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Wahrheiten der Literatur, so meint Clemens J. Setz in einem neuen Essay, weichen oft von der Realität ab
Im Jahre 1915 unterlag Charlie Chaplin haushoch bei einem Lookalike-Wettbewerb in San Francisco. Seine Mitbewerber konnten den berühmten Chaplin-Walk einfach überzeugender und echter nachahmen als das Original selbst, weil sie sich am Tempo von dessen Filmen orientierten. Chaplin hingegen watschelte genau wie am Set, nicht bedenkend, dass der Gang in der medialen Wiedergabe beschleunigt wurde. Falsche Doubles gewannen, das echte Vorbild unterlag. Die Wahrheit der Kunst scheint von der Wahrheit der Wirklichkeit manchmal stark abzuweichen.
Anhand solcher Beispiele denkt der letztjährige Büchner-Preisträger Clemens J. Setz in einem kleinen Essay über Fragen und Paradoxien der Wahrheit nach. Es geschieht kaum zufällig gerade jetzt, da Fake News und digitale Simulationen alternative Wahrheiten aller Art fast beliebig hervorzaubern können. Die Unterscheidbarkeit von Faktum und Fiktion wird damit zunehmend aufgehoben. Für Literatur ist das eigentlich nichts Besonderes, seit Platon ist es das Privileg der Dichtung, zu lügen, also zu erfinden. Folgt man allerdings der Konvention des Zitats, das den Bezug von Texten auf andere Texte verbürgt, wird die Sache rasch kompliziert.
Setz räumt in seinem Essay ausdrücklich ein, auch Zitate gerne zu erfinden. In seinen Büchern muss man entsprechend auf der Hut sein und vieles überprüfen. Im Roman "Indigo" (2012) gibt es beispielsweise eine in Fraktur gesetzte, fast wie ein Faksimile wirkende Kalendergeschichte Johann Peter Hebels, die frei erfunden ist. Der sie einschaltende Erzähler führt ebenfalls den Namen Clemens J. Setz, und sogar die Autoreninformation in der Buchklappe betrifft mehr das Erzähler-Ich als den Verfasser. Setz ist also selbst ein grandios spielender Jongleur mit der Wahrheit.
Sicher sei es "ehrenwert und korrekt, Zitate zu erfinden", meint Setz, nur müsse klar sein, wann es sich dabei um Literatur handelt. Falsche Zitate, etwa in einem journalistischen Bericht oder einer wissenschaftlichen Abhandlung, anderen Menschen in den Mund zu legen, sei hingegen nicht erlaubt. Auf diesem schmalen Grat scheiterte Robert Menasse, der im Roman "Die Hauptstadt" Walter Hallstein, dem ersten Präsidenten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, eine Rede in Auschwitz, dem eigentlichen Identitätszentrum Europas, andichtete. Ein toller, aber fingierter Einfall, der in einem Roman legitim ist. Nicht aber in Vorträgen und Essays als Tatsachenbehauptung, als die Menasse sie ausgab.
Interpretiert man den Fall Menasse wohlwollend, drängt sich der Verdacht auf, dass er die immer wieder erzählte, doch bloß erfundene Anekdote irgendwann selbst für wahr hielt oder deren gedankliche Entstehung selbst nicht mehr erinnerte. Ähnliche Beispiele (nicht jedoch das konkrete von Menasse) greift Setz auf. Das schönste ist vielleicht ein kryptisches Zitat aus Grillparzers Tagebüchern, das Roger Willemsen in Büchern und bei Auftritten immer wieder anbrachte. Grillparzer notierte in seinen Aufzeichnungen, wie er erstmals im Leben das Meer bei Triest erblickte, voller Überraschung, doch in der Phantasie war es dann doch "mächtiger, gewaltiger gewesen als die Wirklichkeit" - "so hatte ich mir's nie gedacht".
Ein bisschen ist das mit Schillers Ballade "Der Taucher" vergleichbar, der die darin dargestellte tosende See selbst niemals mit eigenen Augen sah. Willemsen reduzierte die längere Passage von erhabener Vorstellung und relativ unspektakulärer Realität (bei Triest hat die Adria wirklich kaum noch Schwung) auf den beinahe genau zitierten mürrischen Satz "So hatte ich's mir nicht gedacht" oder "So hatte ich es mir nicht vorgestellt". Das sei, so Setz, "eine Form von eigentlicher Wahrheit", etwas verfälschend zwar, doch resultiere daraus "die vielleicht beste Kurzbiografie von Grillparzer".
Solche Fälle ungenauer oder unvollständiger Erinnerung geben zu denken. Setz berichtet beispielsweise von seiner irrigen Überzeugung, "Der Fremde" von Camus beginne mit der befremdlichen Unsicherheit des Erzählers, ob dessen Mutter heute oder gestern verstorben sei. Tatsächlich liegt aber nur ein unklares Telegramm des Altersheims vor, kein Erinnerungsfehler. Abermals birgt die Fehleinschätzung eine Art tieferer Wahrheit, denn sie deutet aus Kenntnis der weiteren Erzählung von der mangelnden Emotion des Sohnes, etwa bei der Beerdigung der Mutter, den ersten Satz unbewusst um. Nicht unbedingt verbessernd, sonst wäre ja bereits alles gesagt, durchaus aber logisch.
Solche Fälle leichter Verschiebungen und mangelnder Exaktheit sind Vorstufen zu dem, was Werner Herzog als "ekstatische Wahrheit" einer Dokumentation der bloß mitfilmenden "Buchhalter-Wahrheit" gegenüberstellt. Wenn in Herzogs Dokumentarfilm "Lo and Behold" (2016) über das frühe Internet dem Kriegstheoretiker Clausewitz etwa die erfundene Wendung "Sometimes war dreams of itself" zugeschrieben wird, dann deutet Setz solch eine komprimierende Zuspitzung als "bewusste Stilisierung und poetische Verwandlung". All diese Überlegungen gehen weit über den Befund des Mathematikers Setz hinaus, dass es auch in einem logischen Kalkül Sätze geben kann, die mit dessen eigenen Ableitungsregeln nicht zu beweisen sind. Auch scheint er mit seinen Fragen weit über die Wahrheitsprüfungen des Fallibilismus und Kritischen Rationalismus oder auch Hayden Whites "Metahistory" hinauszugreifen. Dass alle Aussagen über die Welt bereits durch den Akt ihrer sprachlichen Verfertigung zu Deutungen und Perspektivierungen führen, ist geschenkt.
Setz geht es viel eher um haarscharfe Verzeichnungen und Verfremdungen, um Dimensionen "eines Fehls, der Brille kaum bemerkbar", wie es in Kleists "Prinz Friedrich von Homburg" heißt. Wie alle Erzählungen von Setz, jedenfalls in dem Band "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes", stets auf eine witzige Pointe zusteuern, so endet auch diese Miniaturpoetik mit einer starken Antwort der Realität auf den Geist vernebelter Gläubigkeit. Mit dem Argument, dass die von einer Hexe an den Teufel verkaufte Seele sicher ihre zehn bis fünfzehn Kilo wiegen müsse, stellte man in der niederländischen Stadt Oudewater verdächtige Frauen einfach auf eine "Heksenwaag". Alle wurden freigesprochen. Gewicht ist schließlich von Gewicht. Und die Waage von 1482 steht noch einsatzbereit im lokalen Museum, die Geschichte ist nicht erfunden. ALEXANDER KOSENINA
Clemens J. Setz:
"Gedankenspiele über
die Wahrheit".
Literaturverlag Droschl, Wien 2022. 48 S., geb.,
10,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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