Als Kara von Berlin nach Frankfurt fliegt, gerät das Flugzeug in ein schweres Gewitter. Im Angesicht des drohenden Absturzes scheint plötzlich Ramón wenige Reihen vor ihm zu sitzen. Ramón, der nie eingeladen war und trotzdem immer kam, der bei Kara und Karas bestem Freund Vince auf dem Sofa in der Küche übernachtete, bis er von einem Tag auf den anderen verschwand. Nach der Notlandung kehrt Kara ruhelos nach Berlin zurück, wo er sich auf die Suche nach Ramón begibt und damit auf die Spuren seiner eigenen Vergangenheit. Er findet den Verlorengeglaubten in einer Plattenbausiedlung und bietet ihm an, in Vince’ ehemaliges Zimmer zu ziehen. Dort bekommt Ramón eines Nachts Besuch von Fremden. Wenig später ist er wieder verschwunden. Dass es diesmal ein Abschied für immer sein könnte, wird Kara bewusst, als er ihm bis nach Paris folgt, dort aber nur mehr eine Stadt in Aufruhr findet.
Deniz Utlu erzählt in Gegen Morgen von einer tiefen Erschütterung und fragt, was uns ausmacht: das, was wir zurückgelassen haben, oder das, was vor uns liegt. In flirrenden Bildern spürt er den Versäumnissen und Potentialen eines Lebens nach sowie der Menschlichkeit, die da beginnt, wo wir nicht auf uns selbst, sondern auf andere achten.
Deniz Utlu erzählt in Gegen Morgen von einer tiefen Erschütterung und fragt, was uns ausmacht: das, was wir zurückgelassen haben, oder das, was vor uns liegt. In flirrenden Bildern spürt er den Versäumnissen und Potentialen eines Lebens nach sowie der Menschlichkeit, die da beginnt, wo wir nicht auf uns selbst, sondern auf andere achten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2019Zueinander, nebeneinander, auseinander
Deniz Utlu hat mit "Gegen Morgen" einen Freundschaftsroman geschrieben, der keine Freundschaft begründet
Als der türkischstämmige, 1983 in Hannover geborene Autor Deniz Utlu nach zwei Jahren seine Kolumne für den Berliner "Tagesspiegel" beendete - er nannte sie "Einträge ins Logbuch" -, teilte er deren Leserschaft mit, was ihn stets und noch immer umtreibe: "Wie sieht eine Gesellschaft aus, die eine ehrliche Begegnung zwischen Menschen zulässt?"
In seinem zweiten Roman "Gegen Morgen" versucht Utlu nun in einer Art Versuchsanordnung, diese "ehrliche Begegnung" in Szene zu setzen. Drei sehr ungleiche Freunde nähern sich einander und entfernen sich voneinander, sie suchen Zusammenhalt und scheitern doch an den Umständen und ihrem individuellen Eigensinn. Der Erzähler Kara und sein Freund Vince studieren in Berlin Volkswirtschaft und wohnen zusammen. Zu ihnen gesellt sich ein merkwürdiger Mitstudent namens Ramón. Die beiden nehmen den Dritten im Bunde in ihre Wohnung auf, geben ihm eine provisorische Schlafstatt, versuchen, ihn in eine Freundschaft einzubinden. Aber das gelingt nicht, Ramón ist meist schweigsam und geheimnisvoll, dann aber doziert er langwierig über die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, er taucht abrupt auf und verschwindet plötzlich. Das Studium hat er hingeschmissen, ein neues angefangen und wieder aufgegeben, und auch sonst ist Ramón in jeder Beziehung unzuverlässig, obwohl er Nähe und Geborgenheit erfahren möchte.
Das erste Kapitel leitet ein Novalis-Zitat ein: "Himmlische Müdigkeit fühl' ich in mir." Der Ich-Erzähler Kara ist auf dem Flug von Berlin nach Frankfurt, wo inzwischen seine Freundin Nadia lebt. Plötzlich taucht ein paar Reihen vor ihm Ramón auf, zu dem er schon den Kontakt verloren hatte. Ein Unwetter verhindert die Landung, der Flug wird nach Hannover umgeleitet, Geburtsstadt nicht nur des Autors, sondern im Roman auch von Kara. Der verlässt dort den Flieger, besucht kurz seine Mutter und kehrt zurück nach Berlin. Was die Geistererscheinung Ramóns zu bedeuten hat, bleibt offen, auch die himmlische Müdigkeit erklärt sich nicht.
Viele lose Fäden hängen in diesem Roman, die sich nur selten miteinander zu einem Gewebe verknüpfen. Deniz Utlu beginnt, mit seinen Figuren zu spielen. Sie tanzen durch die verschiedenen Zeiten, wer sich wo aufhält, ist nicht immer klar, auch aus welcher Perspektive gerade erzählt wird, ist oft uneindeutig. Der Autor liebt das Schwebende, Flirrende. Darin bestehen die Faszination und der Reiz der Erzählung, darin besteht aber auch die Mühe, die die Leserin hatte, immer die Orientierung zu finden. Mal haben Kara und Vince gegenüber Ramón ein schlechtes Gewissen, mal sind sie beste Freunde. Ramón stammt aus prekären Verhältnissen, er ist aufgewachsen in einer Plattenbausiedlung in Berlin-Hellersdorf, seine Mutter ist asozial, seine Schwester Sara klammert sich an den Bruder, kann ihm und sich aber auch keinen Halt geben. Alle leben auf komische, manchmal liebevolle, manchmal bedrückende Weise nebeneinander her.
Utlu verzichtet bewusst auf ein Migrationsszenario. Seine eigenen türkischen Eltern kamen in den sechziger Jahren als Arbeiter nach Westdeutschland, ihr Sohn wuchs hier auf und begann sich schon in der Schule literarisch zu betätigen. Über den Hintergrund von Kara und Vince erfährt man in dem Roman fast nichts. Sie leben, studieren und arbeiten in Berlin. Basta. Vielmehr ist Thema, wie man sich in einer Welt zurechtfinden kann, die verrückt und voller Abstrusitäten ist. Die große Frage ist, ob es Regeln gibt, die Koordinaten für ein Zusammenleben schaffen, und was überhaupt soziales Leben ausmacht. Wie Monaden gehen alle ihrer Wege.
Kara versucht, das Leben in ökonomischen Formeln aufzulösen, die er in seinem Studium gelernt hat, nur hilft die Abstraktion nicht zu weiterer Erkenntnis. Als Nichtökonom muss man die Formeln nicht verstehen, es sind Chiffren einer aus den Fugen geratenen Logik. Die Zeiten stimmen nicht mehr überein, es lassen sich keine aufklärenden Gesetze ableiten. Virtuos jongliert der Autor mit Perspektiv- und Zeitwechseln, mit Realität und Irrealität. Gefühle wirbeln ebenso durcheinander wie Gedankenkonstrukte.
Der Roman schürzt sich im letzten Teil. Ramón ist wieder verschwunden, vielleicht für immer. Er wird in Paris vermutet, wo die drei schon einmal gemeinsam Urlaub gemacht haben. Kara folgt ihm, will ihn suchen. Er wandert die alten Orte und Freunde ab. Des Nachts, er kann nicht schlafen, gerät er in eine apokalyptische Situation. Die Straße ist voller Polizei und Sanitäter, Verwundete und Tote bedecken das Pflaster. Geschrei, Rufen, Weinen, alles ist in Auflösung. Kara erfährt nicht, was passiert ist. Ist es der Terroranschlag auf das Vergnügungslokal Bataclan vom November 2015? Darauf gibt es keine Antwort. Alle irren wie von Sinnen durch die Straßen und Hinterhöfe, Kara mittendrin. Dieses Bild des Schreckens zeichnet Deniz Utlu mit ungeheurer Wucht, ein Spiegel der Grausamkeit und Entmenschlichung. Ramón taucht auf, Kara fragt ihn, ob er etwas mit dem Inferno zu tun habe. Wiederum keine Antwort, und plötzlich verwandelt sich das Gesicht von Ramón in Karas eigenes Abbild, dann ist es wiederum Vince, der ihm gegenüberzustehen scheint. Die Kühle der Nacht bringt Kara wieder zur Besinnung. Er ist allein auf einem kleinen Platz, auf dem die Relikte der Katastrophe verstreut herumliegen.
Gegen Morgen nimmt er den ersten Zug vom Gare du Nord zurück nach Berlin, oder er ist auf dem Flughafen. Er stellt sich vor, wie er gegen Morgen das Licht in seine Berliner Wohnung eindringen sieht. Er fragt sich, ob er gegen Morgen seinen Freund Vince aufsuchen wird. Gegen Morgen ist alles möglich und unmöglich.
LERKE VON SAALFELD
Deniz Utlu: "Gegen Morgen". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 269 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deniz Utlu hat mit "Gegen Morgen" einen Freundschaftsroman geschrieben, der keine Freundschaft begründet
Als der türkischstämmige, 1983 in Hannover geborene Autor Deniz Utlu nach zwei Jahren seine Kolumne für den Berliner "Tagesspiegel" beendete - er nannte sie "Einträge ins Logbuch" -, teilte er deren Leserschaft mit, was ihn stets und noch immer umtreibe: "Wie sieht eine Gesellschaft aus, die eine ehrliche Begegnung zwischen Menschen zulässt?"
In seinem zweiten Roman "Gegen Morgen" versucht Utlu nun in einer Art Versuchsanordnung, diese "ehrliche Begegnung" in Szene zu setzen. Drei sehr ungleiche Freunde nähern sich einander und entfernen sich voneinander, sie suchen Zusammenhalt und scheitern doch an den Umständen und ihrem individuellen Eigensinn. Der Erzähler Kara und sein Freund Vince studieren in Berlin Volkswirtschaft und wohnen zusammen. Zu ihnen gesellt sich ein merkwürdiger Mitstudent namens Ramón. Die beiden nehmen den Dritten im Bunde in ihre Wohnung auf, geben ihm eine provisorische Schlafstatt, versuchen, ihn in eine Freundschaft einzubinden. Aber das gelingt nicht, Ramón ist meist schweigsam und geheimnisvoll, dann aber doziert er langwierig über die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, er taucht abrupt auf und verschwindet plötzlich. Das Studium hat er hingeschmissen, ein neues angefangen und wieder aufgegeben, und auch sonst ist Ramón in jeder Beziehung unzuverlässig, obwohl er Nähe und Geborgenheit erfahren möchte.
Das erste Kapitel leitet ein Novalis-Zitat ein: "Himmlische Müdigkeit fühl' ich in mir." Der Ich-Erzähler Kara ist auf dem Flug von Berlin nach Frankfurt, wo inzwischen seine Freundin Nadia lebt. Plötzlich taucht ein paar Reihen vor ihm Ramón auf, zu dem er schon den Kontakt verloren hatte. Ein Unwetter verhindert die Landung, der Flug wird nach Hannover umgeleitet, Geburtsstadt nicht nur des Autors, sondern im Roman auch von Kara. Der verlässt dort den Flieger, besucht kurz seine Mutter und kehrt zurück nach Berlin. Was die Geistererscheinung Ramóns zu bedeuten hat, bleibt offen, auch die himmlische Müdigkeit erklärt sich nicht.
Viele lose Fäden hängen in diesem Roman, die sich nur selten miteinander zu einem Gewebe verknüpfen. Deniz Utlu beginnt, mit seinen Figuren zu spielen. Sie tanzen durch die verschiedenen Zeiten, wer sich wo aufhält, ist nicht immer klar, auch aus welcher Perspektive gerade erzählt wird, ist oft uneindeutig. Der Autor liebt das Schwebende, Flirrende. Darin bestehen die Faszination und der Reiz der Erzählung, darin besteht aber auch die Mühe, die die Leserin hatte, immer die Orientierung zu finden. Mal haben Kara und Vince gegenüber Ramón ein schlechtes Gewissen, mal sind sie beste Freunde. Ramón stammt aus prekären Verhältnissen, er ist aufgewachsen in einer Plattenbausiedlung in Berlin-Hellersdorf, seine Mutter ist asozial, seine Schwester Sara klammert sich an den Bruder, kann ihm und sich aber auch keinen Halt geben. Alle leben auf komische, manchmal liebevolle, manchmal bedrückende Weise nebeneinander her.
Utlu verzichtet bewusst auf ein Migrationsszenario. Seine eigenen türkischen Eltern kamen in den sechziger Jahren als Arbeiter nach Westdeutschland, ihr Sohn wuchs hier auf und begann sich schon in der Schule literarisch zu betätigen. Über den Hintergrund von Kara und Vince erfährt man in dem Roman fast nichts. Sie leben, studieren und arbeiten in Berlin. Basta. Vielmehr ist Thema, wie man sich in einer Welt zurechtfinden kann, die verrückt und voller Abstrusitäten ist. Die große Frage ist, ob es Regeln gibt, die Koordinaten für ein Zusammenleben schaffen, und was überhaupt soziales Leben ausmacht. Wie Monaden gehen alle ihrer Wege.
Kara versucht, das Leben in ökonomischen Formeln aufzulösen, die er in seinem Studium gelernt hat, nur hilft die Abstraktion nicht zu weiterer Erkenntnis. Als Nichtökonom muss man die Formeln nicht verstehen, es sind Chiffren einer aus den Fugen geratenen Logik. Die Zeiten stimmen nicht mehr überein, es lassen sich keine aufklärenden Gesetze ableiten. Virtuos jongliert der Autor mit Perspektiv- und Zeitwechseln, mit Realität und Irrealität. Gefühle wirbeln ebenso durcheinander wie Gedankenkonstrukte.
Der Roman schürzt sich im letzten Teil. Ramón ist wieder verschwunden, vielleicht für immer. Er wird in Paris vermutet, wo die drei schon einmal gemeinsam Urlaub gemacht haben. Kara folgt ihm, will ihn suchen. Er wandert die alten Orte und Freunde ab. Des Nachts, er kann nicht schlafen, gerät er in eine apokalyptische Situation. Die Straße ist voller Polizei und Sanitäter, Verwundete und Tote bedecken das Pflaster. Geschrei, Rufen, Weinen, alles ist in Auflösung. Kara erfährt nicht, was passiert ist. Ist es der Terroranschlag auf das Vergnügungslokal Bataclan vom November 2015? Darauf gibt es keine Antwort. Alle irren wie von Sinnen durch die Straßen und Hinterhöfe, Kara mittendrin. Dieses Bild des Schreckens zeichnet Deniz Utlu mit ungeheurer Wucht, ein Spiegel der Grausamkeit und Entmenschlichung. Ramón taucht auf, Kara fragt ihn, ob er etwas mit dem Inferno zu tun habe. Wiederum keine Antwort, und plötzlich verwandelt sich das Gesicht von Ramón in Karas eigenes Abbild, dann ist es wiederum Vince, der ihm gegenüberzustehen scheint. Die Kühle der Nacht bringt Kara wieder zur Besinnung. Er ist allein auf einem kleinen Platz, auf dem die Relikte der Katastrophe verstreut herumliegen.
Gegen Morgen nimmt er den ersten Zug vom Gare du Nord zurück nach Berlin, oder er ist auf dem Flughafen. Er stellt sich vor, wie er gegen Morgen das Licht in seine Berliner Wohnung eindringen sieht. Er fragt sich, ob er gegen Morgen seinen Freund Vince aufsuchen wird. Gegen Morgen ist alles möglich und unmöglich.
LERKE VON SAALFELD
Deniz Utlu: "Gegen Morgen". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 269 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Virtuos jongliert der Autor mit Perspektiv- und Zeitwechseln, mit Realität und Irrealität.« Lerke von Saalfeld Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191009