Denken und Dichten: beide sind sie Kinder der Sprache. Eine sehr lange Zeit hat es gebraucht, bevor sich aus orphischen Gesängen, rhapsodischen Fiktionen und schamanischen Analogien autonomes Denken kristallisierte. Doch so sehr, seit der griechischen Klassik, dieses Denken sich auf Abstraktion zuspitzte – über Jahrtausende blieb es gebunden an das uralte Erbe der Dichtung: an Rhythmus, Phrasierung, Klangfarbe und Intonation, an rhetorische Figuren, Bilder und Symbole. Eine Sprache der Sinnlichkeit, vibrierend von Bedeutung und innerer Bewegung: das ist die Ausdrucksform der größten Denker von Heraklit über Platon, Descartes und Spinoza, Hegel und Nietzsche hin zu Wittgenstein, Heidegger, Sartre. Umgekehrt drängt es die Dichter immer wieder zum gedanklichen System: Den großen Meistern und Meisterwerken solcher Synthese, der schönen Verschmelzung von Dichtung und Denken gilt Steiners neuer mit poetischem Schwung geschriebene philosophisch-historische Essay.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ganz dem Sog von George Steiners Essay über die Verbindung von Philosophieren und Poesie hat sich Jürgen Trabant hingegeben. Der Autor, Komparatist in Oxford, der ihn bereits mit seinem Buch "Nach Babel" über die Sprache begeistert hat, geht hier in historischer Folge, allerdings mit zahlreichen Assoziationen und Anmerkungen angereichert, dem Zusammenhang von Dichten und Denken bei Philosophen von den Vorsokratikern bis Heidegger nach, erklärt der Rezensent. Besonders begeistert hat Trabant das fünfte Kapitel, das sich Descartes, Hegel und Marx widmet. Er findet, dass vor Steiner noch keiner das "Talmudisch-Buchhafte" im Marx'schen Denken so klar gesehen hat. Dem letzten Kapitel, in dessen Zentrum Heidegger steht, lässt sich berührend der Schmerz darüber ablesen, dass der Philosoph den Nationalsozialisten anhing. Kein Zweifel besteht für Trabant, dass Steiners eigenes Denken zutiefst poetisch ist, was dieses Buch zu einer so überwältigenden Lektüre macht. Allerdings handelt es ich es sich hier um ein Werk für "Hochgebildete", klärt der Rezensent auf, das keine Rücksicht auf eventuelle Bildungslücken seiner Leser nimmt. So wird vor allem der Wissende mit Zugang zu Nachschlagewerken seine Freude an diesem "wirbelnden Durchgang durch die europäische Philosophie- und Literaturgeschichte" haben, so Trabant, der aber kein Problem mit dem "radikal elitären" Anspruch dieses Werks zu haben scheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.02.2012Nimm und lies und schlag nach
In einem wirbelnden Durchgang durch die Philosophie- und Literaturgeschichte umkreist, ja beschwört George Steiner die Verbindung von Denken und Dichten
Der Mensch ist ein sprechendes Tier, und „Denken“ in einem emphatisch menschlichen Sinn findet in Sprache statt. Die Philosophie will zwar seit Platon die Sprache hinter sich lassen, aber es gelingt ihr nicht wirklich. Philosophisches Denken „dichtet“ daher notwendigerweise. „Die Trennung von Poet und Denker ist nur scheinbar – und zum Nachtheil beyder“ schrieb Novalis. „The Poetry of Thought“ heißt das neue Buch von George Steiner auf Englisch. Der deutsche Titel „Gedanken dichten“ soll schon gleich an Martin Heidegger gemahnen, dessen dichtendes Denken als Generalbass das Buch durchzieht.
George Steiner, der große Komparatist aus Oxford, Autor, neben vielen anderen Büchern, des unvergessenen „Nach Babel“, eines der wichtigsten Bücher über die Sprache, zieht uns in den Bann eines Gedanken-Poems: „Gedanken dichten“ ist ein Buch, das die Verbindung von Dichtung und Denken in der europäischen Literatur- und Philosophie-Geschichte nachzeichnet, umkreist, bespricht, beschwört – man weiß nicht genau, welches Verb man verwenden soll. „Nachzeichnen“ allein wäre viel zu ordentlich und zu linear für das, was hier geschieht.
Die nicht leicht zu fassende Struktur des „Essays“, wie Steiner sein Buch nennt, kann man vielleicht am besten als eine andeutungsweise historisch voranschreitende Spiral- oder Strudelbewegung beschreiben. Nach einer einführenden kurzen Positionsbestimmung der Sprache als Medium des Denkens und Dichtens gegenüber Musik und Mathematik (die Bilder fehlen!) bewegen sich sieben der neun Kapitel des Buches von den Vorsokratikern bis zu Heidegger, wobei sich um die bedeutendsten philosophischen Kern-Autoren literarische und philosophische Assoziationen oder Agglomerationen bilden, die sich nicht mehr um die Chronologie kümmern.
Auf die Vorsokratiker (und Lukrez) folgen Kapitel zu Platon, dann zu Galilei-Hume-Valéry, zu Descartes-Hegel-Marx, zum Anfang des 20. Jahrhunderts von Bergson bis Freud. Das siebente Kapitel dreht sich um Wittgenstein, das achte um Heidegger. Das vielleicht schönste Kapitel des Buches ist das fünfte, welches mit Descartes beginnt, dann Hegel im Zentrum hat und zu Marx voranschreitet und mit einer Koda zum Dichter Nietzsche endet: „Doch alle Lust will Ewigkeit.“
An Hegels Herr-und-Knecht-Dialektik und an seine Antigone-Interpretation werden literarische Texte assoziiert, die über die Zeitgenossenschaft mit Hegel hinausgehen: Strindberg, Brecht, Genet, Beckett einerseits, Anouilh, Brecht, Kierkegaard, Derrida andererseits. Eine so inspirierte – und eben nicht von der Sprache des des Marxismus sklerotisierte – Lobpreisung Marxens hat man noch selten gelesen. Die Leidenschaft des Denkens, das Literaturtrunkene dieses Philosophen ist selten so sympathetisch erfasst worden. Die Bemerkung zum Talmudisch-Buchhaften der Marxschen Denkens, aber auch noch des Marxismus, dessen Ende auch das Ende des Buches markiere, ist eine geniale Beobachtung Steiners.
Geradezu anrührend ist das achte Kapitel, das sich im wesentlichen mit Heidegger auseinandersetzt. Heidegger, dem Steiner vor einigen Jahrzehnten ein wichtiges Buch gewidmet hatte, ist mit seinem „Sprachfundamentalismus“ eigentlich der philosophische Ausgangspunkt des Buches, er ist ja der moderne Denker, der das Dichten und das Denken wieder – vorsokratisch – zusammengebracht hat. Aber Heidegger, den Steiner in eine Reihe mit den ganz Großen, mit Platon, Aristoteles und Hegel stellt, ist eben auch ein Nationalsozialist gewesen, was für einen tief heideggerisch denkenden Autor einen gleichsam unerträglichen Schmerz des Denkens erzeugt. Das Kapitel endet daher auch mit Celans Begegnung mit dem Philosophen. Wirklich berühren sich der große Philosoph und der große Dichter nur in der Sprache des Todes.
Die Begegnungen von Literatur und Sprache, von denen hier die Rede ist, sind weitgehend inhaltlicher Art. Da blitzen Beziehungen auf, wie sie nur einem Meister wie Steiner gelingen können. Zur literarischen Form des philosophischen Denkens gibt es herrliche Beobachtungen, etwa zu den dramatischen Elementen der Platonischen Dialoge oder zum aphoristischen oder narrativen Charakter anderer Philosophien. Dennoch hätte man sich die sprachlich-stilistischen Eigenschaften der behandelten Philosophen, also gerade die Poesie ihres Denkens, öfter gern näher am Text aufgezeigt gewünscht, so wie Steiner es bei Descartes vorführt. Was heißt es denn, dass Epikur in seinem Lehrgedicht „männlich“ lateinisch denkt? Eine Analyse von Heideggers Sprachverwendung hätte vermutlich viel klarer ins Zentrum der Kritik geführt? Könnte es nicht sein, dass sein „dichtendes Denken“ sowohl die Philosophie und als auch die Sprache verrät?
Die unzweifelhafte Annahme einer gemeinsamen Quelle des Dichtens und Philosophierens in der Sprache verwischt natürlich – gerade auch in der Nachfolge Heideggers – die Opposition zwischen Dichtung und Philosophie und wird damit einer Konstante dieser europäischen Dualität nicht gerecht: nämlich der Feindschaft zwischen Philosophie und Sprache. Philosophie ist ja von Anfang an Kampf gegen die Sprache, sie ist gerade Opposition gegen das dichtende Denken der frühen Denker-Dichter, und sie bekämpft die Sophisten, die Sprach-Freunde waren und keine Freunde der Wahrheit.
Das beginnt bei Platon in aller Schärfe, auch wenn dieser, wie Steiner zeigt, ein wunderbarer Schriftsteller, ein großer Dramatiker war. „Keine andere Philosophie ist wesentlicher literarisch“, schreibt Steiner, und dennoch inszeniert kein anderer Text die Sprachfeindschaft der Philosophie so deutlich wie Platons „Kratylos“. Die Sprache ist dem Sokrates und damit der gesamten Philosophie ein Dorn im Auge, wegen ihrer schlechten Abbildlichkeit, ihrer Unklarheit, ihrer Veränderbarkeit, ihrer Körperlichkeit, ihrer volkstümlichen, „unwissenschaftlichen“ Semantik und vor auch allem wegen ihrer Verschiedenheit. Nach Platon kritisiert auch der große Philosoph der christlich-lateinischen Welt, der heilige Augustinus, die Sprache vehement. Die neuzeitliche Philosophie seit Bacon ist wesentlich „analytische“ Philosophie – und das heißt gegen die Sprache als Hindernis der wahren Erkenntnis gerichtetes Denken. Kant weigert sich geradezu, die Sprache zu denken. Natürlich sind auch diese Sprachfeinde große Poeten und Schriftsteller. Steiner zeigt dies bei Wittgenstein. Aber unter der These der Poetizität des Denkens verflüchtigt sich die fundamentale Opposition, ohne die Philosophie im europäischen Sinne gar nicht denkbar ist.
Steiners eigenes Denken ist natürlich ein poetisches. Es schafft ein Denk-Gedicht, das aus ungeheurer literarischer und philosophischer Gelehrsamkeit schöpft, das den strengen und kargen Gepflogenheiten der Gelehrsamkeit eine Poesie der Gelehrsamkeit entgegensetzt und sich in einer Orgie der Bildung entfaltet. Steiner setzt bei seinem Leser gnadenlos dieselbe philosophisch-literarische Bildung voraus, es gibt keine Erläuterungen oder Fußnoten. Das wäre angesichts der unendlichen Anspielungen und Zitate auch völlig unmöglich, und es wäre auch gegen den Stil und die Absicht dieses Buches. Dies ist ein Buch für Hochgebildete. Und es ist natürlich ein enormes Vergnügen, bei diesem wirbelnden Durchgang durch die europäische Philosophie- und Literaturgeschichte mitzuspielen. Aber auch dem Gebildeten empfiehlt sich bei der Lektüre die Nähe zu einer gut ausgestatteten Bibliothek oder wenigstens zur Google-Suchmaschine. Denn nicht jedem wird zum Beispiel Hegels Gedicht „Eleusis“ geläufig sein, das dieser für Hölderlin geschrieben hat. Man muss auch wissen, wie Hegels Phänomenologie endet, damit man versteht, was dieses Ende mit Edith Piafs berühmtestem Lied gemeinsam hat. Hier allerdings freut sich der Leser, dass dem gelehrten Autor wohl doch ein kleiner Fehler unterlaufen ist. Der entsprechende Vers in Piafs Lied heißt nicht, „non de non“, sondern „non, rien de rien“. Auch was die rue d’Ulm in Paris bedeutet, ist vielleicht nicht jedem klar, et cetera et cetera. Immerhin hat der Übersetzer, der hier im übrigen Hervorragendes geleistet hat, die fremdsprachigen Zitate barmherzig ins Deutsche übertragen und in Fußnoten angefügt.
Natürlich setzt Steiner bewusst auf die radikal elitäre Anlage seines Buches. Er stilisiert sich ja als letztes Exemplar einer noch mit der Sprache – und in vielen Büchern – denkenden Menschheit, die sich auf dem Weg in eine postsprachliche multimediale Bewegung des Denkens befinde. Diesem Ende des sprechenden Menschen steht er allerdings heiter apokalyptisch gegenüber. Er zeigt noch einmal, was der Sprach-Denker kann, und wirft sein Buch gleichsam als letzte Blüte eines aussterbenden anthropologischen Typus lächelnd in den Abgrund einer tanzenden und singenden Menschheit.
Diese Gelassenheit angesichts des Endes der Sprache hat vielleicht damit zu tun, dass Mathematik und Musik Fluchtpunkte der Steinerschen Sprach-Reflexion sind. Seine Passion für die Poesie des Denkens, also für die sprachgebundene Kreativität des Denkens, wird begleitet von einer Bewunderung für die rationale Universal-Sprache der Mathematik und für die geheimnisvoll emotionale Universal-Sprache der Musik. Das musikalische Paradies und das mathematische Eden – es gibt dort nur eine Sprache – überwölben die Sprachwelt Steiners. Vielleicht kann er deswegen dem zukünftigen sprachlosen Philosophieren des Menschen heiter entgegenschauen: dem performativen (gegen die Schrift) und hybridem Körperdenken „post-textueller“ Philosophie: „Bedeutung kann getanzt werden“.
Das Dichten der Gedanken findet ein dithyrambisches Ende: „Und irgendwo wird eine rebellischer Sänger, ein Philosoph trunken vor Einsamkeit ,Nein‘ sagen. Eine Silbe, erfüllt vom Versprechen der Schöpfung.“ Vielleicht glimmt im Untergang ein Funke des Anfangs: Götterdämmerung.
JÜRGEN TRABANT
GEORGE STEINER: Gedanken dichten. Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 305 Seiten, 19,90 Euro .
Martin Heidegger
spielt in diesem Buch
den Generalbass
Es geht um die Poetizität der
Philosophie – nicht um ihre
tiefsitzende Sprachfeindschaft
Gnadenlos hochgebildet: George Steiner. Foto: Regina Schmeken
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In einem wirbelnden Durchgang durch die Philosophie- und Literaturgeschichte umkreist, ja beschwört George Steiner die Verbindung von Denken und Dichten
Der Mensch ist ein sprechendes Tier, und „Denken“ in einem emphatisch menschlichen Sinn findet in Sprache statt. Die Philosophie will zwar seit Platon die Sprache hinter sich lassen, aber es gelingt ihr nicht wirklich. Philosophisches Denken „dichtet“ daher notwendigerweise. „Die Trennung von Poet und Denker ist nur scheinbar – und zum Nachtheil beyder“ schrieb Novalis. „The Poetry of Thought“ heißt das neue Buch von George Steiner auf Englisch. Der deutsche Titel „Gedanken dichten“ soll schon gleich an Martin Heidegger gemahnen, dessen dichtendes Denken als Generalbass das Buch durchzieht.
George Steiner, der große Komparatist aus Oxford, Autor, neben vielen anderen Büchern, des unvergessenen „Nach Babel“, eines der wichtigsten Bücher über die Sprache, zieht uns in den Bann eines Gedanken-Poems: „Gedanken dichten“ ist ein Buch, das die Verbindung von Dichtung und Denken in der europäischen Literatur- und Philosophie-Geschichte nachzeichnet, umkreist, bespricht, beschwört – man weiß nicht genau, welches Verb man verwenden soll. „Nachzeichnen“ allein wäre viel zu ordentlich und zu linear für das, was hier geschieht.
Die nicht leicht zu fassende Struktur des „Essays“, wie Steiner sein Buch nennt, kann man vielleicht am besten als eine andeutungsweise historisch voranschreitende Spiral- oder Strudelbewegung beschreiben. Nach einer einführenden kurzen Positionsbestimmung der Sprache als Medium des Denkens und Dichtens gegenüber Musik und Mathematik (die Bilder fehlen!) bewegen sich sieben der neun Kapitel des Buches von den Vorsokratikern bis zu Heidegger, wobei sich um die bedeutendsten philosophischen Kern-Autoren literarische und philosophische Assoziationen oder Agglomerationen bilden, die sich nicht mehr um die Chronologie kümmern.
Auf die Vorsokratiker (und Lukrez) folgen Kapitel zu Platon, dann zu Galilei-Hume-Valéry, zu Descartes-Hegel-Marx, zum Anfang des 20. Jahrhunderts von Bergson bis Freud. Das siebente Kapitel dreht sich um Wittgenstein, das achte um Heidegger. Das vielleicht schönste Kapitel des Buches ist das fünfte, welches mit Descartes beginnt, dann Hegel im Zentrum hat und zu Marx voranschreitet und mit einer Koda zum Dichter Nietzsche endet: „Doch alle Lust will Ewigkeit.“
An Hegels Herr-und-Knecht-Dialektik und an seine Antigone-Interpretation werden literarische Texte assoziiert, die über die Zeitgenossenschaft mit Hegel hinausgehen: Strindberg, Brecht, Genet, Beckett einerseits, Anouilh, Brecht, Kierkegaard, Derrida andererseits. Eine so inspirierte – und eben nicht von der Sprache des des Marxismus sklerotisierte – Lobpreisung Marxens hat man noch selten gelesen. Die Leidenschaft des Denkens, das Literaturtrunkene dieses Philosophen ist selten so sympathetisch erfasst worden. Die Bemerkung zum Talmudisch-Buchhaften der Marxschen Denkens, aber auch noch des Marxismus, dessen Ende auch das Ende des Buches markiere, ist eine geniale Beobachtung Steiners.
Geradezu anrührend ist das achte Kapitel, das sich im wesentlichen mit Heidegger auseinandersetzt. Heidegger, dem Steiner vor einigen Jahrzehnten ein wichtiges Buch gewidmet hatte, ist mit seinem „Sprachfundamentalismus“ eigentlich der philosophische Ausgangspunkt des Buches, er ist ja der moderne Denker, der das Dichten und das Denken wieder – vorsokratisch – zusammengebracht hat. Aber Heidegger, den Steiner in eine Reihe mit den ganz Großen, mit Platon, Aristoteles und Hegel stellt, ist eben auch ein Nationalsozialist gewesen, was für einen tief heideggerisch denkenden Autor einen gleichsam unerträglichen Schmerz des Denkens erzeugt. Das Kapitel endet daher auch mit Celans Begegnung mit dem Philosophen. Wirklich berühren sich der große Philosoph und der große Dichter nur in der Sprache des Todes.
Die Begegnungen von Literatur und Sprache, von denen hier die Rede ist, sind weitgehend inhaltlicher Art. Da blitzen Beziehungen auf, wie sie nur einem Meister wie Steiner gelingen können. Zur literarischen Form des philosophischen Denkens gibt es herrliche Beobachtungen, etwa zu den dramatischen Elementen der Platonischen Dialoge oder zum aphoristischen oder narrativen Charakter anderer Philosophien. Dennoch hätte man sich die sprachlich-stilistischen Eigenschaften der behandelten Philosophen, also gerade die Poesie ihres Denkens, öfter gern näher am Text aufgezeigt gewünscht, so wie Steiner es bei Descartes vorführt. Was heißt es denn, dass Epikur in seinem Lehrgedicht „männlich“ lateinisch denkt? Eine Analyse von Heideggers Sprachverwendung hätte vermutlich viel klarer ins Zentrum der Kritik geführt? Könnte es nicht sein, dass sein „dichtendes Denken“ sowohl die Philosophie und als auch die Sprache verrät?
Die unzweifelhafte Annahme einer gemeinsamen Quelle des Dichtens und Philosophierens in der Sprache verwischt natürlich – gerade auch in der Nachfolge Heideggers – die Opposition zwischen Dichtung und Philosophie und wird damit einer Konstante dieser europäischen Dualität nicht gerecht: nämlich der Feindschaft zwischen Philosophie und Sprache. Philosophie ist ja von Anfang an Kampf gegen die Sprache, sie ist gerade Opposition gegen das dichtende Denken der frühen Denker-Dichter, und sie bekämpft die Sophisten, die Sprach-Freunde waren und keine Freunde der Wahrheit.
Das beginnt bei Platon in aller Schärfe, auch wenn dieser, wie Steiner zeigt, ein wunderbarer Schriftsteller, ein großer Dramatiker war. „Keine andere Philosophie ist wesentlicher literarisch“, schreibt Steiner, und dennoch inszeniert kein anderer Text die Sprachfeindschaft der Philosophie so deutlich wie Platons „Kratylos“. Die Sprache ist dem Sokrates und damit der gesamten Philosophie ein Dorn im Auge, wegen ihrer schlechten Abbildlichkeit, ihrer Unklarheit, ihrer Veränderbarkeit, ihrer Körperlichkeit, ihrer volkstümlichen, „unwissenschaftlichen“ Semantik und vor auch allem wegen ihrer Verschiedenheit. Nach Platon kritisiert auch der große Philosoph der christlich-lateinischen Welt, der heilige Augustinus, die Sprache vehement. Die neuzeitliche Philosophie seit Bacon ist wesentlich „analytische“ Philosophie – und das heißt gegen die Sprache als Hindernis der wahren Erkenntnis gerichtetes Denken. Kant weigert sich geradezu, die Sprache zu denken. Natürlich sind auch diese Sprachfeinde große Poeten und Schriftsteller. Steiner zeigt dies bei Wittgenstein. Aber unter der These der Poetizität des Denkens verflüchtigt sich die fundamentale Opposition, ohne die Philosophie im europäischen Sinne gar nicht denkbar ist.
Steiners eigenes Denken ist natürlich ein poetisches. Es schafft ein Denk-Gedicht, das aus ungeheurer literarischer und philosophischer Gelehrsamkeit schöpft, das den strengen und kargen Gepflogenheiten der Gelehrsamkeit eine Poesie der Gelehrsamkeit entgegensetzt und sich in einer Orgie der Bildung entfaltet. Steiner setzt bei seinem Leser gnadenlos dieselbe philosophisch-literarische Bildung voraus, es gibt keine Erläuterungen oder Fußnoten. Das wäre angesichts der unendlichen Anspielungen und Zitate auch völlig unmöglich, und es wäre auch gegen den Stil und die Absicht dieses Buches. Dies ist ein Buch für Hochgebildete. Und es ist natürlich ein enormes Vergnügen, bei diesem wirbelnden Durchgang durch die europäische Philosophie- und Literaturgeschichte mitzuspielen. Aber auch dem Gebildeten empfiehlt sich bei der Lektüre die Nähe zu einer gut ausgestatteten Bibliothek oder wenigstens zur Google-Suchmaschine. Denn nicht jedem wird zum Beispiel Hegels Gedicht „Eleusis“ geläufig sein, das dieser für Hölderlin geschrieben hat. Man muss auch wissen, wie Hegels Phänomenologie endet, damit man versteht, was dieses Ende mit Edith Piafs berühmtestem Lied gemeinsam hat. Hier allerdings freut sich der Leser, dass dem gelehrten Autor wohl doch ein kleiner Fehler unterlaufen ist. Der entsprechende Vers in Piafs Lied heißt nicht, „non de non“, sondern „non, rien de rien“. Auch was die rue d’Ulm in Paris bedeutet, ist vielleicht nicht jedem klar, et cetera et cetera. Immerhin hat der Übersetzer, der hier im übrigen Hervorragendes geleistet hat, die fremdsprachigen Zitate barmherzig ins Deutsche übertragen und in Fußnoten angefügt.
Natürlich setzt Steiner bewusst auf die radikal elitäre Anlage seines Buches. Er stilisiert sich ja als letztes Exemplar einer noch mit der Sprache – und in vielen Büchern – denkenden Menschheit, die sich auf dem Weg in eine postsprachliche multimediale Bewegung des Denkens befinde. Diesem Ende des sprechenden Menschen steht er allerdings heiter apokalyptisch gegenüber. Er zeigt noch einmal, was der Sprach-Denker kann, und wirft sein Buch gleichsam als letzte Blüte eines aussterbenden anthropologischen Typus lächelnd in den Abgrund einer tanzenden und singenden Menschheit.
Diese Gelassenheit angesichts des Endes der Sprache hat vielleicht damit zu tun, dass Mathematik und Musik Fluchtpunkte der Steinerschen Sprach-Reflexion sind. Seine Passion für die Poesie des Denkens, also für die sprachgebundene Kreativität des Denkens, wird begleitet von einer Bewunderung für die rationale Universal-Sprache der Mathematik und für die geheimnisvoll emotionale Universal-Sprache der Musik. Das musikalische Paradies und das mathematische Eden – es gibt dort nur eine Sprache – überwölben die Sprachwelt Steiners. Vielleicht kann er deswegen dem zukünftigen sprachlosen Philosophieren des Menschen heiter entgegenschauen: dem performativen (gegen die Schrift) und hybridem Körperdenken „post-textueller“ Philosophie: „Bedeutung kann getanzt werden“.
Das Dichten der Gedanken findet ein dithyrambisches Ende: „Und irgendwo wird eine rebellischer Sänger, ein Philosoph trunken vor Einsamkeit ,Nein‘ sagen. Eine Silbe, erfüllt vom Versprechen der Schöpfung.“ Vielleicht glimmt im Untergang ein Funke des Anfangs: Götterdämmerung.
JÜRGEN TRABANT
GEORGE STEINER: Gedanken dichten. Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 305 Seiten, 19,90 Euro .
Martin Heidegger
spielt in diesem Buch
den Generalbass
Es geht um die Poetizität der
Philosophie – nicht um ihre
tiefsitzende Sprachfeindschaft
Gnadenlos hochgebildet: George Steiner. Foto: Regina Schmeken
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