"Goethe bombardierte mich mit Langeweile!" Barbey d´Aurevillys Gegen Goethe ist eine der polemischsten und unsachlichsten, aber auch witzigsten und originellsten Abrechnungen, denen wohl je eine berühmte Person ausgesetzt war. Ein reines Lesevergnügen für Goethe-Verehrer, Goethe-Verächter, aber auch für all die, denen Goethe immer schon egal war. Barbey d´Aurevilly verreißt in acht Kapiteln, die sich den verschiedenen Wirkungsfeldern Goethes widmen, alles, was der Olympier hinterlassen hat - ohne sich im mindesten um seine Glaubwürdigkeit zu scheren. Sprachlich und stilistisch zeigt er sich in Höchstform: Die ungestüm kalauernde und phantasievoll-spielerische Wortgewalt macht das unsanfte Temperament des Autors aufs schönste sichtbar. Dieses erstmals auf deutsch erscheinende Buch beleuchtet aber nicht nur die private Abneigung eines Schriftstellers gegen einen berühmteren Kollegen, sondern ein ganzes Kapitel deutsch-französischer Geschichte. Barbey d´Aurevillys Attacke gegen Goethe, der hier stellvertretend für das ganze Land steht, ist Teil einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen Deutschland-Bewunderern und Deutschland-Verächtern, die im 19. Jahrhundert in Frankreich tobte. Madame de Staël und Barbeys Intimfeind Sainte-Beuve hatten sich für Deutschland eingesetzt. Barbey d´Aurevilly warf den Deutschland-Verehrern Verrat vor und gab ihnen sogar eine Mitschuld an der Niederlage im Krieg von 1870/71. In seinem brillanten Vorwort zeichnet Lionel Richard kurzweilig und präzise die Vorgeschichte von Gegen Goethe nach und stellt den Text in historische und biographische Zusammenhänge. Dabei lässt er Goethe die Gerechtigkeit widerfahren, die Barbey ihm vorenthält. In einem anschließenden Essay informiert der Kunsthistoriker Christian Hecht über die im Buch abgebildeten Goethe-Porträts des 19. Jahrhunderts.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.01.2007Ein Gimpel durch und durch
„Gegen Goethe”: Jules-Amédée Barbey d’Aurevilly rächt sich
Wer das Porträt von Jules-Amédée Barbey d’Aurevilly anschaut, weiß schon fast alles über ihn: welch hochmütige, gnadenlos-herablassende Physiognomie, von den vernichtend dreinschauenden Augen bis zu dem weit heruntergezogenen Schnurrbart! Dass dieser Mann, der fast das ganze 19. Jahrhundert erlebt hat (1808-1889), ein normannischer Aristokratenspross ist, sieht man auf den ersten Blick. Sein exquisites ,Outfit‘ lässt ahnen, dass er ein berühmter Dandy war, der strenge Gesichtsausdruck, dass er sich aus dem Dandy in einen streitbaren Katholiken verwandelt hat – in was sonst bei einer solchen Aristokratenvita und -visage.
Barbeys Ruhm in Deutschland hielt und hält sich in Grenzen. Doch wer sich ein bisschen im 19. Jahrhundert auskennt, weiß wenigstens von seinem Essay „Du Dandysme”, einem der wichtigsten theoretischen Versuche über dieses von George Bryan Brummel initiierte Epochenphänomen. Und man kennt auch seinen wiederholt ins Deutsche übersetzten Novellenzyklus „Les Diaboliques”. Aber dass er sich auch mit Goethe befasst, 1873 einen längeren Essay über ihn geschrieben hat, das wussten wohl nur wenige unter uns. Und tatsächlich hat man von dieser wohl höhnischsten Streitschrift gegen Goethe, die je geschrieben worden ist, in Deutschland nie Notiz genommen. Jetzt ist sie zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erschienen, in einer für dieses böse Buch viel zu schönen Aufmachung und mit kundiger Kommentierung.
„Während die Preußen Paris bombardierten, las ich Goethe.” So lautet der erste Satz, und wir ahnen gleich, dass Goethe für Barbey die intellektuelle Parallelfigur zu Bismarck ist, und dass es, da dieser nicht umzubringen ist, wenigstens mit seinem vermeintlichen geistigen Abbild geschehen muss. Haben die französischen Waffen versagt, so soll die französische Feder siegen. Und nun geht es los: Attackierten die preußischen Kanonen die französische Hauptstadt, so „bombardierte” Goethe Barbey mit Langeweile. „Von allen deutschen Geschossen, die über meinem Stadtteil niedergingen, waren die ,Sämtlichen Werke‘ für mich das schwerste.”
Mit exzessivem Zorn erfüllt es Barbey, dass der größte Langweiler aller Literaturen den größten Ruhm aller modernen Autoren genießt, vor allem in Frankreich. Madame de Staël zumal hat diesen beispiellosen Ruhm Goethes zu verantworten. Ohne sie und ihre Nachbeter „hätte Goethe nur sein deutsches Geräusch hervorgebracht – ein Gluckgluck in einem Tintenfass!” Aber nun: „Die Schriftsteller Frankreichs germanisieren sich. Sie pilgerten nach Deutschland, um sich zu vervollkommnen, wie die griechischen Philosophen nach Ägypten.” Das ist für Barbey die Ursache der deutschen Überheblichkeit, ja geradezu der Anlass dafür, dass die Preußen Frankreich mit einem Krieg verheeren konnten. Goethe als Grund der französischen Niederlage.
Barbey geht die „Sämtlichen Werke” Band für Band durch, natürlich in der Übersetzung von Jacques Porchat – Deutsch kann er nicht und will er nicht. Da hagelt es aus Barbeys Feder kritische Bomben auf Goethes Person („vom Scheitel bis zur Sohle war er ein Gimpel”, ein „Plumpsack” und „Trottel”) und alle Bereiche seines Werks: keine Spontaneität, nichts als Berechnung, keine Erfindung, nur Kompilation, Laienfleiß statt Genialität, ein ewiger Arrangeur, eine Leseratte, Papierkratzer und Papierzuschneider, ein Chamäleon, das die Farbe jeder Umgebung annimmt, ein Schuhflicker, vor allem in seiner jämmerlichen Ausbeutung des alten Fauststoffs. So in dichter Folge die vernichtenden Urteile. Der völlig unverständliche „Faust II” sammelt nur „mythologischen Kinderkram”, um ihn „der menschlichen Gattung ins Gesicht zu rülpsen”. Goethes Hauptwerk – „die literarische Krupp-Kanone” – ganz zu lesen, hat Barbey offenbar keine Zeit und Lust gehabt, denn er wähnt, die letzte Szene spiele in einer Kathedrale, wo Gretchen auch sterbe.
Diese Szene freilich – weil sie so schön katholisch ist – gefällt Barbey, und auch für das katholische Gretchen hat er eine Schwäche. Ansonsten aber ist Goethe im Vergleich etwa mit Corneille ein Stümper, weil eben ein amoralischer und areligiöser Heide, wie er auch künstlerisch an einen großen Christen nicht heranreichen kann. Als Dramatiker ist Goethe miserabel, denn er wechselt dauernd die Szene, anstatt sich an die luzide Ordnung der drei Einheiten zu halten. Seine Gedichte: bloß sentimentale Albernheiten und alexandrinischer Mischmasch, nichts, das aus dem Herzen kommt, seine Romane „Phänomene der Dummheit” und der exorbitanten Unmoral, Verteidigung der Vielweiberei wie der Vielgötterei. Seine Weltanschauung: abgedroschener Orientalismus, „gemäßigt durch Sauerkraut”.
Dass er kein Dichter war, erkennt man schon daran, dass er – im Gegensatz zu allen großen Dichtern – nichts von Frauen verstand, wie seine weiblichen Gestalten zeigen, mit der einen Ausnahme: Gretchen. Das „ewig Weibliche” = die „ewige Kaulquappe”. Auch die autobiographischen Schriften, die Essays und naturwissenschaftlichen Traktate werden durchgehechelt. Barbey hat sich wirklich Mühe gemacht, und er kommt zu dem Schluss, Goethe sei eine „moralische Mumie, die nie gelebt hat”. Nie ist ein berühmter Dichter so mit Kübeln von Spott übergossen worden wie Goethe von Barbey. In einem Punkt wird man ihm freilich in Bezug auf das Frankreich von heute zustimmen müssen: „Man liest ihn schon heute kaum noch; bald wird man ihn gar nicht mehr lesen.”
Wie konnte es zu einer derart aberwitzigen Polemik kommen? Da ist der Hass auf das siegreiche Deutschland, der Hass des Katholiken auf den Freigeist, aber auch die Konkurrenzspannung zu dem Großkritiker Sainte-Beuve, der Goethe unablässig in den Himmel gehoben und eine ganze Generation von Goethe-Verehrern unter den französischen Schriftstellern nach sich gezogen hat: Théophile Gautier, Flaubert, Leconte de Lisle und einen Großteil der literarischen Generation in Frankreich seit 1850, Autoren, die Barbey oft nicht weniger harsch attackiert hat als ihr vermeintliches Idol Goethe. „Alle Kaulquappen der modernen Poesie wimmeln im Laich von Goethes Theorien, und Gautier, der ihn bei uns nachzumachen suchte, ist aus seinem Eiweißstoff gemacht.”
Was soll uns Barbeys Polemik? Zweifellos besitzt sie nicht die kritische Anregungskraft etwa von Nietzsches „Fall Wagner”, denn diese ist von intimer Kenntnis ihres Gegenstandes geprägt, offenbart sich bei allen polemischen Exzessen immer doch, mit Thomas Mann zu reden, als „umgekehrter Panegyrikus”. Davon kann bei Barbey nicht die Rede sein. Er schmäht nur, und das meist ohne wirkliche Kenntnis. Doch man liest seine Streitschrift wegen ihrer virtuosen Beschimpfungskaskaden hin und wieder mit Vergnügen, wenn auch nur als „l’art pour l’art” des Unflats – freilich auch mit nostalgischen Empfindungen. Was war das für eine Epoche, in der Goethe solche Aggressionen auslösen konnte! Eben weil die literarische Elite in Frankreich mit seinem Werk so eng verbunden und vertraut war.
Während Frankreich und Deutschland sich nationalistisch-chauvinistisch bis aufs Blut bekämpften, bestand eine tiefe untergründige geistige Verbindung der französischen Literaten zum geistigen Deutschland, wie es von Goethe repräsentiert wurde. Heute, im vereinigten Europa und im Zeichen der deutsch-französischen Freundschaft, ist es genau umgekehrt: Politisch ist man befreundet, literarisch jedoch weiter entfernt voneinander als im 18., 19. und weithin noch im 20. Jahrhundert. Welcher deutsche Schriftsteller – von Goethe ganz zu schweigen – könnte heute noch den Hass eines französischen Autors auf sich ziehen? Nicht einmal Peter Handke. Wo es keine Begeisterung gibt, gibt es auch keinen Hass. DIETER BORCHMEYER
JULES BARBEY D’AUREVILLY: Gegen Goethe. Aus dem Französischen und mit Anmerkungen versehen von Gernot Krämer. Mit einem Nachwort von Lionel Richard und einem Essay von Christian Hecht. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2006. 141 Seiten, 19,80 Euro.
Was war das für eine Epoche, in der Goethe solche Aggressionen auslösen konnte!
In diesem Gesicht vereint sich der berühmte Dandy mit dem streitbaren Katholiken: Jules-Amédée Barbey d’Aurevilly. Foto: Ullstein
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„Gegen Goethe”: Jules-Amédée Barbey d’Aurevilly rächt sich
Wer das Porträt von Jules-Amédée Barbey d’Aurevilly anschaut, weiß schon fast alles über ihn: welch hochmütige, gnadenlos-herablassende Physiognomie, von den vernichtend dreinschauenden Augen bis zu dem weit heruntergezogenen Schnurrbart! Dass dieser Mann, der fast das ganze 19. Jahrhundert erlebt hat (1808-1889), ein normannischer Aristokratenspross ist, sieht man auf den ersten Blick. Sein exquisites ,Outfit‘ lässt ahnen, dass er ein berühmter Dandy war, der strenge Gesichtsausdruck, dass er sich aus dem Dandy in einen streitbaren Katholiken verwandelt hat – in was sonst bei einer solchen Aristokratenvita und -visage.
Barbeys Ruhm in Deutschland hielt und hält sich in Grenzen. Doch wer sich ein bisschen im 19. Jahrhundert auskennt, weiß wenigstens von seinem Essay „Du Dandysme”, einem der wichtigsten theoretischen Versuche über dieses von George Bryan Brummel initiierte Epochenphänomen. Und man kennt auch seinen wiederholt ins Deutsche übersetzten Novellenzyklus „Les Diaboliques”. Aber dass er sich auch mit Goethe befasst, 1873 einen längeren Essay über ihn geschrieben hat, das wussten wohl nur wenige unter uns. Und tatsächlich hat man von dieser wohl höhnischsten Streitschrift gegen Goethe, die je geschrieben worden ist, in Deutschland nie Notiz genommen. Jetzt ist sie zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erschienen, in einer für dieses böse Buch viel zu schönen Aufmachung und mit kundiger Kommentierung.
„Während die Preußen Paris bombardierten, las ich Goethe.” So lautet der erste Satz, und wir ahnen gleich, dass Goethe für Barbey die intellektuelle Parallelfigur zu Bismarck ist, und dass es, da dieser nicht umzubringen ist, wenigstens mit seinem vermeintlichen geistigen Abbild geschehen muss. Haben die französischen Waffen versagt, so soll die französische Feder siegen. Und nun geht es los: Attackierten die preußischen Kanonen die französische Hauptstadt, so „bombardierte” Goethe Barbey mit Langeweile. „Von allen deutschen Geschossen, die über meinem Stadtteil niedergingen, waren die ,Sämtlichen Werke‘ für mich das schwerste.”
Mit exzessivem Zorn erfüllt es Barbey, dass der größte Langweiler aller Literaturen den größten Ruhm aller modernen Autoren genießt, vor allem in Frankreich. Madame de Staël zumal hat diesen beispiellosen Ruhm Goethes zu verantworten. Ohne sie und ihre Nachbeter „hätte Goethe nur sein deutsches Geräusch hervorgebracht – ein Gluckgluck in einem Tintenfass!” Aber nun: „Die Schriftsteller Frankreichs germanisieren sich. Sie pilgerten nach Deutschland, um sich zu vervollkommnen, wie die griechischen Philosophen nach Ägypten.” Das ist für Barbey die Ursache der deutschen Überheblichkeit, ja geradezu der Anlass dafür, dass die Preußen Frankreich mit einem Krieg verheeren konnten. Goethe als Grund der französischen Niederlage.
Barbey geht die „Sämtlichen Werke” Band für Band durch, natürlich in der Übersetzung von Jacques Porchat – Deutsch kann er nicht und will er nicht. Da hagelt es aus Barbeys Feder kritische Bomben auf Goethes Person („vom Scheitel bis zur Sohle war er ein Gimpel”, ein „Plumpsack” und „Trottel”) und alle Bereiche seines Werks: keine Spontaneität, nichts als Berechnung, keine Erfindung, nur Kompilation, Laienfleiß statt Genialität, ein ewiger Arrangeur, eine Leseratte, Papierkratzer und Papierzuschneider, ein Chamäleon, das die Farbe jeder Umgebung annimmt, ein Schuhflicker, vor allem in seiner jämmerlichen Ausbeutung des alten Fauststoffs. So in dichter Folge die vernichtenden Urteile. Der völlig unverständliche „Faust II” sammelt nur „mythologischen Kinderkram”, um ihn „der menschlichen Gattung ins Gesicht zu rülpsen”. Goethes Hauptwerk – „die literarische Krupp-Kanone” – ganz zu lesen, hat Barbey offenbar keine Zeit und Lust gehabt, denn er wähnt, die letzte Szene spiele in einer Kathedrale, wo Gretchen auch sterbe.
Diese Szene freilich – weil sie so schön katholisch ist – gefällt Barbey, und auch für das katholische Gretchen hat er eine Schwäche. Ansonsten aber ist Goethe im Vergleich etwa mit Corneille ein Stümper, weil eben ein amoralischer und areligiöser Heide, wie er auch künstlerisch an einen großen Christen nicht heranreichen kann. Als Dramatiker ist Goethe miserabel, denn er wechselt dauernd die Szene, anstatt sich an die luzide Ordnung der drei Einheiten zu halten. Seine Gedichte: bloß sentimentale Albernheiten und alexandrinischer Mischmasch, nichts, das aus dem Herzen kommt, seine Romane „Phänomene der Dummheit” und der exorbitanten Unmoral, Verteidigung der Vielweiberei wie der Vielgötterei. Seine Weltanschauung: abgedroschener Orientalismus, „gemäßigt durch Sauerkraut”.
Dass er kein Dichter war, erkennt man schon daran, dass er – im Gegensatz zu allen großen Dichtern – nichts von Frauen verstand, wie seine weiblichen Gestalten zeigen, mit der einen Ausnahme: Gretchen. Das „ewig Weibliche” = die „ewige Kaulquappe”. Auch die autobiographischen Schriften, die Essays und naturwissenschaftlichen Traktate werden durchgehechelt. Barbey hat sich wirklich Mühe gemacht, und er kommt zu dem Schluss, Goethe sei eine „moralische Mumie, die nie gelebt hat”. Nie ist ein berühmter Dichter so mit Kübeln von Spott übergossen worden wie Goethe von Barbey. In einem Punkt wird man ihm freilich in Bezug auf das Frankreich von heute zustimmen müssen: „Man liest ihn schon heute kaum noch; bald wird man ihn gar nicht mehr lesen.”
Wie konnte es zu einer derart aberwitzigen Polemik kommen? Da ist der Hass auf das siegreiche Deutschland, der Hass des Katholiken auf den Freigeist, aber auch die Konkurrenzspannung zu dem Großkritiker Sainte-Beuve, der Goethe unablässig in den Himmel gehoben und eine ganze Generation von Goethe-Verehrern unter den französischen Schriftstellern nach sich gezogen hat: Théophile Gautier, Flaubert, Leconte de Lisle und einen Großteil der literarischen Generation in Frankreich seit 1850, Autoren, die Barbey oft nicht weniger harsch attackiert hat als ihr vermeintliches Idol Goethe. „Alle Kaulquappen der modernen Poesie wimmeln im Laich von Goethes Theorien, und Gautier, der ihn bei uns nachzumachen suchte, ist aus seinem Eiweißstoff gemacht.”
Was soll uns Barbeys Polemik? Zweifellos besitzt sie nicht die kritische Anregungskraft etwa von Nietzsches „Fall Wagner”, denn diese ist von intimer Kenntnis ihres Gegenstandes geprägt, offenbart sich bei allen polemischen Exzessen immer doch, mit Thomas Mann zu reden, als „umgekehrter Panegyrikus”. Davon kann bei Barbey nicht die Rede sein. Er schmäht nur, und das meist ohne wirkliche Kenntnis. Doch man liest seine Streitschrift wegen ihrer virtuosen Beschimpfungskaskaden hin und wieder mit Vergnügen, wenn auch nur als „l’art pour l’art” des Unflats – freilich auch mit nostalgischen Empfindungen. Was war das für eine Epoche, in der Goethe solche Aggressionen auslösen konnte! Eben weil die literarische Elite in Frankreich mit seinem Werk so eng verbunden und vertraut war.
Während Frankreich und Deutschland sich nationalistisch-chauvinistisch bis aufs Blut bekämpften, bestand eine tiefe untergründige geistige Verbindung der französischen Literaten zum geistigen Deutschland, wie es von Goethe repräsentiert wurde. Heute, im vereinigten Europa und im Zeichen der deutsch-französischen Freundschaft, ist es genau umgekehrt: Politisch ist man befreundet, literarisch jedoch weiter entfernt voneinander als im 18., 19. und weithin noch im 20. Jahrhundert. Welcher deutsche Schriftsteller – von Goethe ganz zu schweigen – könnte heute noch den Hass eines französischen Autors auf sich ziehen? Nicht einmal Peter Handke. Wo es keine Begeisterung gibt, gibt es auch keinen Hass. DIETER BORCHMEYER
JULES BARBEY D’AUREVILLY: Gegen Goethe. Aus dem Französischen und mit Anmerkungen versehen von Gernot Krämer. Mit einem Nachwort von Lionel Richard und einem Essay von Christian Hecht. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2006. 141 Seiten, 19,80 Euro.
Was war das für eine Epoche, in der Goethe solche Aggressionen auslösen konnte!
In diesem Gesicht vereint sich der berühmte Dandy mit dem streitbaren Katholiken: Jules-Amédée Barbey d’Aurevilly. Foto: Ullstein
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Wolfgang Müller bespricht dieses Buch in der schönen taz-Rubrik "Bücher für Randgruppen" und gibt freudig seine Begeisterung für die goethefeindlichen "Respektlosigkeiten, Verdrehungen und Gemeinheiten" des französischen Belle-Epoque-Autors aus dem Jahr 1870 zu Protokoll. Als Hintergrund für d'Aurevillys Überlegungen zu Goethe schildert der Rezensent den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und die Lust dieses Autors, mit der Goethe-Bewunderung in Frankreich abzurechen. Zu diesem Zweck zieht der Autor zum Entzücken des Rezensenten "über alles her, was Goethe in seiner Lebenszeit" geschaffen hat, der für d'Aurevilly ohne Madame de Stael "nur ein deutsches Geräusch" geblieben wäre. Im Übrigen bestehe Goethes einziges Talent in der "Produktion von Langeweile". Lediglich Goethes Botanik lässt d'Aurevilly halbwegs stehen. Am Ende sorgt Müller zufolge Lionel Richard noch mal für eine charakterliche Einordnung des geballten Goethe-Ressentiments, in dem er als d'Aurevillys Markenzeichen die "Intoleranz" beschreibt. Trotzdem ging Müller jedes Wort in diesem Buch offensichtlich runter wie Butter.
© Perlentaucher Medien GmbH
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