Ein Blick zurück auf die 1980er Jahre - Valentin Groebner, »einer der interessantesten Historiker der Gegenwart« (tazFUTURZWEI), seziert in seinem Essay die Kraft der Nostalgie und anderer Gefühle, vergangener und gegenwärtiger. Das Beschwören guter alter Zeiten ist unwiderstehlich, weil es von nichts anderem handelt als der eigenen Gegenwart. Der verklärte Rückblick erzeugt im Jetzt starke Gefühle, und die sind ansteckend. Nostalgie, Kränkung und Zukunftsangst schaffen Erregungsgemeinschaften, in denen sich Bedrohung und Verlustangst mit dem Vergnügen am Klagen mischen. Das macht sie verführerisch, es ist großes Kino - und alles echt, weil man es ja selbst fühlt. Doch woher kommen die Slogans, Bilder und Drehbücher für solche Affekte? Valentin Groebner geht auf private Forschungsreise in die 1980er Jahre und ihr langes Nachleben: zu ratlosen Kämpfern, zu strengen Predigern und zu den Hauptdarstellern fremder Leiden. Mit ironisch-vergnügtem Blick auf das versteckte Spiel mit Gefühlen und Sehnsüchten zeigt er, was es uns gibt, wenn wir uns heute an gestern erinnern.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Marianna Lieder hat Valentin Groebners Langessay "Gefühlskino" mit Interesse gelesen. Darin analysiert der Luzerner Mediävist ambivalente Emotionen, die so unwiderstehlich wie unbefriedigend sind und gerade daraus gesellschaftliche Macht beziehen - wie Nostalgie, Opferstolz oder Weltuntergangsstimmung. Was passiert, wenn diese affektiven Regime zu psychosozialen Leitprinzipien und politischen Ressourcen werden, zeigt Groebner der Rezensentin zufolge treffend. Abgesehen vom ersten Kapitel, in dem der Autor seine eigene linksmilitante politische Vergangenheit im Deutschland der 80er Jahre kritisch und uneitel in den Blick nimmt, vermisst Lieder jedoch die gedankliche Prägnanz und essayistische Spannung, die Groebners frühere Untersuchungen - auch sie Zusammenstellungen aus autobiographischem Material, Gegenwartsbeobachtung und kulturgeschichtlicher Analyse - prägte. Trotz der rhetorischen Überfülle, durch die sich das sieben Kapitel starke Buch auszeichne, schätzt Lieder es jedoch als lesenswerte Auseinandersetzung mit der Gegenwart.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2024Wenn sich Bürgerkinder mit den Verdammten dieser Erde identifizieren
Von der Gemütslage zu politischen Ressourcen ist es oft nur ein kleiner Schritt: Valentin Groebner inspiziert Gefühle, die gleichermaßen reizvoll und frustrierend sind
Die Emotionen, die in Valentin Groebners "Gefühlskino" die Hauptrolle spielen, fallen allesamt unter die Kategorie der "unsatisfying pleasures": gemischte Gefühle, die unwiderstehlich sind, aber zugleich unzufrieden machen. Insbesondere die Nostalgie zeichnet sich für den in Luzern lehrenden Mediävisten durch diese Widersprüchlichkeit aus. Deshalb sei die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der warme Erinnerung und schmerzliche Verlusterfahrung aufeinandertreffen, auch so ansteckend und jederzeit kollektiv abrufbar.
Auf ähnliche Weise würden auch Opferstolz, moralische Reinheitsbestrebungen und Weltuntergangsstimmung funktionieren - lauter affektive Regime, die sich aufgrund ihrer Ambivalenz selbst vervielfältigen und verstärken. Der Frage, wie es konkret aussieht, wenn diese paradoxen Gemütslagen zu psychosozialen Leitprinzipien und politischen Ressourcen werden, welche Gefahren und Scheinheiligkeiten damit einhergehen, möchte Groebner in seinem Langessay genauer nachgehen.
Das Vorhaben ist überaus lesenswert umgesetzt, wenn der Autor seine eigene Vergangenheit in den denkbar unnostalgischen Blick nimmt. Groebner, 1962 in Wien geboren, studierte in den Achtzigerjahren in Deutschland, wo er sich der militanten Linken anschloss. Er ließ kaum eine Demo aus, warf mit Steinen auf Dinge, die in seinen Augen für Atomkraft, Kapitalismus, Kernfamilie, NATO oder für Nazis standen, flüchtete vor Wasserwerfern und Polizeiknüppeln. In dieser uneitlen, selbstironischen Rückschau erscheint die lose organisierte autonome Szene als "Verschmelzung von männerbündnerischer Gewalt und lustvoller Tanzparty".
Einerseits prägten Hypermoralismus und homosoziale Selbstbestätigungsrituale die Atmosphäre. Zugleich herrschten nihilistisch angehauchter Hedonismus, mediale Inszenierungslust und ein radikaler Kult der gefühligen Subjektivität, der in den K-Gruppen der Siebzigerjahre noch undenkbar gewesen wäre. Bezeichnend auch, dass es sich bei den Mitgliedern der autonomen Gruppen mehrheitlich um behütet aufgewachsene Bürgerkinder handelte, die sich umstandslos mit den Verdammten dieser Erde identifizierten und offensiv revolutionsromantisch Vorbilder aus vergangenen Zeiten beschworen. Wahlweise sah man sich als Sprachrohr der Sozialhilfeempfänger oder als Wiedergeburt von Résistancekämpfern, Operationisten, Situationisten oder Bauernkriegern aus dem sechzehnten Jahrhundert.
Der angenehm abgeklärte Tonfall dieser Schilderung schlängelt sich durch die übrigen der sieben zwanglos miteinander verknüpften Kapitel. Wie häufig in seinen Büchern verbindet Groebner auch diesmal Gegenwartsbeobachtung, autobiographisches Anschauungsmaterial und kulturgeschichtliche Exkurse. So erfährt man, wie Groebner 2021 in der Schweiz unerwartet an einer Querdenker-Demonstration gegen staatliche Corona-Maßnahmen vorbeiläuft und bei den Teilnehmern ebenjene schwarzen Sturmhauben und Slogans wiederentdeckt, mit denen er selbst einst auf der Straße protestierte. Es geht ferner um spätmittelalterliche Bettelordensprediger und um deren rhetorische Strategien, die in der säkularen Gegenwart nachwirken. Einen Kurzauftritt hat auch Joseph Brodsky, der sich trotz Gulag und Zwangsexil ausdrücklich nicht mit dem Opferstatus arrangieren wollte.
Passagenweise liest man das gerne, doch nennenswerte essayistische Spannung oder gedankliche Prägnanz will außerhalb des Kapitels, in dem Groebner am Beispiel seiner linksradikalen Spätjugend die Dynamik und die politische Verwertbarkeit von Affekten anschaulich gemacht hat, partout nicht mehr aufkommen. Das liegt zum einen an dem rhetorischen Füllstoff, der äußerst freigiebig über die Seiten verteilt wird. Es wimmelt nur so von forcierten Metaphern, wolkigen Assoziationen, kreativen Bandwurmwörtern und leidlich aussagekräftigen, lustlos aufgeblähten Alltagsanekdoten.
Wenig ergiebig sind auch die mäandernden, unspezifischen Reflexionen zu den Grenzen der Erregungsgemeinschaft. Dabei blitzen durchaus interessante Gedanken auf, etwa zur Lust an der Schuld (der eigenen und der anderer), zu negativem Auserwähltheitsbewusstsein oder zu unerfüllbaren moralischen Maximalforderungen. Nur werden diese Gedanken wieder und wieder neu und noch einen Tick raffinierter oder bildhafter formuliert, bis sie schließlich völlig verbraucht wirken. Spätestens ab der Hälfte liest sich der schmale Band wie eine verdruckste Abrechnung mit der Identitätspolitik. Wobei der Begriff von Groebner kein einziges Mal genannt wird. Allerdings wird im Schlusskapitel kurz und ein wenig pflichtschuldig das einseitige Geschichtsbild vonseiten des "queeren und antikolonialen Widerstands" bemängelt. "Weiße Mehrheitsmänner", die ihren Privilegien nachjammern, mag Groebner deswegen natürlich noch lange nicht.
Wenn sich dann auf der letzten Seite ein Fahrradausflug in den elsässischen Ort Obermodern, ein Kalauer zur immer später werdenden Spätmoderne und "zwei Gläser kalter Weißwein" zum launigen, längst überfälligen Schlussidyll fügen, beschleichen einen unweigerlich nostalgische Gefühle. Denn früher, es ist noch gar nicht lange her, da hat Groebner mal richtig gute Bücher geschrieben. MARIANNA LIEDER
Valentin Groebner: "Gefühlskino". Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 192 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Gemütslage zu politischen Ressourcen ist es oft nur ein kleiner Schritt: Valentin Groebner inspiziert Gefühle, die gleichermaßen reizvoll und frustrierend sind
Die Emotionen, die in Valentin Groebners "Gefühlskino" die Hauptrolle spielen, fallen allesamt unter die Kategorie der "unsatisfying pleasures": gemischte Gefühle, die unwiderstehlich sind, aber zugleich unzufrieden machen. Insbesondere die Nostalgie zeichnet sich für den in Luzern lehrenden Mediävisten durch diese Widersprüchlichkeit aus. Deshalb sei die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der warme Erinnerung und schmerzliche Verlusterfahrung aufeinandertreffen, auch so ansteckend und jederzeit kollektiv abrufbar.
Auf ähnliche Weise würden auch Opferstolz, moralische Reinheitsbestrebungen und Weltuntergangsstimmung funktionieren - lauter affektive Regime, die sich aufgrund ihrer Ambivalenz selbst vervielfältigen und verstärken. Der Frage, wie es konkret aussieht, wenn diese paradoxen Gemütslagen zu psychosozialen Leitprinzipien und politischen Ressourcen werden, welche Gefahren und Scheinheiligkeiten damit einhergehen, möchte Groebner in seinem Langessay genauer nachgehen.
Das Vorhaben ist überaus lesenswert umgesetzt, wenn der Autor seine eigene Vergangenheit in den denkbar unnostalgischen Blick nimmt. Groebner, 1962 in Wien geboren, studierte in den Achtzigerjahren in Deutschland, wo er sich der militanten Linken anschloss. Er ließ kaum eine Demo aus, warf mit Steinen auf Dinge, die in seinen Augen für Atomkraft, Kapitalismus, Kernfamilie, NATO oder für Nazis standen, flüchtete vor Wasserwerfern und Polizeiknüppeln. In dieser uneitlen, selbstironischen Rückschau erscheint die lose organisierte autonome Szene als "Verschmelzung von männerbündnerischer Gewalt und lustvoller Tanzparty".
Einerseits prägten Hypermoralismus und homosoziale Selbstbestätigungsrituale die Atmosphäre. Zugleich herrschten nihilistisch angehauchter Hedonismus, mediale Inszenierungslust und ein radikaler Kult der gefühligen Subjektivität, der in den K-Gruppen der Siebzigerjahre noch undenkbar gewesen wäre. Bezeichnend auch, dass es sich bei den Mitgliedern der autonomen Gruppen mehrheitlich um behütet aufgewachsene Bürgerkinder handelte, die sich umstandslos mit den Verdammten dieser Erde identifizierten und offensiv revolutionsromantisch Vorbilder aus vergangenen Zeiten beschworen. Wahlweise sah man sich als Sprachrohr der Sozialhilfeempfänger oder als Wiedergeburt von Résistancekämpfern, Operationisten, Situationisten oder Bauernkriegern aus dem sechzehnten Jahrhundert.
Der angenehm abgeklärte Tonfall dieser Schilderung schlängelt sich durch die übrigen der sieben zwanglos miteinander verknüpften Kapitel. Wie häufig in seinen Büchern verbindet Groebner auch diesmal Gegenwartsbeobachtung, autobiographisches Anschauungsmaterial und kulturgeschichtliche Exkurse. So erfährt man, wie Groebner 2021 in der Schweiz unerwartet an einer Querdenker-Demonstration gegen staatliche Corona-Maßnahmen vorbeiläuft und bei den Teilnehmern ebenjene schwarzen Sturmhauben und Slogans wiederentdeckt, mit denen er selbst einst auf der Straße protestierte. Es geht ferner um spätmittelalterliche Bettelordensprediger und um deren rhetorische Strategien, die in der säkularen Gegenwart nachwirken. Einen Kurzauftritt hat auch Joseph Brodsky, der sich trotz Gulag und Zwangsexil ausdrücklich nicht mit dem Opferstatus arrangieren wollte.
Passagenweise liest man das gerne, doch nennenswerte essayistische Spannung oder gedankliche Prägnanz will außerhalb des Kapitels, in dem Groebner am Beispiel seiner linksradikalen Spätjugend die Dynamik und die politische Verwertbarkeit von Affekten anschaulich gemacht hat, partout nicht mehr aufkommen. Das liegt zum einen an dem rhetorischen Füllstoff, der äußerst freigiebig über die Seiten verteilt wird. Es wimmelt nur so von forcierten Metaphern, wolkigen Assoziationen, kreativen Bandwurmwörtern und leidlich aussagekräftigen, lustlos aufgeblähten Alltagsanekdoten.
Wenig ergiebig sind auch die mäandernden, unspezifischen Reflexionen zu den Grenzen der Erregungsgemeinschaft. Dabei blitzen durchaus interessante Gedanken auf, etwa zur Lust an der Schuld (der eigenen und der anderer), zu negativem Auserwähltheitsbewusstsein oder zu unerfüllbaren moralischen Maximalforderungen. Nur werden diese Gedanken wieder und wieder neu und noch einen Tick raffinierter oder bildhafter formuliert, bis sie schließlich völlig verbraucht wirken. Spätestens ab der Hälfte liest sich der schmale Band wie eine verdruckste Abrechnung mit der Identitätspolitik. Wobei der Begriff von Groebner kein einziges Mal genannt wird. Allerdings wird im Schlusskapitel kurz und ein wenig pflichtschuldig das einseitige Geschichtsbild vonseiten des "queeren und antikolonialen Widerstands" bemängelt. "Weiße Mehrheitsmänner", die ihren Privilegien nachjammern, mag Groebner deswegen natürlich noch lange nicht.
Wenn sich dann auf der letzten Seite ein Fahrradausflug in den elsässischen Ort Obermodern, ein Kalauer zur immer später werdenden Spätmoderne und "zwei Gläser kalter Weißwein" zum launigen, längst überfälligen Schlussidyll fügen, beschleichen einen unweigerlich nostalgische Gefühle. Denn früher, es ist noch gar nicht lange her, da hat Groebner mal richtig gute Bücher geschrieben. MARIANNA LIEDER
Valentin Groebner: "Gefühlskino". Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 192 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das ist analytisch zwar nicht vollkommen neu, gewinnt in Kleins Engführung ihrer persönlichen Doppelgänger-Geschichte mit einer ideenhistorisch untermauerten Recherche aber an großer Lebendigkeit. Nils Markwardt Die Zeit 20241010