulrich Kaiser, der leider oder für manche Betroffene auch: zum Glück verschollen ist und als Untoter durch diese Oral History geistert, und Irmin Schmidt, der am schönsten, verschlungensten und reflektiertesten erzählt.
Brian Eno erklärt die deutsche Musik der Siebziger damit, dass sie sich nicht auf andere Popmusik beziehe, sondern auf bildende Kunst – aber das ist eher seine Geschichte und die der britischen Art Schools. Schmidt steht für eine Geschichte, die bildende Kunst vor allem als Fluxus, also bereits unter Bezugnahme auf zeitbasierte Künste wie Musik einschließt, aber ansonsten ganz andere Ursprünge hat: Neue Musik als Anfang und Jimi Hendrix als einschneidende Ermunterung, Jazz und improvisierte Musik ganz neu, nämlich elektrisch, glamourös und vor allem laut und noisy neu zu erfinden. Hendrix ist das meistgenannte Erweckungserlebnis, das aber nie so funktioniert hätte, wenn es nicht eine schon entwickelte Avantgardeprägung gegeben hätte, die der Gitarrist konkret negiert hätte.
Der andere Strang der hier besprochenen Musik ist das elektronische Experiment, das sich zwischen den Polen Düsseldorfer Hippie-Camp (Kraftwerk, Rother, NEU!), kauzig-künstlerischen Eigensinn (Asmus Tietchens, Conrad Schnitzler) und LSD-Esoterik (Tangerine Dream, Kosmische Kuriere) bewegt. Es ist hier gut dokumentiert, auch Tietchens, Möbius und Roedelius sind einnehmende Erzähler. Nur der esoterischen Fraktion geht die Nachdenklichkeit ein wenig ab: Während viele ihre politischen Positionen relativieren, erklärt eigentlich niemand, wie man zu den, nun ja, metaphysischen Einlassungen von einst heute steht. Die Synthesizer-Fraktion hat auf die nächste und vor allem die übernächste Generation weltweit den größten Einfluss gehabt. Dennoch wären neben Gabi Delgado andere Gesprächspartner naheliegend gewesen: die Frauen um und in Malaria!, die ja mit Tangerine-Dream- und anderen Nachfahren gearbeitet haben. Oder S.Y.P.H., die mit lakonischem Humor und vom antiesoterischen Punkrock kommend sich in die Zusammenarbeit mit Holger Czukay gestürzt haben.
Doch da galt schon „No Future“. Dallach hat sein Buch aber, wie vor ihm schon David Stubbs („Future Days“), der Zukunft gewidmet, die damals offen zu sein schien. Dabei stellen vor allem Peter Brötzmann und wieder Irmin Schmidt ziemlich klar, dass diese Zukunft kein Versprechen, keine Utopie war, sondern aus der existenziellen Notwendigkeit hervorging, sich von einer Vergangenheit abzusetzen, mit der man nichts zu tun haben wollte, vor der man so weit, so schnell und so laut wie möglich weglaufen wollte: der deutschen – im Gegensatz zu all den englischen und amerikanischen Prog-Rockern und Free Jazzern, die sich immer auch auf irgendetwas aus der Tradition beziehen konnten. Diese (west-)deutsche Mischung aus Wegrennen und Verdrängen, Verarbeiten und Umlenken dieser Vergangenheit war der Kern dieser Musik.
Der trübe Alltag: Selten spielten
„Can“ und „Faust“, meist waren
es „Jane“, „Karthargo“, „Wind“
Irmin Schmidt erzählt
am schönsten, verschlungensten
und reflektiertesten
Christoph Dallach: Future Sounds – Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
512 Seiten, 18 Euro.
Komische Heilige mit ernsten Musikdoktrinen: Can 1971 mit Organist Irmin Schmidt (li.), Schlagzeuger Jaki Liebezeit, Gitarrist Michael Karoli, Ulli Gerlach, Bassist Holger Czukay und vorne Damo Suzuki, der bis 1973 Sänger der Band war.
Foto: Jacques Breuer / Picture Alliance
LSD-Esoterik und elektronische Experimente: Frank Fiedler und Thomas Fricke von Popol Vuh vor ihrem Moog-3-Synthesizer.
Foto: Bettina Fricke / Suhrkamp
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Christoph Dallach hat eine große Oral History des Krautrock zusammengestellt. Endlich wird auch
klar, wie unwichtig visionäres Zukunftsdenken war – und wie wichtig die deutsche Geschichte
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN
Am Ende wünscht man sich, all diese alten Männer, die hier reiches biografisches Material ausbreiten, erschütternde Anekdoten und immer wieder unerwartete Einsichten zum Besten geben, würden genau das tun, was sie einst zusammengebracht hat: Musik machen. Wenn das Entstehen relevanter, faszinierender, wegbereitender Musik an Erinnerungen geknüpft wird, an Seelenzustände und intellektuelle Stadien, die man lange hinter sich gelassen hat, will man doch hören, wie sie heute das heiße Material von damals anfassen würde: von dieser, über die Jahre gewonnenen reflexiven Distanz aus, die man zwischen sich und LSD, endlose Jams und komische Heilige mit ernsten Musikdoktrinen in den vergangenen 50 Jahren gelegt hat.
Stattdessen haben die meisten dieser Männer diese Jahre den Rezipienten und Rezipientinnen geschenkt, die in immer neuen Generationen immer mehr an Krautrock entdeckt, gewürdigt, wiederveröffentlicht und weitergeführt haben. Auch wenn für meine Generation in der alten BRD Punk genau gegen diese Musik erfunden wurde, haben unsere britischen und amerikanischen Idole schon damals für Krautrock geschwärmt: John Lydon von den Sex Pistols oder Pete Shelley von den Buzzcocks waren nicht die einzigen bekennenden Krautfans – allerdings mochten die noch Bands, die man als Punk gut mögen konnte wie die wilden Amon Düül II oder Can, die eben einfach gut waren. Die Besten. Von Generation zu Generation wurden immer esoterischere und unerträglichere schwäbische Tabla-Mönche und schwelgende Orgelromantiker in den Kanon aufgenommen. Amerikanische Experimentalhipster wie Oneohtrix Point Never sind notorisch stolz darauf, die hässlichsten und abgelegensten Krautelektroniker zu kennen, zu zitieren und zu verwursten.
Der Musikjournalist Christoph Dallach hat für sein Buch zwei vorderhand langweilige Entscheidungen getroffen, die aber ausgesprochen unterhaltsame Resultate hervorgebracht haben. Zum einen hat er sich das Thema Krautrock vorgeknöpft, über das es eigentlich mehr als genug zu lesen gibt. Dringend notwendig wäre stattdessen mal eine Darstellung von italienischem und französischem, osteuropäischem oder lateinamerikanischem Prog- und Experimentalrock der Siebziger. Oder eine Befreiung der Siebzigerjahre-Diagnostik vom nationalkulturellen Blickwinkel. Zum anderen hat er das 1982 durch die Edie-Sedgwick-Biografie von Jean Stein und George Plimpton aufgekommene und von Legs McNeil und Gillian McCain für ihre Geschichte des New Yorker Punkrock erfolgreich adaptierte Genre der Oral History oder O-Ton-Dokumentation wiederbelebt, das schon Jürgen Teipel („Verschwende Deine Jugend“) und nach ihm diverse Nachahmer für die deutschsprachige Musik- und Generationengeschichtsschreibung eingesetzt hatten.
Dass die Wahrheit über historische Momente in den O-Tönen der Zeitgenossen bewahrt werde, ist ein Irrtum, der auch 90 Prozent aller zeitgenössischen Dokumentarfilme ruiniert. Aber in Dallachs „Future Sounds“ werden gerade nicht irgendwelche Fakten in überflüssig authentische O-Töne übersetzt. Vielmehr kommen Leute zu Wort, und auch viel ausführlicher als sonst in solchen Werken, von denen man sich gerne etwas erzählen lässt. Dabei gelingt zwar selbst den eloquentesten unter ihnen selten, zu den einschlägigen Siebziger-Themen wie LSD, die sagenhafte Provinzialität der restlichen BRD und einer insgesamt viel improvisierteren und unprofessionelleren Zeit noch Neues zu sagen. Aber fast alle beherrschen sowohl das biografische wie das historische Genre: Sie wissen, dass über all das schon sehr oft geredet wurde und suchen nicht nach dem unbekannten Faktum oder Album, sondern nach interessanten Deutungen, die sie an ihre Lebensgeschichte andocken.
Dabei hilft es, dass Dallach bei der Wahl seiner Gesprächspartner über den Tellerrand des Genres hinausgeschaut hat: Zu Wort kommen Free Jazzer wie der eigentlich immer richtig liegende Peter Brötzmann und der große Alexander von Schlippenbach, der mit Jaki Liebezeit in einem Kölner Jazz-Ensemble gespielt hat, das sogar in Bernd-Alois-Zimmermann-Opern auftrat. Er respektierte Liebezeits Wechsel zur Rockmusik, hat sich aber nie eine Can-Platte angehört. Und mit Agitation-Free-Gründungsmitglied Lutz Ludwig Kramer kann auch mal eine andere und erfrischende Stimme der Westberliner Avantgarde um das legendäre „Zodiak“ auspacken. Renate Knaup wirft ein neues Licht auf die Amon-Düül-Geschichte: Die meisten Mitglieder kamen aus betuchteren Familien.
Mit Gabi Delgado-López, Jaki Liebezeit, Holger Czukay und Christian Burchard sind leider auch schon vier der Interviewten während der Produktion des Buches verstorben. Mit Gerd Augustin, Siegfried E. Loch und Bernd Dopp sind Plattenfirmen und Veranstalter vertreten, mit Siegfried Schmidt-Joos, Manfred Gillig und Winfried Trenkler Journalisten, die der Szene freundlich gegenüberstanden. Jemand, der wie der Autor dieser Zeilen während der Jahre 1971 bis 73 nahezu wöchentlich eine andere deutsche Progrock-Band live sah, vermisst ein wenig den trüben Alltag dieser Musik: Nur selten spielten Can und Faust, meist waren es Jane, Karthargo und Wind – und die waren alle sehr beliebte Headliner. Der Eindruck, dass man in Deutschland während der Siebziger, als Bands Wallenstein und Novalis hießen, flächendeckend interessante experimentelle Musik machte, konnte sich nur Briten aufdrängen, die ein Jahrzehnt später das Material am Schreibtisch sortierten. Und auch Faust sollten eigentlich unter dem Namen Götterdämmerung auftreten.
Der von denselben Briten viel verbreitete Mythos, die Radikalität der Musik habe mit einer politischen korrespondiert und in den Siebzigern habe der durchschnittliche deutsche Langhaarige die Zeit zwischen einer Fassbinder-Matinee und einem Popol-Vuh-Konzert damit verbracht, RAF-Leute zu verstecken und die Rote Hilfe aufzubauen, wird dankenswerterweise auch korrigiert: Von jener Nacht abgesehen, die Baader, Ensslin und Gefolge in den Betten der Münchner Düül-Kommune verbracht haben, erfahren wir, dass die meisten Protagonisten Willy Brandt nähergestanden haben als den maoistischen K-Gruppen. Den „gläubigen Kalbsblick“ bei der SDAJ und dem Moskau-treuen Flügel des Siebziger-Kommunismus beschreibt Irmin Schmidt sehr treffend.
Überhaupt Irmin Schmidt. Es gibt drei Kristallisationsfiguren in diesem Buch, auf die die Narration immer wieder zurückkommt: der bekannte Intellektuelle und Faust-Produzent Uwe Nettelbeck, der leider nicht mehr lebt, der umtriebige Deuter, Autor und später Organisator von Labels und LSD-Nachschubwegen Rolf-Ulrich Kaiser, der leider oder für manche Betroffene auch: zum Glück verschollen ist und als Untoter durch diese Oral History geistert, und Irmin Schmidt, der am schönsten, verschlungensten und reflektiertesten erzählt.
Brian Eno erklärt die deutsche Musik der Siebziger damit, dass sie sich nicht auf andere Popmusik beziehe, sondern auf bildende Kunst – aber das ist eher seine Geschichte und die der britischen Art Schools. Schmidt steht für eine Geschichte, die bildende Kunst vor allem als Fluxus, also bereits unter Bezugnahme auf zeitbasierte Künste wie Musik einschließt, aber ansonsten ganz andere Ursprünge hat: Neue Musik als Anfang und Jimi Hendrix als einschneidende Ermunterung, Jazz und improvisierte Musik ganz neu, nämlich elektrisch, glamourös und vor allem laut und noisy neu zu erfinden. Hendrix ist das meistgenannte Erweckungserlebnis, das aber nie so funktioniert hätte, wenn es nicht eine schon entwickelte Avantgardeprägung gegeben hätte, die der Gitarrist konkret negiert hätte.
Der andere Strang der hier besprochenen Musik ist das elektronische Experiment, das sich zwischen den Polen Düsseldorfer Hippie-Camp (Kraftwerk, Rother, NEU!), kauzig-künstlerischen Eigensinn (Asmus Tietchens, Conrad Schnitzler) und LSD-Esoterik (Tangerine Dream, Kosmische Kuriere) bewegt. Es ist hier gut dokumentiert, auch Tietchens, Möbius und Roedelius sind einnehmende Erzähler. Nur der esoterischen Fraktion geht die Nachdenklichkeit ein wenig ab: Während viele ihre politischen Positionen relativieren, erklärt eigentlich niemand, wie man zu den, nun ja, metaphysischen Einlassungen von einst heute steht. Die Synthesizer-Fraktion hat auf die nächste und vor allem die übernächste Generation weltweit den größten Einfluss gehabt. Dennoch wären neben Gabi Delgado andere Gesprächspartner naheliegend gewesen: die Frauen um und in Malaria!, die ja mit Tangerine-Dream- und anderen Nachfahren gearbeitet haben. Oder S.Y.P.H., die mit lakonischem Humor und vom antiesoterischen Punkrock kommend sich in die Zusammenarbeit mit Holger Czukay gestürzt haben.
Doch da galt schon „No Future“. Dallach hat sein Buch aber, wie vor ihm schon David Stubbs („Future Days“), der Zukunft gewidmet, die damals offen zu sein schien. Dabei stellen vor allem Peter Brötzmann und wieder Irmin Schmidt ziemlich klar, dass diese Zukunft kein Versprechen, keine Utopie war, sondern aus der existenziellen Notwendigkeit hervorging, sich von einer Vergangenheit abzusetzen, mit der man nichts zu tun haben wollte, vor der man so weit, so schnell und so laut wie möglich weglaufen wollte: der deutschen – im Gegensatz zu all den englischen und amerikanischen Prog-Rockern und Free Jazzern, die sich immer auch auf irgendetwas aus der Tradition beziehen konnten. Diese (west-)deutsche Mischung aus Wegrennen und Verdrängen, Verarbeiten und Umlenken dieser Vergangenheit war der Kern dieser Musik.
Der trübe Alltag: Selten spielten
„Can“ und „Faust“, meist waren
es „Jane“, „Karthargo“, „Wind“
Irmin Schmidt erzählt
am schönsten, verschlungensten
und reflektiertesten
Christoph Dallach: Future Sounds – Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
512 Seiten, 18 Euro.
Komische Heilige mit ernsten Musikdoktrinen: Can 1971 mit Organist Irmin Schmidt (li.), Schlagzeuger Jaki Liebezeit, Gitarrist Michael Karoli, Ulli Gerlach, Bassist Holger Czukay und vorne Damo Suzuki, der bis 1973 Sänger der Band war.
Foto: Jacques Breuer / Picture Alliance
LSD-Esoterik und elektronische Experimente: Frank Fiedler und Thomas Fricke von Popol Vuh vor ihrem Moog-3-Synthesizer.
Foto: Bettina Fricke / Suhrkamp
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2021Zukunftsklänge aus dem Zodiak
Deutsches war cool und verlockend: Christoph Dallach würdigt den Krautrock, indem er dessen wichtigste Vertreter ausführlich zu Wort kommen lässt.
Was hat sich die deutsche Plattenindustrie austricksen lassen! Der Journalist und Manager Uwe Nettelbeck verkaufte Anfang der Siebzigerjahre die Experimentalband Faust als die "neuen Beatles". Das Musiklabel Polydor war in Sorge, das nächste große Ding zu verpassen, nahm sie unter Vertrag, kaufte der Truppe eine alte renovierte Schule in Wümme bei Bremen und ließ sie ein Jahr lang Aufnahmen machen. Irgendwann merkte die Plattenfirma, dass dabei keine Hits heraussprangen, sondern die langhaarigen Käuze eher an dem Teil von "I Am The Walrus" interessiert waren, an dem sich die Bänder rückwärts drehen.
Nach zwei Alben ließ man sie fallen. Dafür hatte Richard Branson mit seinem neu gegründeten Virgin-Label Interesse. Die Verkaufszahlen blieben überschaubar, doch der kulturelle Nachhall der deutsch-österreichisch-französischen Band ist so mächtig, dass Faust neben Can und Neu! zum Inbegriff des Krautrock wurden. Karrierehighlight: Ein auf der Straße angesprochener Arbeiter sprengt mit einem Presslufthammer die Schallgrenze eines Rockkonzerts und nimmt das Genre Industrial vorweg. Die drei Vorzeigegruppen haben Horden jüngerer Bands inspiriert. "Faust sind im Ausland immer besser angekommen als in Deutschland", beklagt sich Bandmitglied Hans-Joachim Irmler. "Wahrscheinlich müssen wir erst alle tot sein, bis sich hier jemand für uns interessiert."
Zu dieser Wahrnehmung passt, dass die bislang meistbeachteten Bücher über den Krautrock aus dem Ausland stammen. Der New-Wave-Sänger Julian Cope (The Teardrop Explodes) hat Mitte der Neunzigerjahre mit "Krautrocksampler" ein kleines Revival eingeläutet. "Future Days", der Name einer der besten Can-Platten, gab der umfassenden Würdigung des englischen Musikjournalisten David Stubbs den Titel. Anerkennung fand auch "Krautrock: Underground, LSD und kosmische Kuriere", das der deutsche Journalist Henning Dedekind im vergangenen Jahr vorgelegt hat.
Doch ein Buch wie "Future Sounds" des Zeit- und Spiegel-Online-Autors Christoph Dallach hat es noch nicht gegeben. Es ist eine breit angelegte Oral History. Alle Protagonisten, die zum Zeitpunkt der Recherche noch lebten, kommen ausführlich zu Wort - von den Can-Mitgliedern Holger Czukay, Irmin Schmidt und Jaki Liebezeit über den Wallenstein-Keyboarder und Gastronomiekritiker Jürgen Dollase bis zu Renate Knaup und Chris Karrer von Amon Düül II. Ebenso eine Reihe von Fans und Zeitgenossen wie Jean-Michel Jarre, Paul Weller oder New-Order-Drummer Stephen Morris.
"Krautrock war etwas Eigenständiges, das europäische Wurzeln hatte, und das passte eben nicht allen", sagt Jarre, einer der Pioniere elektronischer Musik. Und diese Wurzeln lässt Dallach seine Protagonisten detailliert beschreiben: der Unwille, amerikanischen Blues nachzuspielen, der Kulturbruch durch zwölf Jahre Drittes Reich, die mangelnde Reflexion der Väter über diese Schande, der Experimentiergeist, der mit den politischen Umbrüchen von 1968 korrespondierte. Doch in der Gesellschaft war das kaum vermittelbar. "Auf einmal war alles Riskante verdächtig, gefährlich, weil es zu Faschismus führen könnte. Aber auf der Basis hätte man ja gleich aufhören können", sagt Achim Reichel, der nach seiner erfolgreichen Beat-Phase mit den Rattles im Projekt A.R. & Machines selbst zum Krautrocker wurde.
Die Methode Dallachs, Protagonisten ausführlich zu Wort kommen zu lassen, hat sich seit Jürgen Teipels Buch "Verschwende deine Jugend" über die Neue Deutsche Welle bewährt. Viele der Beteiligten sind zwischenzeitlich verstorben, das lässt "Future Sounds" wie ein Vermächtnis wirken. Natürlich bietet eine Oral History Spielraum für die Beschönigung der eigenen Rolle. Doch die Krautrocker waren reflektierte Musiker, die sich über Konzepte genauso Gedanken machten wie über politische Umstände und Vorbilder. "Ich wollte ganz persönlich am kulturellen Wiederaufbau teilhaben und etwas dazu beitragen", sagt Irmin Schmidt.
Dallach tritt als Autor nicht auf, aber seine Leistung als Kurator ist groß. Er setzt eine sinnvolle Gewichtung. Die beiden international am meisten geschätzten und konzeptionell tiefgründigsten Musiker Schmidt und Michael Rother haben große Redeanteile. Die Berliner Schule um Tangerine Dream, Agitation Free und Ash Ra Tempel wird ausführlich gewürdigt, und die Erzählungen von Protagonisten wie Joachim Roedelius (Cluster) beschwören die haschischgeschwängerte Luft im kurzlebigen Berliner Zodiak-Club.
Auch die LSD-Experimente des Labelbetreibers Rolf-Ulrich Kaiser mit seinen Kosmischen Kurieren und die herausgehobene Position des Produzenten Conny Plank finden Erwähnung. "Diese Bands hatten eine Tiefe und Wut, die die der englischen Bands, die ich damals kannte, übertraf", sagt Julian Cope. Stephen Morris, der mit seiner Schulband "Oh Yeah" von Can gecovert hat, hebt hervor: "Deutsches war nicht im Entferntesten uncool. Im Gegenteil, es war fremd und verlockend."
Heute erscheint klarer, was das Erbe der Krautrocker ist. Radiohead, Sonic Youth, die halbe elektronische Musikszene und der Postrock berufen sich darauf. Iggy Pop beschreibt, wie ihn der Krautrock in den Siebzigerjahren befreit habe und seine Spuren immer deutlicher hinterlasse. Christoph Dallach hat das Buch geschrieben, das seine Gestalter würdigt und ihren Rang im eigenen Land deutlich macht. PHILIPP KROHN
Christoph Dallach: "Future Sounds". Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 511 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutsches war cool und verlockend: Christoph Dallach würdigt den Krautrock, indem er dessen wichtigste Vertreter ausführlich zu Wort kommen lässt.
Was hat sich die deutsche Plattenindustrie austricksen lassen! Der Journalist und Manager Uwe Nettelbeck verkaufte Anfang der Siebzigerjahre die Experimentalband Faust als die "neuen Beatles". Das Musiklabel Polydor war in Sorge, das nächste große Ding zu verpassen, nahm sie unter Vertrag, kaufte der Truppe eine alte renovierte Schule in Wümme bei Bremen und ließ sie ein Jahr lang Aufnahmen machen. Irgendwann merkte die Plattenfirma, dass dabei keine Hits heraussprangen, sondern die langhaarigen Käuze eher an dem Teil von "I Am The Walrus" interessiert waren, an dem sich die Bänder rückwärts drehen.
Nach zwei Alben ließ man sie fallen. Dafür hatte Richard Branson mit seinem neu gegründeten Virgin-Label Interesse. Die Verkaufszahlen blieben überschaubar, doch der kulturelle Nachhall der deutsch-österreichisch-französischen Band ist so mächtig, dass Faust neben Can und Neu! zum Inbegriff des Krautrock wurden. Karrierehighlight: Ein auf der Straße angesprochener Arbeiter sprengt mit einem Presslufthammer die Schallgrenze eines Rockkonzerts und nimmt das Genre Industrial vorweg. Die drei Vorzeigegruppen haben Horden jüngerer Bands inspiriert. "Faust sind im Ausland immer besser angekommen als in Deutschland", beklagt sich Bandmitglied Hans-Joachim Irmler. "Wahrscheinlich müssen wir erst alle tot sein, bis sich hier jemand für uns interessiert."
Zu dieser Wahrnehmung passt, dass die bislang meistbeachteten Bücher über den Krautrock aus dem Ausland stammen. Der New-Wave-Sänger Julian Cope (The Teardrop Explodes) hat Mitte der Neunzigerjahre mit "Krautrocksampler" ein kleines Revival eingeläutet. "Future Days", der Name einer der besten Can-Platten, gab der umfassenden Würdigung des englischen Musikjournalisten David Stubbs den Titel. Anerkennung fand auch "Krautrock: Underground, LSD und kosmische Kuriere", das der deutsche Journalist Henning Dedekind im vergangenen Jahr vorgelegt hat.
Doch ein Buch wie "Future Sounds" des Zeit- und Spiegel-Online-Autors Christoph Dallach hat es noch nicht gegeben. Es ist eine breit angelegte Oral History. Alle Protagonisten, die zum Zeitpunkt der Recherche noch lebten, kommen ausführlich zu Wort - von den Can-Mitgliedern Holger Czukay, Irmin Schmidt und Jaki Liebezeit über den Wallenstein-Keyboarder und Gastronomiekritiker Jürgen Dollase bis zu Renate Knaup und Chris Karrer von Amon Düül II. Ebenso eine Reihe von Fans und Zeitgenossen wie Jean-Michel Jarre, Paul Weller oder New-Order-Drummer Stephen Morris.
"Krautrock war etwas Eigenständiges, das europäische Wurzeln hatte, und das passte eben nicht allen", sagt Jarre, einer der Pioniere elektronischer Musik. Und diese Wurzeln lässt Dallach seine Protagonisten detailliert beschreiben: der Unwille, amerikanischen Blues nachzuspielen, der Kulturbruch durch zwölf Jahre Drittes Reich, die mangelnde Reflexion der Väter über diese Schande, der Experimentiergeist, der mit den politischen Umbrüchen von 1968 korrespondierte. Doch in der Gesellschaft war das kaum vermittelbar. "Auf einmal war alles Riskante verdächtig, gefährlich, weil es zu Faschismus führen könnte. Aber auf der Basis hätte man ja gleich aufhören können", sagt Achim Reichel, der nach seiner erfolgreichen Beat-Phase mit den Rattles im Projekt A.R. & Machines selbst zum Krautrocker wurde.
Die Methode Dallachs, Protagonisten ausführlich zu Wort kommen zu lassen, hat sich seit Jürgen Teipels Buch "Verschwende deine Jugend" über die Neue Deutsche Welle bewährt. Viele der Beteiligten sind zwischenzeitlich verstorben, das lässt "Future Sounds" wie ein Vermächtnis wirken. Natürlich bietet eine Oral History Spielraum für die Beschönigung der eigenen Rolle. Doch die Krautrocker waren reflektierte Musiker, die sich über Konzepte genauso Gedanken machten wie über politische Umstände und Vorbilder. "Ich wollte ganz persönlich am kulturellen Wiederaufbau teilhaben und etwas dazu beitragen", sagt Irmin Schmidt.
Dallach tritt als Autor nicht auf, aber seine Leistung als Kurator ist groß. Er setzt eine sinnvolle Gewichtung. Die beiden international am meisten geschätzten und konzeptionell tiefgründigsten Musiker Schmidt und Michael Rother haben große Redeanteile. Die Berliner Schule um Tangerine Dream, Agitation Free und Ash Ra Tempel wird ausführlich gewürdigt, und die Erzählungen von Protagonisten wie Joachim Roedelius (Cluster) beschwören die haschischgeschwängerte Luft im kurzlebigen Berliner Zodiak-Club.
Auch die LSD-Experimente des Labelbetreibers Rolf-Ulrich Kaiser mit seinen Kosmischen Kurieren und die herausgehobene Position des Produzenten Conny Plank finden Erwähnung. "Diese Bands hatten eine Tiefe und Wut, die die der englischen Bands, die ich damals kannte, übertraf", sagt Julian Cope. Stephen Morris, der mit seiner Schulband "Oh Yeah" von Can gecovert hat, hebt hervor: "Deutsches war nicht im Entferntesten uncool. Im Gegenteil, es war fremd und verlockend."
Heute erscheint klarer, was das Erbe der Krautrocker ist. Radiohead, Sonic Youth, die halbe elektronische Musikszene und der Postrock berufen sich darauf. Iggy Pop beschreibt, wie ihn der Krautrock in den Siebzigerjahren befreit habe und seine Spuren immer deutlicher hinterlasse. Christoph Dallach hat das Buch geschrieben, das seine Gestalter würdigt und ihren Rang im eigenen Land deutlich macht. PHILIPP KROHN
Christoph Dallach: "Future Sounds". Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 511 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Heute erscheint klarer, was das Erbe der Krautrocker ist. Radiohead, Sonic Youth, die halbe elektronische Musikszene und der Postrock berufen sich darauf. ... Dallach hat das Buch geschrieben, das seine Gestalter würdigt und ihren Rang im eigenen Land deutlich macht.« Philipp Krohn Frankfurter Allgemeine Zeitung 20211027