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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Wirklichkeit als hageldichte Folge weiblicher Erscheinungen: Der neue, peinliche Roman
von Martin Walser
Martin Walser ist vor gut einer Woche einundneunzig Jahre alt geworden. Jetzt ist sein neues Buch "Gar alles" erschienen, es spielt zwischen Oktober 2016 und Sommer 2017, erzählt in Form von Briefen, die ein Absender, der sich Justus Mall nennt und Oberregierungsrat im Justizministerium war, in einem Blog an eine Frau, die es da draußen vielleicht gibt, vielleicht auch nicht, in die Welt schickt. Weil er hofft, sie könnte sein Dilemma lösen, dass er zwei Frauen auf einmal liebt: Die eine, mit der er schon ewig lebt, und eine andere, die sich aber vor ihm zurückzieht.
Der Absender hat selbst Bücher veröffentlicht, eins über die Lüge, eins über den Irrtum, und deswegen einen Kritiker mit drei Initialen, DPA, der ihn begleitet und verlässlich verreißt. Eines Abends dann berührt der Absender in der Pause von "Tristan und Isolde" eine Frau mit der Spitze seines Zeigefingers am Schenkel und ist gespielt erschrocken darüber. Am nächsten Tag ist die Sache in der Welt, der Oberregierungsrat wird festgenommen, fällt in Ungnade, kurz darauf ist dieses Buch vorbei, und dankbar schlägt man es zu: Weil die Selbstgefälligkeit unerträglich ist, die einem auf jeder, wirklich jeder Seite dieses Dings begegnet, das Walser und sein Verlag "Roman" genannt haben, das aber nichts als das Zeugnis des ungeheuren Privilegs ist, ein etablierter Schriftsteller zu sein, der im späten Alter seines Ruhms, festbetoniert in seiner unerschütterlicher Weltwichtigkeit, schreibt, was und wie es ihm passt - wird schon gedruckt, gelesen, gefeiert.
Und es gibt ja genug, die ihm huldigen. Die ihm zuhören, wie er dröhnt und sich selbst salbt. Und die ihm kaum mehr widersprechen, wenn er sich, wie auch in diesem Buch, wie in fast jedem Interview, das Martin Walser gibt, schon wieder am 2013 verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki abarbeitet, als dessen Opfer er sich offenbar noch immer fühlt: Diesmal also hat Walser einen Kritiker in seinen "Roman" hineingeschrieben, Dolf Paul Alt, der "Pol" genannt wird, dessen Funktion innerhalb der Geschichte komplett unklar bleibt, nur: "Er hat noch nie etwas, was ich geschrieben habe, gut finden können. So gilt er also im Medienbetrieb als der für mich zuständige Fachmann." Ein Literaturkritiker mit drei Initialen, der "Pol" genannt wird (Reich-Ranicki ist Überlebender des Warschauer Gettos) und dessen Karriere darauf aufbaut, die Bücher des Absenders zu kritisieren: Es ist unangenehm, es ist peinlich, wie sehr Walser das letzte Wort haben will. Er wird es nicht kriegen, vielleicht fängt er deswegen immer wieder davon an.
"Ach, ich teile jetzt besser mit, dass ich an keiner mir auffallenden Frau vorbeigehenden kann, ohne daran zu denken, dass diese Frau grell-schön ist oder erhaben-schön ist", schreibt der Absender im November 2016. "Du kriegst unwillkürlich die Leistung mit, weil die Natur das nie so schaffen würde. Diese Frau hat aus sich ein Kunstwerk gemacht. Oder eine ist irrsinnig weiblich, einfach durch Busen plus Blick. Die Wirklichkeit ist eine hageldichte Folge weiblicher Erscheinungen. Und die sind zur Verführung angelegt, Verführung zum Kauf von irgendwas, und sei es der Frau selbst." Schon erscheinen die ersten Kritiken, die "Gar alles" einen unappetitlichen #MeToo-Roman nennen, weil es hier ständig um "steile Brüste" und "trockene Scheiden" geht und der Erzähler sich von Mädchen und jungen Frauen und Schenkeln umzingelt fühlt. Und jede weibliche Haut, die ihm begegnet, nur ein weiterer Beweis dafür ist, dass nackte weibliche Haut nur für Männer, Bewunderer erschaffen wurde, auf dass sie diese nackte Haut rühmen: "Sink hernieder, Nacht der Liebe, singsangte er und tippte mit einem Zeigefinger auf die gleißende Schenkelrundung, als wolle er sagen: Du, Schenkel, bist die Nacht der Liebe."
Übergriffigkeit zur Minne umzucodieren, den Absender als von seinen Sinnen überwältigten Liebestrottel hinzustellen, der nur "spielen" will, dann aber zum "Zuschauer meines Untergangs" wird: alles schon schwach genug. Walser aber ist noch dazu besessen von der Figur des missverstandenen Naivlings. Auch der Absender in diesem Buch ist wieder so einer: Irgendwas redet aus ihm, irgendwas in ihm macht, dass er eine Frau anfasst, und schon prügeln alle auf ihn ein. Ständig ringt er mit der Sprache, und wie sie doch immerzu scheitert, das in Worte zu fassen, was ist: "Ich kann nur noch sagen, was ich sehe, und was ich sehe, versinkt, wenn ich es sagen will." Oder: "Verzweifeln ist ein Wort, bedeutungslos wie alles, was man sagen kann."
Aber die Lautstärke und Intensität, der aphoristische Gestus, dieses ganze Herausposaunen des gewichtigen Worts vom fehlbaren, unzulänglichen Wort unterminiert den Zweifel dann schon wieder. Eine "choix aus meinem Wörtergarten" schickt der Absender der Unbekannten zum Jahresende 2016, und dann kommen fünf Seiten Erkenntnisse: "Hier sitze ich besser als dort, wo ich lieber wäre" oder "Von Gedichten kann man verlangen, dass sie einem bekannt vorkommen". Klar, und nachts ist es kälter als draußen. Der Firnis des Fiktionalen, mit dem Walser sich und seine Figur zu schützen versucht, ist zu dünn, um den Autor hinter diesen aufgeblasenen Plattitüden nicht genau zu erkennen. Er tut so, als hadere er mit der Macht, die er genießt.
TOBIAS RÜTHER
Martin Walser: "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte". Rowohlt, 112 Seiten, 18 Euro
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