Wenn die Zukunft vorherbestimmt ist, hat die Gegenwart keine Bedeutung - über die Entstehung unseres modernen Zeitempfindens Ein Leben ohne Termine ist heute kaum vorstellbar. Zeit ist ein kostbares Gut, das verwaltet und genutzt sein will. Doch die Zeit ist vor allem eine Idee. Lange glaubte man, die Apokalypse und das Reich Gottes stünden kurz bevor - wozu also die Gegenwart gestalten, da man damit die Zukunft doch nicht verändern kann? Der renommierte Historiker Achim Landwehr erzählt, wie sich diese Zeitvorstellungen im 17. Jahrhundert wandelten und Gegenwart und Zukunft allmählich an Bedeutung gewannen: Kalender boten nun Platz für persönliche Einträge, Zeitungen berichteten vom Hier und Heute, und mit Versicherungen sorgte man für das Morgen vor. Die überraschende Geschichte von der Geburt eines neuen Zeitwissens, durch das sich die Welt ebenso grundlegend wandelte wie durch die großen Entdeckungen von Galilei bis Newton.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Eroberung der Gegenwart als Emazipationsprozess erkennt Thomas Meyer mit Achim Landwehrs Buch. Wenn der Autor erstmals Forschungen zum Wandel der Wahrnehmung, Bedeutung und Funktionalisierung von Zeit in einer starken These zusammenfasst, sieht Meyer eine Lücke geschlossen. Die Geburt der Gegenwart im 17. Jahrhundert belegt ihm der Autor dabei auf beeindruckende Weise mit "imlodierenden" Zukunftsaussichten, einer Stück für Stück wegfallenden Vergangenheit und sich auflösenden religiösen Weltbildern. Landwehrs einfache Feststellung, Gegenwart sei die Zeit, in der wir tatsächlich lebten, täuscht den Rezensenten nicht darüber hinweg, dass das Buch klug konzipiert und gut und vor allem sehr gelassen geschrieben ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2014Der Zukunft entgegen
Achim Landwehr über Zeiterfahrung im 17. Jahrhundert
Wenn es stimmt, dass Historiker aus Zeit Sinn machen, dann haben sie sich um ihren wichtigsten Rohstoff bislang erstaunlich wenig gekümmert. Die Frage von Reinhart Koselleck nach den historischen Formen des Zeitbewusstseins wurde nur selten aufgegriffen und in eine Forschungsagenda umgesetzt. Achim Landwehr reiht sich mit seiner Studie zum Zeitbewusstsein des europäischen 17. Jahrhunderts jetzt prominent in die kleine Schar der Zeitforscher ein.
Seine Untersuchung ist zentriert um den (Taschen-)Kalender als einer seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts gefertigten und dann schnell in großen Stückzahlen verbreiteten Druckschrift. Man kann an ihr im Verlauf des 17. Jahrhunderts eine ganze Reihe von formalen und inhaltlichen Veränderungen beobachten, deren wichtigste in diesem Zusammenhang aber ist, dass diese Büchlein immer mehr zu Schreibkalendern werden, die ihre Eigentümer durch leere Seiten auffordern, Termine einzutragen, also ihre Gegenwart kalendarisch und chronometrisch zu gestalten und sie sozial zu koordinieren. Landwehr schließt daraus auf die "Erfindung der Gegenwart" im 17. Jahrhundert und trägt nach einer Exposition in sechs weiteren Kapiteln so einfallsreich wie durchdacht Material zusammen, um diese These zu untermauern.
Die Argumentation folgt dabei der insbesondere in den Sozialwissenschaften ausgearbeiteten These, dass die Komplexität moderner Gesellschaften ein Zeitbewusstsein voraussetzt, das die Gegenwart aus der Herrschaft der Vergangenheit befreit und sie damit zu einem Raum macht, in dem man Pläne für eine unbekannte Zukunft umzusetzen sucht. Die Befreiung von der Vergangenheit, die man am Verblassen der Endzeiterwartung ebenso ablesen kann wie an genealogischen Aufzeichnungen europäischer Adelsgeschlechter oder der Erfindung der Mode, setzt eine Gegenwart frei, die in der Berichterstattung der periodischen Zeitung seit Mitte des 17. Jahrhunderts bereits für viele Zeitgenossen nachvollziehbar wird.
Gesellschaften, die sich der Erfahrung des Zusammenhangs gleichzeitiger Ereignisse aussetzen, werden komplizierter und müssen Kontingenz bewältigen, indem sie sich um die Gestaltung von Zukunft kümmern. Die letzten Kapitel des Buches schildern anschaulich, wie das 17. Jahrhundert schwankt zwischen Suche nach Ordnung und ihrer Dynamisierung auf eine Zukunft hin, wofür Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik und Versicherungen Grundlagen bereitstellen.
Landwehr verweigert sich mit Recht einer linearen Erzählung und betont stets die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeitordnungen sowie die fließenden Übergänge zwischen ihnen. Statt von Kausalität spricht er von Emergenz, also von nicht Absichten und Ursachen zurechenbarem Entstehen. Die Plausibilität seiner These ergibt sich daraus, dass die Erfindung der Gegenwart aus unterschiedlichen Perspektiven und auf unterschiedlichen Feldern beobachtet wird. Man hätte daher erwarten können, dass die Unwahrscheinlichkeit dieser "Erfindung" zum Thema wird und Landwehr neben der Auflistung der Symptome auch Argumente für ihr Möglichwerden zusammenträgt. Emergenz lässt sich dann beobachten, wenn man einrechnet, dass es auch anders hätte kommen können. Nach solchen Überlegungen sucht man leider vergeblich. Das führt dem Leser vor Augen, dass es mit einem Verzicht auf Kausalität allein doch nicht getan ist.
Vielleicht ist dies aber auch ein Zugeständnis an den imaginierten Leser. Landwehr stellt ihn sich offenkundig nicht zunächst als professionellen Historiker und Spezialisten des 17. Jahrhunderts vor, sondern als interessierten Laien. Dieser wird immer wieder in längeren Passagen bei seinen (unterstellten) Zeiterfahrungen und seinem "Zeitwissen" aus der aktuellen Gegenwart abgeholt, um ihm die vielfach andere Vergangenheit des 17. Jahrhunderts im Kontrast nahezubringen und ihn in die komplizierten theoretischen Diskussionen über das Wesen der Zeit einzuführen. Dieser vorgestellte Leser wird Landwehrs Entgegenkommen sicherlich zu würdigen wissen. Es wäre aber schade, wenn die Spezialisten dieses Buch deswegen ignorieren würden. Es entgeht ihnen dann ein innovativer und gut geschriebener Forschungsbeitrag, der das 17. Jahrhundert in ein neues Licht rückt.
RUDOLF SCHLÖGL
Achim Landwehr: "Geburt der Gegenwart". Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 448 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Achim Landwehr über Zeiterfahrung im 17. Jahrhundert
Wenn es stimmt, dass Historiker aus Zeit Sinn machen, dann haben sie sich um ihren wichtigsten Rohstoff bislang erstaunlich wenig gekümmert. Die Frage von Reinhart Koselleck nach den historischen Formen des Zeitbewusstseins wurde nur selten aufgegriffen und in eine Forschungsagenda umgesetzt. Achim Landwehr reiht sich mit seiner Studie zum Zeitbewusstsein des europäischen 17. Jahrhunderts jetzt prominent in die kleine Schar der Zeitforscher ein.
Seine Untersuchung ist zentriert um den (Taschen-)Kalender als einer seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts gefertigten und dann schnell in großen Stückzahlen verbreiteten Druckschrift. Man kann an ihr im Verlauf des 17. Jahrhunderts eine ganze Reihe von formalen und inhaltlichen Veränderungen beobachten, deren wichtigste in diesem Zusammenhang aber ist, dass diese Büchlein immer mehr zu Schreibkalendern werden, die ihre Eigentümer durch leere Seiten auffordern, Termine einzutragen, also ihre Gegenwart kalendarisch und chronometrisch zu gestalten und sie sozial zu koordinieren. Landwehr schließt daraus auf die "Erfindung der Gegenwart" im 17. Jahrhundert und trägt nach einer Exposition in sechs weiteren Kapiteln so einfallsreich wie durchdacht Material zusammen, um diese These zu untermauern.
Die Argumentation folgt dabei der insbesondere in den Sozialwissenschaften ausgearbeiteten These, dass die Komplexität moderner Gesellschaften ein Zeitbewusstsein voraussetzt, das die Gegenwart aus der Herrschaft der Vergangenheit befreit und sie damit zu einem Raum macht, in dem man Pläne für eine unbekannte Zukunft umzusetzen sucht. Die Befreiung von der Vergangenheit, die man am Verblassen der Endzeiterwartung ebenso ablesen kann wie an genealogischen Aufzeichnungen europäischer Adelsgeschlechter oder der Erfindung der Mode, setzt eine Gegenwart frei, die in der Berichterstattung der periodischen Zeitung seit Mitte des 17. Jahrhunderts bereits für viele Zeitgenossen nachvollziehbar wird.
Gesellschaften, die sich der Erfahrung des Zusammenhangs gleichzeitiger Ereignisse aussetzen, werden komplizierter und müssen Kontingenz bewältigen, indem sie sich um die Gestaltung von Zukunft kümmern. Die letzten Kapitel des Buches schildern anschaulich, wie das 17. Jahrhundert schwankt zwischen Suche nach Ordnung und ihrer Dynamisierung auf eine Zukunft hin, wofür Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik und Versicherungen Grundlagen bereitstellen.
Landwehr verweigert sich mit Recht einer linearen Erzählung und betont stets die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeitordnungen sowie die fließenden Übergänge zwischen ihnen. Statt von Kausalität spricht er von Emergenz, also von nicht Absichten und Ursachen zurechenbarem Entstehen. Die Plausibilität seiner These ergibt sich daraus, dass die Erfindung der Gegenwart aus unterschiedlichen Perspektiven und auf unterschiedlichen Feldern beobachtet wird. Man hätte daher erwarten können, dass die Unwahrscheinlichkeit dieser "Erfindung" zum Thema wird und Landwehr neben der Auflistung der Symptome auch Argumente für ihr Möglichwerden zusammenträgt. Emergenz lässt sich dann beobachten, wenn man einrechnet, dass es auch anders hätte kommen können. Nach solchen Überlegungen sucht man leider vergeblich. Das führt dem Leser vor Augen, dass es mit einem Verzicht auf Kausalität allein doch nicht getan ist.
Vielleicht ist dies aber auch ein Zugeständnis an den imaginierten Leser. Landwehr stellt ihn sich offenkundig nicht zunächst als professionellen Historiker und Spezialisten des 17. Jahrhunderts vor, sondern als interessierten Laien. Dieser wird immer wieder in längeren Passagen bei seinen (unterstellten) Zeiterfahrungen und seinem "Zeitwissen" aus der aktuellen Gegenwart abgeholt, um ihm die vielfach andere Vergangenheit des 17. Jahrhunderts im Kontrast nahezubringen und ihn in die komplizierten theoretischen Diskussionen über das Wesen der Zeit einzuführen. Dieser vorgestellte Leser wird Landwehrs Entgegenkommen sicherlich zu würdigen wissen. Es wäre aber schade, wenn die Spezialisten dieses Buch deswegen ignorieren würden. Es entgeht ihnen dann ein innovativer und gut geschriebener Forschungsbeitrag, der das 17. Jahrhundert in ein neues Licht rückt.
RUDOLF SCHLÖGL
Achim Landwehr: "Geburt der Gegenwart". Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 448 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2014Die Gegenwart füllt das Loch
Achim Landwehr erzählt beeindruckend die Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert
Vor genau 35 Jahren legte der Münchner Historiker Fritz Wagner eine Abhandlung vor, in der er die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft im 17. Jahrhundert lokalisierte. Noch zaghaft näherte sich Wagner dabei einem Phänomen an, das in den Literaturwissenschaften, der Theologie und diversen Disziplingeschichten schon lange als das Thema hinter all den großen Umbrüchen im 17. Jahrhundert erörtert wurde: die komplexe Neuordnung der Zeitvorstellungen. Was sich seit Wagners ersten Schritten in Richtung Zeit-Geschichte alles verändert hatte, wurde 2007 in einem Sammelband unter dem schönen Titel „Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit“ dokumentiert. Die Bedeutung von Kalendern, der Wandel von Apokalypsevorstellungen, die Veränderung von Ordnungsideen in der Rechtsprechung oder den Formen des Zusammenlebens wurden dabei so vielfältig und herausfordernd ans Licht gehoben, dass Ereignis- und Strukturgeschichte mit ihren begrenzten Vorstellungen von Kontingenz und Kausalität plötzlich ziemlich alt aussahen.
Was seitdem fehlte, war eine Studie, die nicht nur die Forschungen zusammenfasste, sondern auch mit einer starken These den Wandel der Wahrnehmung, Bedeutung, Normierung und Funktionalisierung von Zeit im europäischen Kontext auf den Begriff brachte. Nun liegt mit Achim Landwehrs „Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert“ eine solche Synthese vor, die zudem die geforderte starke These bietet: In diesen 100 Jahren habe sich nichts weniger als die „Geburt der Gegenwart“ ereignet. Was Landwehr zur Rechtfertigung dieser These vorzubringen hat, ist beeindruckend.
Von einer zeitlichen Dimension „Gegenwart“ zu sprechen, sie als Zeitraum zu dokumentieren, ihn sichtbar werden zu lassen, wird überhaupt erst möglich, weil einerseits die Zukunftsaussichten implodieren, andererseits die glorifizierte Vergangenheit als Stabilisierungsfaktor nach und nach wegfällt. Zugleich bröckeln die religiösen Weltbilder, auch indem sie, da stets verbunden mit den ständig schwankenden und sich neu legitimierenden politischen Machtverhältnissen, massiven inneren Veränderungen ausgesetzt sind. Diese alles andere als vollständige Aufzählung von geschichtsmächtigen Akteuren, die ihre Rollen ändern oder aus ihnen verdrängt werden, lässt in der Mitte sozusagen ein Loch entstehen, wo gar keines sein dürfte. Und dieses Loch füllt nach und nach das, was Gegenwart heißt. Sie dehnt sich aus, folgt man Landwehr, weil ihre beiden Konkurrentinnen Vertrauen verlieren.
Aber nicht nur das, wie das klug konzipierte und gut geschriebene Buch belegt. Gegenwart ist die einzige Zeitdimension, in der wir tatsächlich leben. Das klingt ähnlich banal wie die Feststellung, dass sich Geschichte nicht mit der Vergangenheit beschäftigt, weil sie das gar nicht kann, denn die ist ja unwiderruflich vorbei. Und mit der Zukunft kann man sich gar nicht auseinandersetzen, weil es die ja nicht gibt, außer in unseren Vorstellungen darüber, wie alles werden könnte. Landwehr schreibt solche Sätze hin, weil sie uns in Erinnerung rufen, dass Gegenwart schlicht und einfach zunächst Realzeit meint.
Landwehr lässt aus Geschichten Geschichte im methodisch ernstzunehmenden Sinne werden, er führt seine These mit großer Gelassenheit vor. Exakt in der Mitte seiner Abhandlung kommt er bei seinem Thema an. Bis dahin hat er vorgeführt, wie sich die Zeitgenossen von Vergangenheit und Zukunft nach und nach verabschieden, wie das, was in den „himmlischen Tafeln“ niedergeschrieben wurde, sich als trügerisch oder falsch herausstellt.
All das geschieht nie auf einen Schlag, denn man muss mit der Geschichte Geduld haben, die umso mehr erforderlich ist, als sich keine einfachen Trends oder breite Zeit-Bewegungen ausmachen lassen. Vielmehr wächst bei der Lektüre die Einsicht, dass auch die gute alte Gleichung, die uns aus Reinhart Kosellecks These für den Zeitraum von etwa 1750 bis 1850 vertraut ist, nämlich Temporalisierung ist gleich Beschleunigung, im 17. Jahrhundert einen Vorgänger hatte. Doch die Vordatierung der vermeintlichen „Sattelzeit“ ist nicht die Pointe, ja nicht einmal eine Behauptung in Landwehrs Darstellung. Vielmehr erweist sich die zweite Hälfte seiner „Geburt der Gegenwart“ als ein Plädoyer für die Fortdauer von Gegenwart, die doch die Kulturkritiker ständig schwinden sehen. Wer sich hingegen all die Veränderungen vor Augen hält, die den Menschen sein Hier und Jetzt haben entdecken lassen, der weiß um die Widerständigkeit der Gegenwart. Das ist kein Trost, doch Landwehr macht einsichtig, warum die Eroberung der Gegenwart ein Emanzipationsprozess war, der nicht zufällig in die Aufklärung mündete.
THOMAS MEYER
Landwehr lässt methodisch aus
Geschichten Geschichte werden
Achim Landwehr: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 445 Seiten, 24,99 Euro.
E-Book: 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Achim Landwehr erzählt beeindruckend die Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert
Vor genau 35 Jahren legte der Münchner Historiker Fritz Wagner eine Abhandlung vor, in der er die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft im 17. Jahrhundert lokalisierte. Noch zaghaft näherte sich Wagner dabei einem Phänomen an, das in den Literaturwissenschaften, der Theologie und diversen Disziplingeschichten schon lange als das Thema hinter all den großen Umbrüchen im 17. Jahrhundert erörtert wurde: die komplexe Neuordnung der Zeitvorstellungen. Was sich seit Wagners ersten Schritten in Richtung Zeit-Geschichte alles verändert hatte, wurde 2007 in einem Sammelband unter dem schönen Titel „Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit“ dokumentiert. Die Bedeutung von Kalendern, der Wandel von Apokalypsevorstellungen, die Veränderung von Ordnungsideen in der Rechtsprechung oder den Formen des Zusammenlebens wurden dabei so vielfältig und herausfordernd ans Licht gehoben, dass Ereignis- und Strukturgeschichte mit ihren begrenzten Vorstellungen von Kontingenz und Kausalität plötzlich ziemlich alt aussahen.
Was seitdem fehlte, war eine Studie, die nicht nur die Forschungen zusammenfasste, sondern auch mit einer starken These den Wandel der Wahrnehmung, Bedeutung, Normierung und Funktionalisierung von Zeit im europäischen Kontext auf den Begriff brachte. Nun liegt mit Achim Landwehrs „Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert“ eine solche Synthese vor, die zudem die geforderte starke These bietet: In diesen 100 Jahren habe sich nichts weniger als die „Geburt der Gegenwart“ ereignet. Was Landwehr zur Rechtfertigung dieser These vorzubringen hat, ist beeindruckend.
Von einer zeitlichen Dimension „Gegenwart“ zu sprechen, sie als Zeitraum zu dokumentieren, ihn sichtbar werden zu lassen, wird überhaupt erst möglich, weil einerseits die Zukunftsaussichten implodieren, andererseits die glorifizierte Vergangenheit als Stabilisierungsfaktor nach und nach wegfällt. Zugleich bröckeln die religiösen Weltbilder, auch indem sie, da stets verbunden mit den ständig schwankenden und sich neu legitimierenden politischen Machtverhältnissen, massiven inneren Veränderungen ausgesetzt sind. Diese alles andere als vollständige Aufzählung von geschichtsmächtigen Akteuren, die ihre Rollen ändern oder aus ihnen verdrängt werden, lässt in der Mitte sozusagen ein Loch entstehen, wo gar keines sein dürfte. Und dieses Loch füllt nach und nach das, was Gegenwart heißt. Sie dehnt sich aus, folgt man Landwehr, weil ihre beiden Konkurrentinnen Vertrauen verlieren.
Aber nicht nur das, wie das klug konzipierte und gut geschriebene Buch belegt. Gegenwart ist die einzige Zeitdimension, in der wir tatsächlich leben. Das klingt ähnlich banal wie die Feststellung, dass sich Geschichte nicht mit der Vergangenheit beschäftigt, weil sie das gar nicht kann, denn die ist ja unwiderruflich vorbei. Und mit der Zukunft kann man sich gar nicht auseinandersetzen, weil es die ja nicht gibt, außer in unseren Vorstellungen darüber, wie alles werden könnte. Landwehr schreibt solche Sätze hin, weil sie uns in Erinnerung rufen, dass Gegenwart schlicht und einfach zunächst Realzeit meint.
Landwehr lässt aus Geschichten Geschichte im methodisch ernstzunehmenden Sinne werden, er führt seine These mit großer Gelassenheit vor. Exakt in der Mitte seiner Abhandlung kommt er bei seinem Thema an. Bis dahin hat er vorgeführt, wie sich die Zeitgenossen von Vergangenheit und Zukunft nach und nach verabschieden, wie das, was in den „himmlischen Tafeln“ niedergeschrieben wurde, sich als trügerisch oder falsch herausstellt.
All das geschieht nie auf einen Schlag, denn man muss mit der Geschichte Geduld haben, die umso mehr erforderlich ist, als sich keine einfachen Trends oder breite Zeit-Bewegungen ausmachen lassen. Vielmehr wächst bei der Lektüre die Einsicht, dass auch die gute alte Gleichung, die uns aus Reinhart Kosellecks These für den Zeitraum von etwa 1750 bis 1850 vertraut ist, nämlich Temporalisierung ist gleich Beschleunigung, im 17. Jahrhundert einen Vorgänger hatte. Doch die Vordatierung der vermeintlichen „Sattelzeit“ ist nicht die Pointe, ja nicht einmal eine Behauptung in Landwehrs Darstellung. Vielmehr erweist sich die zweite Hälfte seiner „Geburt der Gegenwart“ als ein Plädoyer für die Fortdauer von Gegenwart, die doch die Kulturkritiker ständig schwinden sehen. Wer sich hingegen all die Veränderungen vor Augen hält, die den Menschen sein Hier und Jetzt haben entdecken lassen, der weiß um die Widerständigkeit der Gegenwart. Das ist kein Trost, doch Landwehr macht einsichtig, warum die Eroberung der Gegenwart ein Emanzipationsprozess war, der nicht zufällig in die Aufklärung mündete.
THOMAS MEYER
Landwehr lässt methodisch aus
Geschichten Geschichte werden
Achim Landwehr: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 445 Seiten, 24,99 Euro.
E-Book: 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Landwehr bietet in seinem Buch einen spannenden Einblick in die Kulturgeschichte des Zeitbewusstseins. Martin Schneider spektrum.de 20141016