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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
In seinem packenden Roman "Gegen die Zeit" erzählt Sascha Reh ein unbekanntes Kapitel aus der Vorgeschichte der digitalen Ökonomie.
Die Geschichte schützt uns immer noch am besten vor gegenwartspathetischem Hochmut. Dies gilt vor allem für solche Tendenzen, die mit dem Gestus einer alles verändernden Wende, eines "Paradigmenwechsels", daherkommen. Sascha Rehs neuer, dritter Roman zeigt dies anhand eines der wohl brennendsten Themen unserer Gegenwart, die manche bereits das "digitale Zeitalter" getauft haben: Es geht um die Planung, Steuerung und Voraussage ökonomischer Entscheidungen und Entwicklungen durch computergestützte Netzwerke, Datensysteme, Algorithmen. "Und vielleicht ... weiß Cybernet dann schon vor dem Verbraucher, wann er eine Hose will. Und welche." Dieser Satz bezieht sich bei Reh mitnichten auf die Welt von Amazon, Facebook und Google; er bezieht sich auf das sozialistische Chile des Salvador Allende.
Reh erzählt von einem historisch verbürgten, allerdings unvollendeten Experiment zu Beginn der siebziger Jahre - von dem großangelegten Versuch, die chilenische Wirtschaft durch rechnergestützte Vernetzung und Kontrolle flexibler, effizienter, produktiver zu gestalten, und zwar in Echtzeit. "Der Strombedarf jedes Verpackungsautomaten, der Anpressdruck jeder Blechpresse, die Laufgeschwindigkeit jedes Förderbandes: Wir sind die Schaltstelle, bei der alle diese Daten landen", so beschreibt Stanley Baud, der wissenschaftliche Projektleiter, das staatlich initiierte Vorhaben. "Cybernet bringt sie miteinander in Verbindung, so unscheinbar sie auch sein mögen, und stimmt sie optimal aufeinander ab. We are the brain of the whole enterprise."
Den wissenschaftlichen Hintergrund für dieses umfassende Steuerungssystem liefert die Kybernetik, das Ungetüm von Riesenrechner kommt von IBM. Der aus Deutschland stammende Protagonist und Erzähler des Romans, der junge Industriedesigner Hans Everding (für den es ebenso ein reales Vorbild gibt wie für den britischen Projektleiter), wird mit der Einrichtung und Gestaltung eines Kontrollzentrums betraut, das nicht nur funktional, sondern auch futuristisch, visionär und bei all dem lässig anmuten soll - ein Design, das nicht von ungefähr ans Raumschiff Enterprise denken lässt. Kurioserweise muss für diese Anmutung auf ziemlich rudimentäre Mittel zurückgegriffen werden: Für die Herstellung der Dias zur Visualisierung der Datensätze braucht es Karton, Skalpell und Bastelkleber; für die kantenfreien Kontrollsessel aus weißglänzendem Kunstharz, an denen Getränkehalter und Aschenbecher nicht fehlen dürfen (Baud: "Damit man sich wohl fühlt!"), wird ein eigenbrötlerischer Bootsbauer aus der Provinz engagiert.
Hans, berauscht von der kollektiven Allende-Begeisterung, zugleich verstört von den politischen Spannungen im Land, die sich immer wieder in gewaltsamen Auseinandersetzungen entladen, geht seine neue Aufgabe mit Idealismus und Enthusiasmus an. Nachdem der "Beat" der Achtundsechziger-Revolten in Deutschland endgültig verklungen war, hatte sich der Ernüchterte für eine Tätigkeit als Entwicklungshelfer in Chile entschieden; als Dozent an der Universität unterrichtet er zunächst eine Gruppe von Studenten im kostengünstigen und zweckmäßigen Entwurf von Landmaschinen, Steingutgeschirr, Kofferplattenspielern. Aber erst als Mitarbeiter des sogenannten "Corfo"-Teams, das für den Aufbau des "Cybernet" zuständig ist, erkennt Hans für sich die Chance, Entscheidendes zum sozialistischen Gesellschaftsaufbau beitragen zu können. Stanley beschreibt ihm das Projekt als technische Revolution von geradezu epochaler Bedeutung, gleich dem Mondflug der Amerikaner, die aber weder dem Profit noch der Wissenschaft verpflichtet sei: "Der Zweck ... liegt darin, dem chilenischen Volk zu dienen."
Hans' Lebensgeschichte und die Geschichte des "Cybernet" werden über weite Strecken hinweg in Rückblenden nachgezeichnet, die in scharfem Kontrast zur geschickt eingeblendeten Gegenwartserzählung stehen. Pinochets Militärputsch, der am 11. September 1973 beginnt, ist bereits in vollem Gange. Hans und mit ihm die anderen Projektmitarbeiter müssen um ihr Leben fürchten. Zugleich versuchen sie unter den chaotischen Zuständen, die von ihnen angelegte Datensammlung wegzuschaffen: Die auf den Magnetbändern in "unfehlbaren binären Signaturen" verzeichneten Anhänger von Allende und der Unidad Popular wären für Pinochets Schergen per Tastendruck lokalisierbar - "überall in diesem riesigen abgelegenen Land, das die Junta mit ihren Folterhäusern überziehen würde". Das computerisierte Wirtschaftsnetzwerk droht zu einem Instrument des staatlich organisierten Terrors zu werden.
Der mitunter protokollhaft erzählte Roman, der sich in Teilen aus Hans' langen, quälenden Verhören durch einen deutschsprachigen Militär zusammensetzt, gerät im Handlungsverlauf zu einer mitreißenden Hide-and-seek-Story, die in ihren schnellen, harten Schnitten erkennbar an filmischen Erzählverfahren der Gegenwart, etwa der Serie "Homeland", orientiert ist. Dabei verbindet Reh die Kernhandlung mit einer ziemlich klischeehaften Geschichte um Liebe und Verrat in Zeiten des politischen Umbruchs; mit philosophischen Exkursen zur Dynamik gesellschaftlicher Protestbewegungen; mit wissenschaftshistorisch detaillierten Reflexionen über komplexe Systeme und theoretische Möglichkeiten ihrer Regulation.
Bei all dem muss Reh nicht angestrengt auf irgendeinen abstrakten Gegenwartsbezug pochen - er ergibt sich aus dem Stoff selbst. Die sehr weitreichenden Fragen, die in diesem Roman verhandelt werden, sind in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wahrscheinlich nie plastischer inszeniert worden: Lässt sich angesichts der unübersehbaren Möglichkeiten des klein- oder großangelegten Missbrauchs "Big Data" überhaupt rechtfertigen? Unter welchen meist unausgesprochenen, das heißt ideologischen Voraussetzungen sind Menschen dazu bereit, diese Risiken in Kauf zu nehmen? Und welche merkwürdige Rolle spielt hierbei die Dimension des verführerischen Designs, der anziehenden Haptik vor allem, auf die Reh so ausführlich eingeht? Ohne voreilige Antworten zu liefern, unterstreicht "Gegen die Zeit" eines jedenfalls mit Nachdruck: Mit jeder Datensammlung will man etwas, damals wie heute.
Dieser Roman ist also beides zugleich: ein eindrucksvoll recherchierter historischer Roman, der in ein weithin unbekanntes Kapitel der Zeitgeschichte einführt, und ein ebenso packendes wie gedankenreiches Stück Gegenwartsliteratur. Was daran besonders besticht, ist Rehs transnationaler Ansatz, sein Interesse an globalen Verstrickungen im Bereich von Wissenschaft, Politik und Technik; ein Interesse, das ihn eigens bis nach Chile geführt hat, wo er sich mit den ehemaligen Mitarbeitern des realhistorischen "Cybersyn"-Projekts unterhalten konnte. Das Ergebnis ist ein Roman von erstaunlicher Weltläufigkeit.
KAI SINA
Sascha Reh: "Gegen die Zeit". Roman.
Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2015. 360 S., geb., 21,95 [Euro].
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