Mit Gegen die Welt legt die US-amerikanische Historikerin Tara Zahra eine fantastisch geschriebene Geschichte des antiglobalistischen, antiinternationalistischen Denkens und Handelns in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg vor. Sie zeigt, wie ein Gemisch aus Nationalismus, Protektionismus und Fremdenfeindlichkeit rund um den Globus die Politik und das Denken eroberte. Ihr ebenso packendes wie bedrückendes Porträt einer Welt im Moment ihres Auseinanderbrechens ist auch eine Warnung: Die Ordnung, die wir für selbstverständlich erachten, kann brüchig sein.
Schon während der ersten Welle der Globalisierung bildeten sich gefährliche Unterströmungen. Migration und ökonomische Verflechtung lösten Ressentiments und Existenzängste aus. Nationalismus und Abschottung wurden zum Mantra zahlreicher Politiker. Mit dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe kam die erste Welle der Globalisierung vorerst zu einem Ende. Die Parallelen zur heutigen Zeit sind mit Händen zu greifen: Die Pandemie, die Verwerfungen in der Weltwirtschaft, die Rhetorik des »Take back control« - es scheint, als sei das frühe 20. Jahrhundert zu unserer Gegenwart geworden.
»Eine wunderbar geschriebene, fesselnde Geschichte darüber, wie die Globalisierung in der Vergangenheit gescheitert ist, und ein warnendes Beispiel für die Gegenwart. Zahras Rechercheleistung ist hervorragend, ihre Figuren sind unvergesslich.« Lea Ypi
Schon während der ersten Welle der Globalisierung bildeten sich gefährliche Unterströmungen. Migration und ökonomische Verflechtung lösten Ressentiments und Existenzängste aus. Nationalismus und Abschottung wurden zum Mantra zahlreicher Politiker. Mit dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe kam die erste Welle der Globalisierung vorerst zu einem Ende. Die Parallelen zur heutigen Zeit sind mit Händen zu greifen: Die Pandemie, die Verwerfungen in der Weltwirtschaft, die Rhetorik des »Take back control« - es scheint, als sei das frühe 20. Jahrhundert zu unserer Gegenwart geworden.
»Eine wunderbar geschriebene, fesselnde Geschichte darüber, wie die Globalisierung in der Vergangenheit gescheitert ist, und ein warnendes Beispiel für die Gegenwart. Zahras Rechercheleistung ist hervorragend, ihre Figuren sind unvergesslich.« Lea Ypi
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensent Wolf Lepenies hat das Buch von Tara Zahra mit Vergnügen gelesen. Mit "scharfem" Blick für Details und unterhaltsam schildere in zahlreichen Anekdoten Zahra die Welt der Zwischenkriegszeit hauptsächlich in Europa, aber auch in den USA oder Indien die von Stimmen gegen den um die Jahrtausendwende aufkommenden Internationalismus dominiert wird. Mit großem Interesse liest Lepenies vom allem die Kapitel über die so genannten "Binnenkolonien" Österreichs, Italiens und Deutschlands, die sich als Bollwerke gegen eine Weltwirtschaft formierten. Es war eine frühe Antiglobalisierung, die mit einem "rabiaten Antisemitismus" Hand in Hand ging, so Lepenies. Nicht zuletzt interessiert sich Leppenies für die wichtige Rolle, die Mitteleuropa in dem Buch spielt und die er als Sinnbild für Zahras These sieht: Einerseits sei das Habsburgerreich eine Weltwirtschaftszone im Kleinen gewesen, andererseits seien die globalisierungsfeindlichen Affekte in dieser Region nach dem Zusammenbruch des Reiches deutlich zu Tage getreten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2024Ohne Buchteln und Knödel musste es auch gehen
Übungen in Deglobalisierung: Die amerikanische Historikerin Tara Zahra widmet sich nationalen Abschottungstendenzen in der Zwischenkriegszeit
Im Juni 1913 fand in Budapest die Jahrestagung des Weltbundes für das Frauenstimmrecht statt. Es war seine bis dahin größte Veranstaltung, ausgiebig begangen mit Dampferfahrt, einer Sondervorstellung der Königlichen Oper ("Die Entführung aus dem Serail") und großer Zukunftsgewissheit. Noch kamen die Delegierten fast ausnahmslos aus Europa und Nordamerika, aber selbst "in den Harems der Mohammedaner" gebe es "in den Herzen der Frauen schon seit Jahrhunderten Rebellion". Ihre Sache kenne keine Grenzen: "Wie Alexander der Große werden wir bald schon nach anderen Welten Ausschau halten, die es zu erobern gilt." Mit ihrem Optimismus und dem Pathos der Grenzüberschreitung standen die Suffragetten nicht allein. Man reiste ohne Pass durch Europa, ja in die USA und nach Indien, wie sich Stefan Zweig später wehmütig erinnerte. Und der Welthandel hatte sich so glänzend entwickelt, dass vielfach geglaubt wurde, das Zeitalter der Kriege gehe zu Ende, zu sehr seien die Nationen wirtschaftlich miteinander verbunden.
Ein Jahr später brach der "Große Krieg" aus, und jedenfalls für die Mittelmächte war der Welthandel abrupt zu Ende, durch die britische Seeblockade gerieten sie in schwere Versorgungsnöte. Zu Ende kam auch das Vertrauen in eine ökonomische Vernunft, wonach das Eigeninteresse aller Beteiligten dafür sorge, dass jeder gegen Geld das Nötige bekomme, und die den Krieg verhindere, weil er schlecht fürs Geschäft sei. So wurde die Zwischenkriegszeit vergiftet durch Nationalismus, Misstrauen in die Nachbarn, Abgrenzung und Autarkiebestrebungen. Tara Zahra, Professorin für osteuropäische Geschichte an der University of Chicago, hat diesen Phänomenen ein unterhaltsames Buch gewidmet: "Gegen die Welt". Darin widmet sie sich, wie sie selbst sagt, den "Graswurzelursprüngen und menschlichen Folgen" der Revolte gegen die Internationalisierungen. Wirtschaftliche Fragen und deren wissenschaftliche Diskussion, etwa die der Vor- und Nachteile von Freihandel oder zollgeschützten Volkswirtschaften, spielen kaum eine Rolle. Das Manko wird offen eingestanden, ein Manko bleibt es.
Stattdessen wird, und das ist ja zunächst nicht schlecht, viel Anschauung aus verschiedensten Ländern geboten. Die Habsburgermonarchie etwa war ein großer gemeinsamer Wirtschaftsraum, der 1919 aufgelöst wurde. "Deutschösterreich" fehlten nun sein Hinterland und die eigene Ernährungsbasis. Die Siedlungsbewegung wollte Abhilfe schaffen, indem sie für Familien (allerdings karge) Wohnhäuser errichtete, aus den Gärten sollten sich die Siedler selbst versorgen. Adolf Loos wurde Chefarchitekt des Wiener Siedlungsamtes, und er zog weitreichende Schlüsse aus der neuen politischen Lage. In Österreich habe man beim Kochen seit je aus dem Staatengebilde der Donaumonarchie geschöpft. "Die böhmischen knödel, die mährischen buchteln, die italienischen schnitzel - lauter dinge, die jahrhundertelang zum eisernen bestand der wiener küche gehörten, müssen durch heimische nahrungsmittel ersetzt werden."
Für Loos war es wohl eine Frage der Wahrhaftigkeit, sich von dem zu ernähren, was man selbst angebaut hatte, aber auch anderswo wurde eine neue Disziplin beim Essen gefordert, politisch zur Förderung der Autarkie und Stärkung des eigenen Landes, lebensreformerisch zur Hebung der Gesundheit und Naturnähe. Gewiss hatte die Siedlungsbewegung stark nationale Züge, aber dass ein Mann wie Loos sich für sie einsetzte, ist doch bemerkenswert. In anderen Ländern dachte man ähnlich, die englische Gartenstadtbewegung setzte gleichfalls auf die Selbstversorgung der Bewohner, und selbst die fortschrittsfrohen USA erhofften eine Gesundung der Verhältnisse durch Nähe zur Natur. Roosevelt als Gouverneur von New York nannte es einen Gewinn, "wenn so viele Menschen wie möglich näher an die Quellen der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelversorgung zurückkehren könnten". Die Frage aber, ob überhaupt genügend Land für eine umfassende Siedlungsbewegung zur Verfügung gestanden hätte, stellt sich Zahra nicht, und das ist nicht untypisch für ihre Arbeitsweise. Sie schneidet interessante Themen an, liefert bemerkenswerte Details und lässt dann vieles wieder entgleiten.
Auch Gandhis Kampagne für das Spinnen und Weben zu Hause gehört in unseren Zusammenhang. Natürlich ging es um die Unabhängigkeit Indiens mithilfe der Autarkie. Aber es gab darüber hinaus eine moralische oder spirituelle Dimension, es sollte auch Askese geübt werden als ein Wert an sich - in Europa ebenfalls ein Gesichtspunkt. Das Spinnrad als Symbol des Kampfes ziert bis heute die Flagge Indiens, doch war Gandhis Kampagne nicht rundweg populär. Denn die im Lande gewebten Stoffe, ohne die Kostenvorteile der industriellen Produktion gefertigt, waren teuer. Den Armen verlangte die Autarkiekampagne erhebliche Opfer ab, die Reichen hätten lieber feineres Tuch getragen.
Interessant jedenfalls an der länderübergreifenden Betrachtung ist, dass die Skepsis gegenüber der weltwirtschaftlichen Offenheit politisch promisk ist, wie Zahra schreibt. Nationale Beschränktheit und Schlimmeres ist das eine. Dem Nationalsozialismus ging es natürlich um die "Wehrhaftmachung" der deutschen Wirtschaft, zu diesem Zweck wurde sogar eine Walfangflotte aufgebaut, um die "Fettlücke" zu schließen, ganz zwecklos, als es darauf ankam. Aber die Deglobalisierung, wie sich Zahra bewusst anachronistisch ausdrückt, griff in der Zwischenkriegszeit überall um sich. In Großbritannien stellte man fest, dass das materielle Wohlergehen auswärtiger Staaten aus seuchenpolitischen Gründen im eigenen Interesse liege; diese Erkenntnis aber sei "sehr hart". Die USA begannen sich den Migranten zu verschließen, 1924 wurde der Johnson-Reed-Act, auch Asian Exclusion Act genannt, erlassen. Die Verteidigung des Amerikanismus war ein großes Thema geworden. 1915 wurde der Ku-Klux-Klan wiedergegründet, jetzt richtete er sich auch gegen Juden und Katholiken. Selbst die Prohibition hatte eine fremdenfeindliche Spitze, Alkoholismus wurde als Laster der Katholiken betrachtet. Und die Universal Negro Improvement Association glaubte, es sei das Beste für den Negro, seine "racial force durch die Errichtung eines eignen Mutterlandes Afrika zu festigen". Das Gespräch, das ihr Vorsitzender mit dem Imperial Grand Wizard des Ku-Klux-Klan führte, ergab da eine gewisse Übereinstimmung.
Migrationsfeindlichkeit ist ein rechtes Thema, aber im neuen Zeitalter der "Massenpolitik" nicht immer ohne Zustimmung der Bevölkerung, denn die Migration kennt Gewinner und Verlierer. In einzelnen amerikanischen Städten bedeutete vor dem Ersten Weltkrieg ein Bevölkerungszuwachs durch Einwanderer um 1 Prozent einen Rückgang der Löhne um 1 bis 1,5 Prozent. (Eines der seltenen Zahlenbeispiele Zahras, und wie interessant ist es!) Die schöne Reisefreiheit, an die sich Zweig erinnerte, war das Privileg reicher Männer, wie auch der Budapester Suffragettenkongress bei sozialistischen Frauenrechtlerinnen auf Vorbehalte stieß: "Wie die große Mehrheit der Frauen - mindestens 90 Prozent - lebt, das Schicksal der Arbeiterfrauen, der Proletarierfrauen", all das hatte nach ihrem Eindruck keine Beachtung gefunden.
Und die Früchte des Freihandels wurden auch nicht gleichmäßig verteilt, weder zwischen den Staaten noch zwischen den Bürgern. Wer nun in welchem Maße profitierte, das würde man aus einem Buch wie diesem gerne erfahren, aber dazu bietet es nichts. Man trifft da auf eine intellektuelle Lässigkeit, die es mit dem Erzählen gern bewenden lässt. So liebt es die Autorin auch, aufsehenerregende Zitate zu bringen, ohne sie einzuordnen, zum Beispiel die Behauptung eines britischen Politikers in den späten Dreißigerjahren, der Rückgang des Welthandels habe "mehr Opfer gekostet (...) als der Krieg selbst". Ob das wohl stimmt? Von Tara Zahra erfahren wir es nicht. STEPHAN SPEICHER
Tara Zahra: "Gegen die Welt". Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 448 S., Abb., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Übungen in Deglobalisierung: Die amerikanische Historikerin Tara Zahra widmet sich nationalen Abschottungstendenzen in der Zwischenkriegszeit
Im Juni 1913 fand in Budapest die Jahrestagung des Weltbundes für das Frauenstimmrecht statt. Es war seine bis dahin größte Veranstaltung, ausgiebig begangen mit Dampferfahrt, einer Sondervorstellung der Königlichen Oper ("Die Entführung aus dem Serail") und großer Zukunftsgewissheit. Noch kamen die Delegierten fast ausnahmslos aus Europa und Nordamerika, aber selbst "in den Harems der Mohammedaner" gebe es "in den Herzen der Frauen schon seit Jahrhunderten Rebellion". Ihre Sache kenne keine Grenzen: "Wie Alexander der Große werden wir bald schon nach anderen Welten Ausschau halten, die es zu erobern gilt." Mit ihrem Optimismus und dem Pathos der Grenzüberschreitung standen die Suffragetten nicht allein. Man reiste ohne Pass durch Europa, ja in die USA und nach Indien, wie sich Stefan Zweig später wehmütig erinnerte. Und der Welthandel hatte sich so glänzend entwickelt, dass vielfach geglaubt wurde, das Zeitalter der Kriege gehe zu Ende, zu sehr seien die Nationen wirtschaftlich miteinander verbunden.
Ein Jahr später brach der "Große Krieg" aus, und jedenfalls für die Mittelmächte war der Welthandel abrupt zu Ende, durch die britische Seeblockade gerieten sie in schwere Versorgungsnöte. Zu Ende kam auch das Vertrauen in eine ökonomische Vernunft, wonach das Eigeninteresse aller Beteiligten dafür sorge, dass jeder gegen Geld das Nötige bekomme, und die den Krieg verhindere, weil er schlecht fürs Geschäft sei. So wurde die Zwischenkriegszeit vergiftet durch Nationalismus, Misstrauen in die Nachbarn, Abgrenzung und Autarkiebestrebungen. Tara Zahra, Professorin für osteuropäische Geschichte an der University of Chicago, hat diesen Phänomenen ein unterhaltsames Buch gewidmet: "Gegen die Welt". Darin widmet sie sich, wie sie selbst sagt, den "Graswurzelursprüngen und menschlichen Folgen" der Revolte gegen die Internationalisierungen. Wirtschaftliche Fragen und deren wissenschaftliche Diskussion, etwa die der Vor- und Nachteile von Freihandel oder zollgeschützten Volkswirtschaften, spielen kaum eine Rolle. Das Manko wird offen eingestanden, ein Manko bleibt es.
Stattdessen wird, und das ist ja zunächst nicht schlecht, viel Anschauung aus verschiedensten Ländern geboten. Die Habsburgermonarchie etwa war ein großer gemeinsamer Wirtschaftsraum, der 1919 aufgelöst wurde. "Deutschösterreich" fehlten nun sein Hinterland und die eigene Ernährungsbasis. Die Siedlungsbewegung wollte Abhilfe schaffen, indem sie für Familien (allerdings karge) Wohnhäuser errichtete, aus den Gärten sollten sich die Siedler selbst versorgen. Adolf Loos wurde Chefarchitekt des Wiener Siedlungsamtes, und er zog weitreichende Schlüsse aus der neuen politischen Lage. In Österreich habe man beim Kochen seit je aus dem Staatengebilde der Donaumonarchie geschöpft. "Die böhmischen knödel, die mährischen buchteln, die italienischen schnitzel - lauter dinge, die jahrhundertelang zum eisernen bestand der wiener küche gehörten, müssen durch heimische nahrungsmittel ersetzt werden."
Für Loos war es wohl eine Frage der Wahrhaftigkeit, sich von dem zu ernähren, was man selbst angebaut hatte, aber auch anderswo wurde eine neue Disziplin beim Essen gefordert, politisch zur Förderung der Autarkie und Stärkung des eigenen Landes, lebensreformerisch zur Hebung der Gesundheit und Naturnähe. Gewiss hatte die Siedlungsbewegung stark nationale Züge, aber dass ein Mann wie Loos sich für sie einsetzte, ist doch bemerkenswert. In anderen Ländern dachte man ähnlich, die englische Gartenstadtbewegung setzte gleichfalls auf die Selbstversorgung der Bewohner, und selbst die fortschrittsfrohen USA erhofften eine Gesundung der Verhältnisse durch Nähe zur Natur. Roosevelt als Gouverneur von New York nannte es einen Gewinn, "wenn so viele Menschen wie möglich näher an die Quellen der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelversorgung zurückkehren könnten". Die Frage aber, ob überhaupt genügend Land für eine umfassende Siedlungsbewegung zur Verfügung gestanden hätte, stellt sich Zahra nicht, und das ist nicht untypisch für ihre Arbeitsweise. Sie schneidet interessante Themen an, liefert bemerkenswerte Details und lässt dann vieles wieder entgleiten.
Auch Gandhis Kampagne für das Spinnen und Weben zu Hause gehört in unseren Zusammenhang. Natürlich ging es um die Unabhängigkeit Indiens mithilfe der Autarkie. Aber es gab darüber hinaus eine moralische oder spirituelle Dimension, es sollte auch Askese geübt werden als ein Wert an sich - in Europa ebenfalls ein Gesichtspunkt. Das Spinnrad als Symbol des Kampfes ziert bis heute die Flagge Indiens, doch war Gandhis Kampagne nicht rundweg populär. Denn die im Lande gewebten Stoffe, ohne die Kostenvorteile der industriellen Produktion gefertigt, waren teuer. Den Armen verlangte die Autarkiekampagne erhebliche Opfer ab, die Reichen hätten lieber feineres Tuch getragen.
Interessant jedenfalls an der länderübergreifenden Betrachtung ist, dass die Skepsis gegenüber der weltwirtschaftlichen Offenheit politisch promisk ist, wie Zahra schreibt. Nationale Beschränktheit und Schlimmeres ist das eine. Dem Nationalsozialismus ging es natürlich um die "Wehrhaftmachung" der deutschen Wirtschaft, zu diesem Zweck wurde sogar eine Walfangflotte aufgebaut, um die "Fettlücke" zu schließen, ganz zwecklos, als es darauf ankam. Aber die Deglobalisierung, wie sich Zahra bewusst anachronistisch ausdrückt, griff in der Zwischenkriegszeit überall um sich. In Großbritannien stellte man fest, dass das materielle Wohlergehen auswärtiger Staaten aus seuchenpolitischen Gründen im eigenen Interesse liege; diese Erkenntnis aber sei "sehr hart". Die USA begannen sich den Migranten zu verschließen, 1924 wurde der Johnson-Reed-Act, auch Asian Exclusion Act genannt, erlassen. Die Verteidigung des Amerikanismus war ein großes Thema geworden. 1915 wurde der Ku-Klux-Klan wiedergegründet, jetzt richtete er sich auch gegen Juden und Katholiken. Selbst die Prohibition hatte eine fremdenfeindliche Spitze, Alkoholismus wurde als Laster der Katholiken betrachtet. Und die Universal Negro Improvement Association glaubte, es sei das Beste für den Negro, seine "racial force durch die Errichtung eines eignen Mutterlandes Afrika zu festigen". Das Gespräch, das ihr Vorsitzender mit dem Imperial Grand Wizard des Ku-Klux-Klan führte, ergab da eine gewisse Übereinstimmung.
Migrationsfeindlichkeit ist ein rechtes Thema, aber im neuen Zeitalter der "Massenpolitik" nicht immer ohne Zustimmung der Bevölkerung, denn die Migration kennt Gewinner und Verlierer. In einzelnen amerikanischen Städten bedeutete vor dem Ersten Weltkrieg ein Bevölkerungszuwachs durch Einwanderer um 1 Prozent einen Rückgang der Löhne um 1 bis 1,5 Prozent. (Eines der seltenen Zahlenbeispiele Zahras, und wie interessant ist es!) Die schöne Reisefreiheit, an die sich Zweig erinnerte, war das Privileg reicher Männer, wie auch der Budapester Suffragettenkongress bei sozialistischen Frauenrechtlerinnen auf Vorbehalte stieß: "Wie die große Mehrheit der Frauen - mindestens 90 Prozent - lebt, das Schicksal der Arbeiterfrauen, der Proletarierfrauen", all das hatte nach ihrem Eindruck keine Beachtung gefunden.
Und die Früchte des Freihandels wurden auch nicht gleichmäßig verteilt, weder zwischen den Staaten noch zwischen den Bürgern. Wer nun in welchem Maße profitierte, das würde man aus einem Buch wie diesem gerne erfahren, aber dazu bietet es nichts. Man trifft da auf eine intellektuelle Lässigkeit, die es mit dem Erzählen gern bewenden lässt. So liebt es die Autorin auch, aufsehenerregende Zitate zu bringen, ohne sie einzuordnen, zum Beispiel die Behauptung eines britischen Politikers in den späten Dreißigerjahren, der Rückgang des Welthandels habe "mehr Opfer gekostet (...) als der Krieg selbst". Ob das wohl stimmt? Von Tara Zahra erfahren wir es nicht. STEPHAN SPEICHER
Tara Zahra: "Gegen die Welt". Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 448 S., Abb., geb., 36,- Euro.
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»Im Buch ... Gegen die Welt kann man einmal mehr sehen, wie eine veränderte Gegenwart den Blick auf Vergangenes verändert.« der Freitag 20240727